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Der diskrete Charme des Sachlichen

Petra Boden rekonstruiert die Geschichte der „Ästhetischen Grundbegriffe“ und verliert dabei die Fäden aus den Händen.

  • Petra Boden: So viel Wende war nie. Zur Geschichte des Projekts Ästhetische Grundbegriffe - Stationen zwischen 1983 und 2000. Bielefeld: Aisthesis 213 S. EUR (D) 24,80.
    ISBN: 978-3-8498-1089-4.
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UMBRUCH: KEINE WENDE IM TEXT DER GESCHICHTE

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Augenzwinkernd verweist Karlheinz Barck, zentrale Figur des Projekts »Ästhetische Grundbegriffe«, in einem Aufsatz zur Literaturwissenschaft in der ehemaligen DDR auf die typographische Herkunft der Metapher vom »Umbruch« und dem darin mitgeschleppten Anspruch, in solcher Rede über das Davor des Umbruchs Bilanz ziehen zu können. 1 Lässt man sich einmal auf das Spiel der Metaphern ein, so kommt man nicht umhin, dem typographischen Bild mehr Wahres abzugewinnen als der Absolutheit, die in der Rede von der »Wende« enthalten ist: Während die Wende alles zu verwinden vorgibt, lässt der Umbruch Text nur hinter sich, um im nächsten Moment an ihn anzuknüpfen.

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Auch hinsichtlich der Geschichte der Geisteswissenschaften im Übergang von DDR zur BRD eröffnet die Einsicht, dass der geschichtliche Text bei allen tiefgreifenden Veränderungen dennoch weiterläuft, im Einzelnen mehr geschichtliche Erkenntnis als das Narrativ des restlosen Umkrempelns aller Zustände. Zwar, und das wusste man auch schon 1993, war das institutionelle und personelle Antlitz der geisteswissenschaftlichen Landschaft im Osten schnell kaum noch wiederzuerkennen, doch bleibt davon die Frage unberührt, wie viel Transfer in der Transformation liegt.

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Um das im Rahmen der Wissenschaftsgeschichte zu klären, scheinen auch solche Analysen notwendig, die sich auf Vorgeschichte, Transformation und Nachgeschichte konzentrieren – ein Anspruch, dem bislang nur sehr wenige der vorliegenden Arbeiten nachgekommen sind.

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Petra Bodens Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte des »Wörterbuchs ästhetischer Grundbegriffe« gehört zu jenen Arbeiten. Dies nicht allein in chronologischer Hinsicht – das Wörterbuch-Projekt umspannt die Jahre von 1983 bis 2000 – sondern zudem in einer besonderen Pointierung, die bereits im Titel des Buches enthalten ist: So viel Wende war nie – hinter diesem Titel verbirgt sich die Beobachtung der Autorin, dass man es bei der Geschichte jenes heute als Standard-Nachschlagewerk geltenden Wörterbuches mit einem Gegenstand multipler »Wenden« (den metaphorischen Rigorismus darf man nun fallen lassen) zu tun hat: institutioneller, konzeptioneller, (wissenschafts-)politischer und nicht zuletzt auch kollegialer Art (S. 9).

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Das Wörterbuch-Projekt bildet ein ideales Studienobjekt für die Gleichzeitigkeit der Wende-Prozesse in historisch breiter Perspektive. Denn von der ersten Idee bis zur letzten Drucklegung der einzelnen Bände des Wörterbuches liegt ein weites Feld, beginnend in einer Zeit, in der man in dem für das Projekt federführenden Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) unter ›Wende‹ oder ›Wechsel‹ nur in wissenschaftlichen Dimensionen träumen konnte, und endend in einer Zeit, da die Hoffnung auf den vollzogenen gesellschaftlichen Wandel schon wieder Risse bekommen hatte.

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In der Vorbemerkung gibt Boden Faszination und Anspruch ihrer Arbeit zu erkennen: Das Wörterbuch-Projekt war angetreten mit einem eigenen Wende-Anspruch, dem der Abkehr von bisherigen Paradigmen des ästhetischen Denkens und dabei auch dem der Abkehr von diskreter Disziplinarität hin zu einem interdisziplinären Forschungsmodell, das sowohl Literatur- und Kunstwissenschaft und -geschichte, als auch Philosophie und (zunehmend) kulturwissenschaftliche Medienforschung integrieren sollte. Für die Initiatoren vom ZIL, allen voran Karlheinz Barck, war mit dem Projekt dabei nicht weniger als eine Wende in der Begriffsgeschichte verbunden – eine programmatische Wende also, die in der Folge auf vielfache Weise mit der nicht vorhergesehenen politischen Wende der Jahre 1989/1990 resonierte und dadurch in einen so langwierigen wie turbulenten Entstehungsprozess mündete, der das Projekt mehr als einmal an den Rand des Scheiterns führte.

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Man merkt es der Autorin an, die selbst zu jener Zeit im Kontext des Projektes am ZIL arbeitete, dass es ihr hier um mehr als einen bloßen Untersuchungsgegenstand geht, wenn sie bemerkt:

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»Die sieben Bände des Wörterbuchs, die heute in komfortabler Ausstattung auf den Regalbrettern öffentlicher und privater Bibliotheken stehen, sprechen nicht vom Prozess ihrer Herstellung, so wenig wie jedes andere Produkt dies tut. Aber nur wenige haben eine Entstehungsgeschichte, die der hier zu erzählenden gleichkommt. Denn diese ist vielleicht kein exemplarischer, ganz bestimmt aber ein signifikanter Fall dafür, was geschieht, wenn theoretische Paradigmenwechsel mit politischen Umbrüchen zusammenfallen.« (S. 10)
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Boden fügt dem noch eine persönlichere Note hinzu, wenn sie bemerkt dabei »vor allem das Engagement von Karlheinz Barck in den Blick zu nehmen, dem zweifellos das Verdienst zukommt, den Fortgang dieses Projekts von Anfang an maßgeblich betrieben zu haben.« (S. 8)

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Die Verfasserin wählt somit eine doppelte Perspektive: einmal, die Entstehungsgeschichte eines geisteswissenschaftlichen Großprojekts mit besonderer Rücksicht auf deren Akteure zu rekonstruieren und dabei das Phänomen der multiplen »Wende« zu analysieren.

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IM DICKICHT DER WENDEN

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Die Kapitel des Buches sind chronologisch angeordnet, wobei die Gliederung eine deutliche Schwerpunktsetzung aufweist, deren Sinn unmittelbar eingängig ist: Acht der vierzehn Kapitel widmen sich den Jahren 1988 bis 1991 und spiegeln in diesem Rahmen entlang einzelner Konfliktlinien bzw. Debatten die Vielfalt der »Wenden«: Die sich früh anbahnende Kooperation des ZIL mit der Konstanzer Literaturtheorie, die Konflikte um den »Testfall« (S. 36) des im Voraus erscheinenden Studienbandes zum Wörterbuch, die inhaltlich-konzeptionellen Diskussionen (hinsichtlich der Rezeptionsästhetik und der Frage nach der Postmoderne), die Konflikte im Dreieck Konstanz-Siegen -Berlin, die Verschärfung der Konflikte um die Organisation des Wörterbuches (v.a. die Fragen bezüglich der Auswahl der Lemmata und deren Verfasser) – und schließlich und nicht zuletzt die gesellschaftlichen Umbrüche, die mit der Wende 1989 in institutioneller und personeller Form in die bereits ohnedies schwierige Diskussions-Situation einbrachen.

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Doch wie bereits erwähnt, es gehört zu den Stärken der Arbeit von Boden, die Geschichte des Wörterbuch-Projekts auch außerhalb dieses zeitlichen Fokus zu rekonstruieren und damit – wenn auch in recht knappem Umfang – den Gesamtverlauf des Projekts und der damit im Zusammenhang stehenden Wenden zu erfassen.

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Die Initiative zum Projekt, davon gibt das erste Kapitel Auskunft, liegt 1983 bei Karlheinz Barck, der aus Anlass der Diskussion der anstehenden Plan-Periode – Boden: »Auch die Wissenschaft unterlag in der DDR einem Planungsrhythmus« (S. 11) – am Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) die Idee dazu einbringt. Boden identifiziert zwei Grundsätze, die Barck der Idee mit auf den Weg gibt und die – folgen wir der Rekonstruktion der vorliegenden Arbeit – im Groben die Seele des Projekts prägen sollten: Erstens »›die Geschichte der Kunst und die Geschichte der ästhetischen Reflexion als eine Einheit und diese als Bestandteil des sozialgeschichtlichen Arbeitsprozesses‹« (S. 11 f.) zu fassen; zweitens die Festlegung auf eine interdisziplinäre Herangehensweise.

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Ersteres, so kann man es Boden folgend resümieren, beharrt zwar nicht weiter auf den (1983 notwendig zu nennenden) Einschuss an historischem Materialismus, spiegelt sich aber später in der verhältnismäßig fruchtbaren Diskussion zwischen Berlin, Siegen und Konstanz um die soziokulturelle Verankerung der Rezeptionsästhetik. Letzteres, die Idee der Interdisziplinarität, trat auf mit dem Versprechen, auf diesem Wege das festgefügte begriffliche Instrumentarium der jeweiligen Disziplinen (v.a. der Literaturtheorie) zu überwinden und somit das Wörterbuch zur Basis einer Öffnung der Ästhetik-Theorie für die Medien und Praktiken der Künste in der Gegenwart zu machen.

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Die Darstellung der Geburtsstunde(n) des Projekts lässt, indem sie diese beiden Grundsätze unterstreicht, einen Geist hervortreten, der den geneigten Leser zu faszinieren vermag: Jenseits gängiger fader Strategien, schlichtweg Forschungslücken füllen zu wollen, ging es den Gründungsmitgliedern des Wörterbuch-Projekts – neben Barck v.a. die in der weiteren Darstellung bedeutsamen Akteure Dieter Kliche, Martin Fontius und Wolfgang Thierse – um nichts weniger als einen Neuanfang für die Grundlagenforschung der Ästhetik.

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Mit Blick auf das gesamte Panorama, das Boden dem Leser bietet, entwickelt dieser Aufbruchsgeist aber auch einen gewissen bitteren Beigeschmack, denn er kontrastiert nur all zu deutlich mit den – selten inhaltlich bestimmten – Zerwürfnissen und Rückschlägen, die sich in den folgenden Jahren im Fahrwasser der genannten Umbrüche immer stärker bemerkbar machten und das ganze Projekt mehr als einmal an den Rand des Scheiterns brachten.

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Zwar prägten natürlich auch die Frühzeit des Projekts Auseinandersetzungen, doch ging es dabei maßgeblich um inhaltliche Fragen. Bodens Rekonstruktion kann hier auf die langjährige Erfahrung der Autorin am ZIL zurückgreifen, in dem sie selbst zu Zeiten der DDR und danach arbeitete: In groben Zügen, aber zugleich pointiert und – wie die gesamte Arbeit – mit leichter Feder zeigt das zweite Kapitel des Buches, dass die Beteiligung der Konstanzer am Wörterbuch an einen langen und produktiven inhaltlichen Disput zwischen Berlin und Konstanz anknüpfen konnte, der sich bereits vor 1983 um das Thema der Rezeptionsästhetik rankte. (Während aus Jauß’ Konstanzer Sicht die marxistisch inspirierte ZIL-Version derselben »vulgärsoziologisch« auftrat, erschien wiederum den Berlinern die Konstanzer Version letztlich als bürgerlich, d.h. einem starren Werk-Begriff verhaftet.) Aber eben aus solcher Uneinigkeit bei gleichzeitiger Nähe schälte sich entlang des Gedankens der Rezeptionsästhetik sowie der gemeinsamen Sympathie für anthropologische Ansätze eine Annäherung heraus, die schließlich in die Zusammenarbeit im Rahmen des Wörterbuch-Projekts münden konnte.

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Aus den Quellen (hauptsächlich Korrespondenzen, einige wenige Tagungsberichte), die die Verfasserin nun in immer größerem Umfang selbst sprechen lässt, ist zu schließen, dass es vielmehr der sich zunehmend verdichtenden Interferenz zwischen personellen Animositäten und den geschichtlichen Umbrüchen zuzurechnen ist, dass das Projekt in den kommenden zwölf Jahren viel Zeit mit dem Führen und Schlichten von Streitereien verlieren sollte.

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Auf den Punkt gebracht, ergeben sich aus der Quellendarstellung Bodens folgende wiederkehrende Konflikt-Typen: 1) Konflikte um die Frage, welche Strategien im Wald der Fördermöglichkeiten gefahren werden sollten, um das unter den Druck des institutionellen Wandels und Rückbaus gekommene Unternehmen »Ästhetische Grundbegriffe« durchzubringen. 2) Konflikte um die inhaltliche Organisation des Wörterbuchs, wobei die Frage nach den jeweiligen VerfasserInnen der einzelnen Artikel gerade vor dem Hintergrund des Ideologie-Diskurses nach 1990 den meisten Raum einnimmt. 3) Nicht zuletzt: Persönliche Zerwürfnisse, deren Zentrum benannter Argwohn zwischen Konstanz und Siegen ist und sie sich auf die Punkte 1) und 2) nachhaltig auswirkten.

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Exemplarisch zeigt dies ein weiterer Spannungsbogen, der seinen Ausgang in der von Barck bereits im Entwurf zum Projekt anvisierten Extension des Begriffsapparates auf die elektronischen Medien genommen hatte und sich im weiteren Verlaufe der Zusammenarbeit immer wieder in unterschiedlichen Kleidern zeigte. Denn folgt man der Rekonstruktion Bodens aufmerksam, so wird klar, dass diese Frage nicht aufgrund der darin enthaltenen theoretischen Differenzen zum Problem wurde, sondern dass es die damit einhergehende personelle bzw. institutionelle Ebene war, die, wie die Verfasserin schreibt, zu »gravierenden epistemologischen und sozialen Unverträglichkeiten« (S. 46) führen sollte: Dem Gegenwartsfokus ist die frühe Erweiterung des Herausgeberkreises auf das Siegener Graduiertenkolleg »Kommunikationsformen als Lebensformen« zu verdanken. »Sie einte«, so die Verfasserin, »der Widerstand gegen die deutschen Geisteswissenschaften, vor allem sofern sie sich der Blindheit gegenüber den Medien und Materialitäten der Kommunikation schuldig sprechen ließen« (S. 46), was im Verhältnis zu den schieren Animositäten und Eifersuchts-Szenen zwischen Konstanz und Siegen ebenfalls nicht ins Gewicht fallen sollte.

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Bodens Rekonstruktion zeigt aber noch einen vor dem kulturellen Hintergrund nicht gänzlich randständigen Punkt auf: Das Wörterbuch bleibt auf subtile Weise nicht verschont vom krampfhaften soziokulturellen Nachwende-Diskurs der Typisierungen der Bürger aus den neuen und aus den alten Bundesländern – Stichwort »Mecker-Ossi« und »Besser-Wessi«. Zwar ist den Protagonisten des Wörterbuch-Projekts, folgt man der Verfasserin, bis auf wenige Ausnahmen anzurechnen, eine direkte Übernahme dieser Topoi vermieden zu haben – was in diesem speziellen Fall, so könnte man aus dem Dargestellten schließen, zumindest auch daran gelegen haben mag, dass die hauptsächliche Konfliktlinie hier nicht zwischen Ost und West, sondern zwischen Siegen und Konstanz verlief. Doch nichtsdestotrotz, das Spiel der Zuschreibungen und Klischees stand auch für Barck, Jauß, Steinwachs und Co. am Horizont – zumal es im akademischen Feld ebenso vertreten war, etwa in den auch von Boden thematisierten Einlassungen K.-H. Bohrers zum (von diesem bestrittenen) ›Wert‹ der DDR-Geisteswissenschaften. Nicht direkt also, doch indirekt, v.a. im Sinne von Erwartungs-Erwartungen beider Seiten, spielte das eine gewisse Rolle, wenn man die sowieso schon angespannte interpersonale Lage einrechnet.

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Dass es vor diesem Hintergrund nach 17 langen Jahren schließlich doch zur Publikation des Wörterbuches kam, ist hauptsächlich drei Faktoren zuzurechnen, und zwar: 1) gewissen Ermüdungs- und Resignationserscheinungen, die letztlich doch auf mindestens einer der drei Seiten zum Einlenken in den jeweiligen Kompromissen führten, 2) dem Ausscheiden einiger der Protagonisten, die einige Zeit (ob nun beabsichtigt oder nicht) das Auge des persönlichen und inter-institutionellen Konfliktsturms bildeten (u. a. Jauß und Gumbrecht), sowie 3) in der Tat der Geschicklichkeit, mit der Barck seine unfreiwillige Rolle als Vermittlungsinstanz in der Konstellation zwischen Konstanz und Siegen erfüllte (wohl nicht zuletzt deshalb, weil es seine Idee war, die hier zur Disposition stand).

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LOSE FÄDEN

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Begreift man Wissenschaftsgeschichte im Allgemeinen als ein Forschungsfeld, das Wissenschaft nicht solitär, sondern als Derivat gesellschaftlicher und epistemischer Einflüsse zu betrachten hat, dann hat die Verfasserin mit dem Wörterbuch-Projekt einen Analysegegenstand von hohem Potenzial bei der Hand. Das macht eine weitere Episode deutlich, der Boden ganz zurecht ein eigenes Kapitel zuweist: der sehr früh (1988) im Zusammenhang mit der Verbindung zu Siegen erfolgenden Postmoderne-Diskussion innerhalb des Wörterbuch-Netzwerkes. Die Autorin prägnant:

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»Barcks Faszination für Konzepte postmoderner Weltwahrnehmung scheint aus dem durch sie beförderten Drang heraus erwachsen zu sein, im wissenschaftlichen Denken gewissermaßen noch einmal von vorn anzufangen, allen Wissensordnungen und -systemen seit der Aufklärung als Effekten einer kontingenten Entwicklung zu misstrauen und – in einer reflektierenden Gegenbewegung – nach Ideen, Projekten, Entwürfen zu suchen, die im Zuge dieser Ausdifferenzierung ›vergessen‹ worden sind. Es hätte ja auch alles anders kommen können.« (S. 52)
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Faszinierende Interferenzen zwischen fachlichen Diskursen (bzw. Kontroversen) und historischen Lagen tauchen hier auf: Das »Denken auf eigenes Risiko«, wie Boden das Postmoderne-Interesse auch umschreibt, »ein radikal neu zu erkundendes Verständnis von Welt und Geschichte, jenseits aller vor den Herausforderungen der Gegenwart gescheiterten Systeme und fachwissenschaftlichen Ordnungen«, ist dem Literaturwissenschaftler am Ende der DDR zugleich eine Frage des Zeitgeistes und ernsthafte wissenschaftliche Denk-Notwendigkeit, deren »erster Versuch in diese Richtung« (S. 53) das Wörterbuch-Projekt darstellen sollte. Doch sind es eben solche Momente, an denen der Einsatz für das Thema der multiplen Wenden hätte einsetzen können, an denen die Rekonstruktionsarbeit Bodens oftmals deutlich schwächelt.

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Um mit den positiven Aspekten zu beginnen: Hinsichtlich des Kriteriums sorgfältiger Quellenarbeit kann man Boden wie erwähnt wahrlich nicht den Vorwurf machen, diesem Anspruch methodisch stiefmütterlich begegnet zu sein. Der Darstellung, Kommentierung und vermutlich auch Auswahl ihrer Quellen ist deutlich das Bemühen anzumerken, diesen genügenden und angemessenen Raum zum Sprechen zu geben. Zwar ließe sich bezüglich der Quellenlage fragen, ob das Korpus der angeführten Quellen dem Gesamtumfang des zu rekonstruierenden Materials auf den rund 200 Seiten des Buches wirklich gerecht wird – und damit einhergehend, ob der Gegenstand nicht eine ausgedehntere Darstellung verdient hätte. Doch selbst wenn dies zuträfe, es handelte sich dabei mit Blick auf das geäußerte Vorhaben schlichtweg nicht um einen stichhaltigen Einwand: Ansatz der Arbeit ist ja erklärtermaßen die Geschichte des Projektes als Geschichte der Interferenz der multiplen Wenden zu erzählen –»chronologisch und analytisch zugleich« (S. 9), wie die Verfasserin es selbst formuliert. Damit aber sind für die Durchführung der Rekonstruktion, die hier geleistet wird, beide Ansprüche, Historiographie und begleitende Analyse, bindend.

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Leider muss man nun aber sagen, dass es ihr an Letzterem entschieden mangelt. Zeigen die ersten Kapitel zumindest noch eine gewisse Tendenz in dieser Richtung, so nimmt dieser Anspruch im Fortgang der Arbeit schrittweise ab, was – Ironie des Ganzen – wie eine Widerspiegelung des Verlusts inhaltlicher Diskussionen und Dispute zugunsten oberflächlicher Kämpfe innerhalb des Projekts wirkt. Wie erwähnt, es ist Bodens Arbeit im gleichen Zuge anzurechnen, dass sie viel Wert auf das Sprechen-Lassen der Quellen legt. Doch das eine schließt nicht das andere aus und so erscheint es merkwürdig, dieses zunehmende Zaudern, all dem, was die Quellen da mitteilen, den nötigen Resonanzraum zu verschaffen, den das Thema des Wende-Komplexes benötigt, um zu Erkenntnissen zu reifen, die über eine reine Darstellung des Gegenstandes hinausgehen.

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Man gewinnt den Eindruck, dass Boden unbewusst einem Trugschluss aufsaß: Dass die Konflikte primär persönlicher oder institutioneller Art waren, mag stimmen, doch entbindet das die Analyse nicht von der Verantwortung, sodass es reichte, sich zunehmend auf die Quellen-Darstellung zu verlagern, je weiter man ins Konfliktgebiet vordringt. Was hier fehlt, ist der Rückbezug solcher Querelen auf die Frage nach den Wenden im Plural: In welcher Beziehung stehen diese mit wissenschaftlichen Paradigmen und deren Umbrüchen? Welche Rolle spielen hinsichtlich solcher Zusammenhänge wiederum die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche etc.? Bezogen auf die erwähnte Postmoderne-Debatte, die Boden anspricht: Welche wissenschaftlichen und ggf. auch gesellschaftlich-kulturellen Lagen treffen da zusammen oder konfligieren, wenn 1988 aufseiten der Berliner die Tendenz zum denkerischen »Risiko« aufflammt und dabei auf Differenzen innerhalb des westdeutschen wissenschaftlichen Spektrums treffen?

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Sollten solche Fragen keinerlei Sinn machen bzw. die vordergründig plausible Erklärung, diejenige mit Verweis auf die gesellschaftspolitische Lage, bereits die ganze Antwort ausmachen, dann würde es offenkundig keinen Sinn machen, überhaupt von Wenden im Plural zu sprechen.

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Eine weitere Eigenheit der Arbeit von Boden kommt erschwerend hinzu: Die Orientierung der Rekonstruktion an der Personalie Karlheinz Barck. Die Verfasserin ist hier ganz klar: Sie erklärt im Rahmen ihres Ansatzes der multiplen Wenden »vor allem das Engagement von Karlheinz Barck in den Blick zu nehmen, dem zweifellos das Verdienst zukommt, den Fortgang dieses Projekts von Anfang an maßgeblich betrieben zu haben.« (S. 8) An sich handelt es sich dabei um eine zunächst ganz legitime Absicht, die noch nichts Tendenziöses implizieren muss. Doch es bildet sich im Verlaufe der Arbeit zunehmend ein Narrativ heraus, nach dem vonseiten des ZIL und v.a. Barcks stets nur der gute Wille ausging. Auch wenn aufgrund der biographischen Verbindung von Boden mit der Berliner Seite eine gewisse Tendenz nicht weiter überraschend und irgendwie durchaus verzeihlich ist: Die Autorin macht sich ein wenig zur Anwältin der Berliner Seite, was sie vor dem Hintergrund der offenbaren Komplexität der personellen Verstrickungen und Konfliktlinien besser vermieden hätte. Ohne Einsicht in das gesamte Korpus möglicher Quellen kann man hier nur spekulieren. Vielleicht blieb der Einfluss Barcks und seiner Kollegen in der Tat stets im Positiven – gänzlich glauben mag man das aber nicht.

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Defizite in der Analyse und aufscheinende Parteilichkeit sind zwar schwerwiegende Punkte – doch sie sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Arbeit Bodens weiterhin ein bedeutendes Verdienst zukommt. Denn was sie leistet, ist eine saubere und zugleich kompakte chronologische Rekonstruktion der Geschichte eines wissenschaftlichen Großprojekts und dabei zugleich eines Stückes bisher wenig beachteter Wissenschaftsgeschichte, die es schlichtweg wert ist, gelesen zu werden.

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Dies nicht nur für all jene, welche sich mit den Fragen von Wissenstransfer im Allgemeinen oder zwischen Ost und West um 1989 im Besonderen interessieren. Das Buch von P. Boden eröffnet zudem eine interessante wie ernüchternde Erkenntnis, denn vor dem Hintergrund der wechselvollen und schwierigen Umstände, unter denen das Projekt »Ästhetische Grundbegriffe« seinen auffallend langen Weg nehmen musste – eines ist von erschreckender Aktualität: All die persönlichen Rangeleien, Strategiespielchen, Animositäten und all der Argwohn zwischen den Partnern des Projekts sowie die ganze Antrags-, Evaluierungs- und Förderungsmaschinerie, die hierbei eine wesentliche Rolle gespielt hat, ist für Leser, die mit dem gegenwärtigen akademischen Betrieb vertraut sind, nicht wirklich neu. Wenn diese negative Dynamik, von der hier zu lesen ist, wirklich, wie P. Boden vermutet, den spezifischen Zeitumständen der »Wenden« geschuldet ist, dann muss man aus heutiger Sicht leider fragen, warum einem das so bekannt vorkommt.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Karlheinz Barck: Literaturwissenschaft(en) in der DDR (Ein Rückblick). In: Burkhart Steinwachs (Hg.): Geisteswissenschaften in der ehemaligen DDR. Bd. 1: Berichte. Konstanz 1993, S. 213.   zurück