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Dokumente einer epochalen Umbruchsphase: Friedrich Heinrich Jacobis Briefwechsel zwischen Juni 1792 und September 1794

  • Friedrich Heinrich Jacobi: Briefwechsel - Nachlaß - Dokumente. Briefwechsel. Reihe I: Text. Band 10: Briefwechsel Juni 1792 bis September 1794. Nr. 2953-3328. Nachtrag zum Briefwechsel 1769-1789. Herausgegeben von Walter Jaeschke und Rebecca Paimann. Stuttgart: Frommann-Holzboog 2015. 418 S. Leinen. EUR (D) 298,00.
    ISBN: 978-3-7728-2664-1.
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Der hier vorgelegte Band der Korrespondenz Friedrich Heinrich Jacobis aus dem Zeitraum von Juni 1792 bis September 1794 ist der zehnte von insgesamt 15 geplanten und enthält 375 Briefe, von denen 143 erschlossen sind, sowie 37 Nachtragsbriefe aus den Jahren 1769 bis 1789. Die Dokumente werden chronologisch wiedergegeben. Ihnen vorangestellt sind Briefverzeichnisse der im Band enthaltenen Briefe, und weiterhin ein überaus hilfreiches, nach Korrespondenzpartnern gegliedertes Verzeichnis der Korrespondenzen, bei dem die entsprechenden Briefe von und an Jacobi jeweils unter dem Namen der Briefpartner/innen verzeichnet sind. Darauf folgt eine Einleitung, die ein Resümee über den »thematische(n) Bogen« (S. XLI) des Briefwechsels gibt und den Blick auf wesentliche Inhalte lenkt. Ein Personenregister am Ende des Briefbandes, wie es beispielsweise Band I/6 (Briefwechsel Januar bis November 1787) enthält, bleibt wahrscheinlich dem Kommentarband vorbehalten (vgl. auch I/4 und II/4, Briefwechsel 1785, Kommentar 4,1 und 4,2).

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Die Überschrift der Briefe besteht jeweils aus einer Briefnummer, dem Absender und Adressaten sowie dem Briefdatum und Wochentag. Wenn der Brief eine Ortsangabe enthält, wird diese auch in die Überschrift übernommen. Entwürfe und Fragmente sind als solche gekennzeichnet, erschlossene Briefe in kursiver Petitschrift wiedergegeben und in den Verzeichnissen mit Asterisken gekennzeichnet. Ein Nachweis der in Anführungszeichen wiedergegebenen Zitate in den erschlossenen Briefen wird wie in den Vorgängerbänden im Kommentar zu finden sein.

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Das Verzeichnis der Korrespondenzen ermöglicht einen schnellen Überblick über die wichtigsten Briefpartner Jacobis in diesem Zeitraum. Die meisten Briefe in diesem Zeitraum wechselte Jacobi mit Goethe (56 Briefe, davon drei erschlossene). Zwei weitere sehr wichtige Korrespondenzpartner sind Jacobis Sohn Georg Arnold Jacobi und Christian Konrad Wilhelm von Dohm, Diplomat und Verfasser historischer und politischer Schriften (jeweils 41 überlieferte und erschlossene Briefe bzw. Bulletins). Weitere wichtige Korrespondenzpartner sind neben den Familienangehörigen Caroline und Johann Gottfried Herder, Johann Georg Schlosser und seine Frau, Johanna Katharina Schlosser, Friedrich Leopold Graf zu Stolberg-Stolberg, Friedrich Wilhelm Humboldt, Johann Kaspar Lavater, Matthias Claudius, Johann Georg Forster, Amalia Fürstin von Gallitzin, Johann Friedrich Kleuker und Georg Ludwig Heinrich Nicolovius.

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Der Band enthält damit ein weitgespanntes Netzwerk von Korrespondenzen, das neben Jacobis herausragender Stellung im Literaturbetrieb seiner Zeit und seinen philosophischen und pädagogischen Interessen auch seine Aktivitäten in den Bereichen Politik und Wirtschaft dokumentiert. Beinahe 30 Jahre zuvor hatte Jacobi nämlich im höheren Verwaltungsdienst für die jülisch-bergische Hofkammer gearbeitet und wurde dem bayerischen Innenministerium empfohlen, um die angestrebten staatswirtschaftlichen Reformen durchzusetzen. Er scheiterte aber 1779 an Widerständen gegen seine liberalistische wirtschaftspolitische Haltung. Mehr und mehr widmete sich Jacobi seither seinen literarischen, philosophischen und pädagogischen Interessen.

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Die Eckdaten für den Briefwechsel stellen Juni 1792 und September 1794 dar. Die Briefe aus diesem Zeitraum sind Dokumente einer ereignisreichen Zeit, die von historischen Umbrüchen und Veränderungen im persönlichen Bereich geprägt ist. Schon die Briefe von Juni 1792 zeigen die Verflechtung der Biografie Jacobis mit Ereignissen, die europäische Geschichte schrieben: So muss Jacobi seine geplante Reise zu den Schlossers absagen, da Süddeutschland im Zuge der Revolutionskriege zum Schauplatz der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Österreich und Frankreich wird (vgl. Nr. 2961); in einem Großteil der Briefe in diesem Band zeigt sich dann auch die wachsende Sorge Jacobis um die politische Situation (vgl. Einleitung, S. XLIIf.). Die letzten beiden Briefe Jacobis in diesem Band vom 26. und 27. September 1794 sind an Georg Arnold Jacobi gerichtet. Sie zeugen von einer klaren und sehr bedeutsamen Zäsur in Jacobis Leben: der Flucht von seinem erst 1789 ausgebauten Wohnsitz Pempelfort, dem Ort nunmehr 22 Jahre andauernder literarischer Geselligkeit. Jacobi flüchtete vor den Unruhen der Revolutionskriege, nachdem Truppen der österreichischen Armee Düsseldorf besetzt hatten und Angehörige des Militärs auch in Pempelfort einquartiert wurden, ins Holsteinische Eutin, wo er zunächst im Haus von Friedrich Leopold zu Stolberg wohnte.

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Seit 1772, also schon seit dem ersten Briefband, stellt der Briefwechsel Jacobis auch eine ausführliche Dokumentation der literarischen Geselligkeit in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowie der empfindsamen Briefkultur dieser Zeit dar, für die Jacobi als wichtiger Exponent gelten darf. Die Briefe geben Aufschluss über den Literaturbetrieb der Zeit, Vernetzungen und Verflechtungen zwischen Autoren und Autorengruppen, über Literatur- und Kulturzeitschriften, Neuerscheinungen von Werken, deren Rezeption; Freundschaft wird zu etwas Heiligem; die freundschaftliche Korrespondenz enthält Versicherungen von gegenseitiger Zuneigung – stets aufs Neue und stets übersteigert (vgl. z.B. die jeweiligen Abschiedsformeln am Ende der Briefe Nr.2994,3048,3068, 3204, 3228).

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Besondere Bedeutung kommt dem Briefwechsel mit Goethe zu. In den Jahren zwischen 1792 und 1794 erreichte die Intensität ihres Kontaktes ihren zweiten Höhepunkt. Beide lernten sich persönlich im Juli 1774 kennen, als Goethe auf einer Rheinreise in Düsseldorf Halt machte und auch Jacobi in Pempelfort besuchte. Die Begegnung war der Beginn eines intensiven Briefwechsels. Im Herbst 1774 trafen in Pempelfort Jacobi und einige Freunde zu einer gemeinsamen schwärmerisch-empfindsamen Lektüre der Leiden des jungen Werthers zusammen (vgl. Briefwechsel I,1, Nr. 374). Wegen Goethes sogenannter ›Ettersburger Kreuzigung‹ des Romans Woldemar, eine Seltenheit aus der Naturgeschichte (1779), von der Jacobi Johanna Schlosser ausführlich in einem Brief vom 10. November 1779 berichtet (Briefwechsel I,2, Nr. 259), kühlte die Freundschaft merklich ab. Erst nach einem Entschuldigungsbrief von Goethe vom 2. Oktober 1782 (Briefwechsel I,3, Nr. 807) näherten sich die beiden wieder an. Die wieder auflebende Freundschaft fand ihren Höhepunkt in Goethes einmonatigem Besuch in Pempelfort vom 6. November bis 4. Dezember 1792, als dieser sich auf dem Rückweg von seiner Teilnahme am Frankreich-Feldzug befand.

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Als wichtige Themen des Briefwechsels werden in der Einleitung weiterhin angeführt: die Neubearbeitung des Romans Woldemar, die wiederum in Zusammenhang mit Goethe, dem einstmals schärfsten Kritiker der ersten Fassung, stand. Ihm widmete Jacobi die »gänzliche Umarbeitung«; die Widmung verband er mit einer überschwänglichen Lobpreisung Goethes in einem Schreiben vom 12. Januar 1794 (Nr. 3243), das dieser erst am 26. April in einem sehr kurzen Brief beantwortete (Nr. 3291).

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Während die neue Fassung des Woldemar größtenteils ein positives Echo findet (vgl. Einleitung, S. XLIV), war der Roman auch Auslöser einer sich anbahnenden Veränderung in Jacobis Freundeskreis, die sich zu Beginn des Jahres 1794 abzeichnete, im Jahr 1800 kulminierte und einen tiefen Einschnitt in Jacobis Leben bedeutete: In der Freundschaft zwischen Jacobi und Friedrich Leopold Graf zu Stolberg, die im Sommer 1791 euphorisch und im Zeichen eines eigentlich post-empfindsamen Freundschaftskultes – so feierte beispielsweise Jacobi am 7. November in großer Runde Stolbergs Geburtstag, während dieser sich in Italien befand (JBW I,9, S. 119) –, begonnen wurde, traten unüberbrückbare Differenzen auf, die dann mit Stolbergs Bekehrung zum Katholizismus am 1. Juni 1800 in Münster endgültig zum Bruch führten. Der Grund für die Konflikte waren unterschiedliche Ansichten zu christlichen und antiken Tugenden, die sich an den etwa zeitgleich erschienenen Romanen Woldemar von Jacobi und Numa von Stolberg zeigten. Während Jacobi an Numa Stolbergs dogmatisches Bekenntnis zur Überlegenheit christlicher Wertvorstellungen über andere kritisiert (vgl. Nr. 3252), vermisst Stolberg ebendieses in Jacobis Woldemar (vgl. Nr. 3269).

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Von positiver Bedeutung für Jacobi im Jahr 1794 war hingegen Schillers Einladung zur Mitarbeit an der Monatsschrift Die Horen, deren Beginn für Anfang 1795 vorgesehen war (Nr. 3318; vgl. Einleitung, S. XLVI). Auf das Schreiben vom 24. August 1794 antwortet Jacobi am 10. September zwar nur mit Vorbehalt positiv (Nr. 3323), doch erschien im dritten Quartal des Jahres 1795 dort dann ein Beitrag Jacobis mit dem Titel Zufällige Ergießung eines einsamen Denkers in Briefen an vertraute Freunde (in: Die Horen, eine Monatsschrift, hg. von Schiller, Bd. 3, 8. St., S. 1–34; JWA 5, S. 187–215). Ein noch weit größerer Stellenwert wird in der Einleitung allerdings der »zwar nie persönlichen, jedoch für die Klassische Deutsche Philosophie schicksalhaften Begegnung« mit Fichte zugemessen (XLVI): Durch Goethe erhält Jacobi im Mai 1794 Fichtes »Einladungsschrift« Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre, ein für die Philosophie revolutionäres Werk, mit dem sich Jacobi intensiv beschäftigte und über das er im Brief an Goethe (Nr. 3305) und noch expliziter in einem späteren Schreiben an Humboldt sehr positiv urteilte (vgl. Nr. 3321; vgl. Einleitung XLVIf.).

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Absender und Adressaten von vielen der Briefe sind Familienmitglieder. Diese Briefe handeln von persönlichen, aber auch geschäftlichen Angelegenheiten; Thema der Korrespondenz sind auch immer wieder die Revolutionskriege. Am häufigsten korrespondiert Jacobi mit seinen beiden Söhnen Johann Friedrich und Georg Arnold; die ausführlichsten Briefe des Bandes sind jene von Georg Arnold Jacobi, die dieser von seiner gemeinsam mit Stolberg und Nicolovius unternommenen Schweiz- und Italienreise an den Vater schrieb – detaillierte Reisebeschreibungen, die 1796/97 in zwei Bänden als Briefe aus der Schweiz und Italien von Georg Arnold Jacobi an das väterliche Haus in Düsseldorf geschrieben erschienen sind. Gleichzeitig finden in diesem Jahr auch die die Briefwechsel der 1780er Jahre prägenden erzieherischen Bemühungen Friedrich Heinrich Jacobis gegenüber seinem jüngeren Sohn ein Ende, die von einem negativen Menschenbild ausgingen, streng am Vervollkommnungsideal der Zeit ausgerichtet waren und sich an neuesten – teils totalitären – pädagogischen Vorstellungen und Praktiken der Zeit orientierten (vgl. JBW I,1, Nr. 203; I,2, Nr. 622, 624, 648 und 649; I,3, Nr. 838, 894, 900, 1011 und 1034). Bald nach der Rückkehr von dieser Bildungsreise am 1. Januar 1793 konnte Georg Arnold Jacobi sein Jurastudium abschließen und seine berufliche Laufbahn als Verwaltungsbeamter und Diplomat beginnen.

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Die Relevanz der Edition von Friedrich Heinrich Jacobis Briefwechsel insgesamt kann gar nicht überschätzt werden. Wegen Jacobis herausragender Bedeutung in der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erweist sich die Ausgabe seiner weitverzweigten und thematisch weitgespannten Korrespondenz als unverzichtbare Quelle für die Erforschung dieser Zeit. Die Briefe im vorliegenden Band sind darüber hinaus zum Großteil Dokumente einer epochalen Umbruchphase – sowohl in historischer, als auch in philosophie- und wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht – und stellen deshalb umso mehr eine Bereicherung für das Wissen über diesen prägenden Zeitraum dar.