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Weltsprache und Weltliteratur

Für eine Herrschaftsgeschichte der Übersetzung

  • Pascale Casanova: La langue mondiale. Traduction et domination. (Liber) Paris: Edition Le Seuil 2015. 129 S. EUR 18,00.
    ISBN: 978-2-02-128060-9.
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Die Arbeiten von Pascale Casanova, denen der feldanalytische Ansatz der Kultursoziologie Pierre Bourdieus zugrunde liegt, zeichnen sich durch innovative Perspektivierungen symbolischer Herrschaft aus. 1 Über Frankreich hinaus wurde Casanova durch ein Buch bekannt, das eine zentrale Bedeutung für die Wissenschaft von der Weltliteratur bekam: La République mondiale des Lettres. 2 Dessen englische Übersetzung 3 sicherte Casanova eine zentrale Position in der von den anglo-amerikanischen Kultur- und Literaturwissenschaften dominierten Weltliteratur-Forschung: ›Weltliteratur‹ versteht Casanova im Unterschied zu postkolonialen Ansätzen nicht als dialogische Transkulturalität jenseits nationaler Bestimmungen, sondern als ein hierarchisches, von Ungleichheit und symbolischen Kämpfen geprägtes Beziehungssystem von Nationalliteraturen. Die Grundlage für Weltliteratur bildet ein Zusammenspiel literarischer Felder, in denen jeweils ein Antagonismus zwischen dem Pol einer national bestimmten und dem einer international ausgerichteten Literatur herrscht.

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Bei dieser Konzeption von Weltliteratur als Konfliktgeschichte spielt die Untersuchung der sozialen Logik von Übersetzungen eine zentrale Rolle. Auch hier grenzt sich Casanova von ›dialogischen‹ und ›postkolonialen‹ Ansätzen in der Translationswissenschaft ab (vgl. S. 18). Sprachen mögen in linguistischer Hinsicht als ›gleichwertig‹ gelten – in sozialer Hinsicht sind sie es nicht. Weit entfernt von einer wertneutralen Grenzüberschreitung begreift Casanova Übersetzungen als eine quasi ›magische‹ Form von Prestige-Transfers und ›Akkumulationen‹ symbolischen Kapitals innerhalb eines von Dominanz- und Anerkennungsverhältnissen geprägten Marktes.

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Die soziologische Untersuchung der weltweiten Übersetzungsströme ist heutzutage ein wichtiger Bereich der Erforschung kultureller Globalisierungsprozesse im Allgemeinen und der Weltliteratur im Besonderen. Johan Heilbron und Abram de Swaan unterschieden erstmals ›periphere‹, ›semi-periphere‹ und ›zentrale‹ Positionen innerhalb eines Systems hierarchisierter Sprachen. 4 Dominante oder zentrale Sprachen sind Sprachen, aus denen viel übersetzt wird, die sich aber ihrerseits gegen den Import mittels Übersetzungen abschotten. Semi-periphere und schließlich periphere oder dominerte Sprachräume sind dadurch geprägt, dass aus ihnen wenig übersetzt wird, sie aber selbst offen für Übersetzungen sind. Die hermeneutische Konzeption der Übersetzung als einzigartige Beziehung zwischen dem Text und seinem Übersetzer wird also zugunsten einer ›ökonomischen‹ Analyse des globalen sprachlichen Marktes transzendiert. Diese bringt die sprachliche ›Importe‹ und ›Exporte‹ auf der Grundlage eines objektiven Systems von Machtbeziehungen in ein Verhältnis (vgl. S. 14). 5

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Der vorliegende Band stellt eine Sammlung von aufeinander aufbauenden Studien dar, die die Geschichte und Ökonomie der Übersetzung als Herrschaftstechnik im Fokus der französischen Sprache aufzeigen. Bevor relevante übergeordnete Aspekte der Studien einer deutschen Leserschaft vorgestellt werden, sei Casanovas Konzept der Übersetzung, wie sie es in La République mondiale des Lettres und in anderen Studien ausgeführt hat, kurz vorgestellt. 6

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Die objektiven Herrschaftsbeziehungen von Übersetzungen

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Wie Bourdieu, Heilbron und Sapiro betont Casanova die Ungleichheit und den Herrschaftscharakter der »Ökonomie des sprachlichen Tausches«. 7 Ihr Augenmerk richtet sich dabei insbesondere auf den ›magischen Akt‹ der Ansammlung und Übertragung von ›Prestige‹, d. h. von symbolischem und spezifisch literarischem Kapital. Die weltweite Dominanz einer Sprache – wie heute des Englischen – ist nicht direkt und ausschließlich auf eine ökonomische oder politische Vormachtstellung zurückzuführen (vgl. S. 129). Dominante Sprachen verfüg(t)en immer auch über beträchtliches symbolisches bzw. literarisches Kapital, weil sie zum Beispiel eine große Anzahl an literarischen Texten aufweisen, denen ein ›universaler Wert‹ zugeschrieben wird (›Klassiker‹). Dominierte Sprachen hingegen verfügen über weniger symbolisches Kapital. Hier lassen sich vier Untergruppen unterscheiden:

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1.) Sprachen, denen es an einem etablierten Schreib-System fehlt und die daher nicht von Übersetzungen ihrer Werke auf dem literarischen Weltmarkt profitieren können;

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2.) Sprachen, die erst seit relativ kurzer Zeit kodifiziert sind (z. B. diejenigen, die sich erst im Zusammenhang mit politischer Unabhängigkeit ausgebildet haben). Diese Sprachen hängen besonders von Übersetzungen ab, um ein literarisches Korpus zu etablieren;

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3.) etablierte Sprachen relativ kleiner Länder, die relativ wenige Menschen praktizieren;

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4.) Sprachen, die zwar von einer relativ großen Anzahl von Menschen praktiziert werden und über eine große literarische Tradition verfügen, welche aber auf dem gegenwärtigen internationalen literarischen Mark kaum Wertschätzung erfahren (z. B. Arabisch).

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Casanova unterscheidet daraufhin vier Übersetzungsszenarios, die von der jeweiligen Position der Herkunfts- und der Zielsprache abhängen:

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1.) Übersetzung einer dominanten Sprache in eine dominierte (z. B. Englisch → Ungarisch);

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2.) Übersetzung einer dominierten Sprache in eine dominante (z. B. Ungarisch → Englisch);

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3.) Übersetzung einer dominanten Sprache in eine dominante (z. B. Englisch → Französisch);

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4.) Übersetzung einer dominierten Sprache in eine dominierte (z. B. Arabisch → Ungarische): kommt seltener vor.

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Die ersten beiden Fälle sind besonders interessant, weil hier die Übersetzung zum einen eine Akkumulation von Kapital und zum anderen eine literarische Konsekration darstellt: Eine ›Akkumulation von Kapital‹ findet dann statt, wenn Schriftsteller eines dominierten literarischen Feldes versuchen, auf den literarischen Weltmarkt zu gelangen, indem sie die großen internationalen ›Meisterwerke‹, denen ein universaler Wert zugesprochen wird, übersetzen und damit ›nationalisieren‹. Sie ›importieren‹ dadurch internationales literarisches Kapital und haben Anteil an der Vereinigung des globalen Wertesystems ›Weltliteratur‹. Dagegen wirkt eine Übersetzung als ›Konsekration‹, wenn eine dominierte Literatur durch Übersetzung in ein dominantes literarisches Feld eingeführt wird. Die Übersetzung eines Autors einer peripheren Sprache stellt dann einen ›Konsekrationsakt‹ dar, der dem Autor Sichtbarkeit und eine anerkannte Existenz verleiht.

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Indikatoren: Zweisprachigkeit und ›Treue‹ der Übersetzung

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Nachdem das allgemeine Modell einer symbolischen Ökonomie der Übersetzung vorgestellt worden ist, können nun die im vorliegenden Band gesammelten Studien näher betrachtet werden. Ihre zentrale These wird bereits im Titel deutlich: Es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen »Übersetzung« und (globaler) »Herrschaft«. Dominante Sprachen verbreiten sich am besten in der Welt, da sie von den meisten verstanden werden und ihre Produkte schneller zirkulieren als diejenigen einer anderen Sprache. Ihnen haftet gleichsam eine »Erlaubnis zur Zirkulation« (S. 18) an. Übersetzungen ermöglichen den Zugang zur internationalen Sichtbarkeit und erhalten dadurch einen anerkannten Status und Prestige. Am Ende ihrer Untersuchungen kann Casanova den ökonomischen und zirkulären Charakter der Expansion einer Weltsprache benennen: Je mehr ›Prestige‹ einer Sprache anhängt, umso mehr verfügt sie über symbolische ›Ressourcen‹, umso mehr wirft ihre Verwendung ›Profit‹ auf dem sprachlichen Markt ab, umso mehr wird sie bei Übersetzungen angewendet und umso mehr nähert sie sich der (Vor-)Herrschaft (S. 129).

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Die symbolische Ökonomie auf dem globalen sprachlichen Markt veranschaulicht Casanova im Folgenden anhand zweier zentraler Bereiche sprachlicher Herrschaftspraxis: ›Zweisprachigkeit‹ und ›Treue‹ der Übersetzung. Zweisprachigkeit ist ein erster zentraler Indikator für sprachliche Herrschaft, wie sie besonders im Römischen Reich im Verhältnis zwischen Latein und Griechisch zum Ausdruck kam. Casanova legt Wert auf die Unterscheidung zwischen einem kulturellen und einem kommerziellen ›Reich‹ (oder ›Geltungsraum‹): So erzeugte die Sprache der ›hohen Kultur‹ (Griechisch) bei den Römern lange Zeit ein Gefühl kultureller Unterlegenheit, obwohl das Römische Reich längst politisch und ökonomisch vorherrschend war (vgl. S. 12). Sprachliche Herrschaft folgt also einer eigenen Logik des Prestiges. Dagegen ist ihr Ziel – die Ausbreitung ihres Geltungsbereiches – mit dem militärischer und ökonomischer Imperien identisch.

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Eine dominante Sprache definiert Casanova als eine Sprache, die durch Übersetzungen mehr sprachliche Produkte exportiert als importiert und deren sprachliche Exporte den importierenden Sprach- und Kulturräumen symbolischen Wert verleihen. Dagegen ist es ein Zeichen für eine sprachlich beherrschte Stellung, wenn Sprach- und Kulturräume von Zweisprachigkeit geprägt sind. Schon de Swann hatte gezeigt, dass die zentrale Stellung einer Sprache ableitbar ist von der Anzahl der zweisprachigen Sprecher innerhalb eines Landes (vgl. S. 17). 8 Hieraus lässt sich der theoretische Grundsatz ableiten: Je mehr Zwei- und Mehrsprachigkeit die Sprachen in Beziehung setzt, desto größer ist die ausgeübte sprachliche Macht (zum Beispiel in der vom Deutschen und Französischen geprägten Schweiz). Je mehr sprachliche Macht ausgeübt wird, desto größer ist die Gefahr, dass dominierte Sprachen verschwinden. Umgekehrt gilt: Je mehr die Sprachen getrennt sind, desto unbedeutender ist die direkte sprachliche Herrschaft. An ihre Stelle treten Übersetzungen (vgl. S. 16). Auch hier gilt umgekehrt: Je weniger Übersetzungen in einem Sprachraum präsent sind (zum Beispiel im anglophonen Bereich), desto dominanter ist seine sprachliche Position. Übersetzungen können aber auch hier eine Form von Widerstand gegen die Auflösung der Sprachvielfalt und die sprachliche Dominanz darstellen, wie z. B. am Streben Großbritanniens oder Kanadas ersichtlich ist, sich von der Orthographie und Aussprache des amerikanischen Englisch abzugrenzen (vgl. ebd.).

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Ein zweiter zentraler Indikator für sprachliche und kulturelle Dominanzverhältnisse ist die ›Treue‹ der Übersetzung. Grundsätzlich gilt: Je ›treuer‹ die Übersetzung ist, desto mehr erkennt sie den Text mit seiner eigenen sprachlichen Herkunft und dem damit verbunden symbolischen Werten an. Die Nähe zum Original verspricht ihr dabei den fast gleichen Wert wie das Original. Diese ›Ökonomie des Prestiges‹ basiert auf dem kollektiven Glauben an eine Hierarchie der Sprachen als ›Kulturträger‹. Wer diesen nicht teilt, nimmt gleichsam eine ›atheistische‹ Position ein, die das Prestige einer herrschenden Sprache in Zweifel zieht (z. B. ein arabischer Schriftsteller, der einen symbolisch-literarischen Wertverlust befürchtet, wenn seine Werke ins Französische, Englische oder Deutsche übersetzt werden).

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Die Entwicklung der französischen Sprache zur Weltsprache

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Die Ausbildung und der Machtaufstieg der französischen Sprache lassen sich nur anhand der Hierarchien und symbolischen Kämpfe mit der dominanten Sprache und ihren sozialen Gebrauchsweisen verstehen. Frankreichs Zweisprachigkeit war bis ins 18. Jahrhundert von einer Beziehung zur lateinischen (bzw. italienischen) Sprache geprägt. Dabei war das ganze Spektrum kultureller bzw. sprachlicher Praktiken von einem Klassifikationssystem zwischen ›Hoch‹ – ›Niedrig‹ geprägt (vgl. Schema S. 28). Während Latein den sozialen Praktiken einer ›Hochkultur‹ vorbehalten waren, verband man die französischen Idiome mit den ›gemeinen‹, ›niedrigen‹ Praktiken. Als schriftliche Kultursprache verfügte allein Latein über eine literarische Tradition, eine kodifizierte Grammatik, ein Vokabular gelehrter Begriffe und die Autorität der schulischen Vermittlung. Jedoch hatte schon Erich Auerbach gezeigt, wie sehr die Entwicklung der lateinischen Sprache auch von der Konkurrenz mit den regionalen Idiomen geprägt war. 9 So hatte Latein zunehmend Schwierigkeit, die konkrete Realität wiederzugeben und sah sich ab dem 12. und im 13. Jahrhundert mit der Notwendigkeit einer Erneuerung konfrontiert. 10 Die Volkssprachen waren dagegen im Verhältnis zur lateinischen Sprache immer ›verspätet‹. Sie mussten daher spezifisches literarisches und wissenschaftliches Kapital ›importieren‹. Aus diesem Grund entstanden im 14. und 15. Jahrhundert im Französischen viele Neologismen, die aus dem Lateinischen oder Griechischen entlehnt sind.

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Der Begriff der »Entlehnung« (frz. »emprunt«) zeigt erneut den ökonomischen Charakter des sprachlichen Austausches. Durch die seit Ende des 13. und im 14. Jahrhundert zunehmenden Übersetzungen aus dem Lateinischen und Griechischen entwickelte sich ein ›gelehrtes Sprachregister‹ in französischer Sprache, deren Funktion in der ›Akkumulation‹ sprachlichen und zugleich literarisch-gelehrten Kapitals bestand (vgl. S. 37). Zugleich wurden Reim und alexandrinischer Vers, die in der lateinischen Tradition keine Rolle spielten, zum konstitutionellen Bestandteil einer symbolisch immer selbstbewussteren ›nationalen‹, französischen literarischen Tradition, aus denen sich schließlich die ›Klassiker‹ herausbildeten (vgl. S. 38).

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Die Durchsetzung einer Nationalsprache: Übersetzung als Eroberung und Aneignung

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Eine wichtige Rolle für die Herrschaftsgeschichte der französischen Sprache spielte Joachim Du Bellay. In seinem Aufsatz La Deffence et Illustration de la Langue Françoyse (1549) lehnte er das Dogma einer ›natürlichen‹ Sprachhierarchie ab und kündigte damit den Glauben an die sprachliche Vorherrschaft der lateinischen Sprache auf. Dadurch verweltlichte und historisierte er die Sprachproblematik, deren ›ökonomischen‹ Zusammenhang er in der Anhäufung von Schriften, ihrer ›Imitation‹ und dem wachsenden ›Reichtum‹ einer Sprache erkannte (vgl. S. 46 ff.). So wurde im Frankreich der Renaissance die Übersetzung zu einem literarischen Genre. Sie diente der Aneignung von ›Klassikern‹, denen ein universaler Wert beigemessen wurde. Auch hier zeigt sich etymologisch die ursprüngliche ökonomische Bedeutung der sprachlich-literarischen Austauschbeziehungen. Denn ›Klassiker‹ (lateinisch: ›scriptor classicus‹) bezeichnete Schriftsteller ›ersten Ranges‹, das heißt: ›glückliche‹, ›reiche‹ Schriftsteller. Seit der Renaissance war der ›Klassiker‹ das, was der Adlige in der sozialen Welt war: nobilitiert (vgl. S. 62).

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Für die von Casanova entwickelte historische Ökonomie symbolischen Kapitals ist nun von besonderer Bedeutung, dass literarische ›Ehrwürdigkeit‹ mit einem spezifischen ›Alter‹ korreliert: Denn je älter der ›Klassiker‹, desto legitimer und nobilitierter ist er. Sein ›literarisches Alter‹ enthebt ihn weltlicher und zeitlicher Bestimmungen: Er gilt als Teil des universalen Kulturerbes und spricht zu allen in allen Zeiten. Der Prozess des ›Klassisch-Werdens‹ ist aber lang. Er bildet den Übergang vom Zufälligen und der Konkurrenz hin zu einen in und für sich gerechtfertigten Wert. Hat er einmal diesen Rang erworben, ist die Verschleierung der ursprünglich diesseitig-ökonomischen Klassifizierung vollendet. Der ›Klassiker‹, der sich durch ›Ehrwürdigkeit‹ von den ›Gewöhnlichen‹ in der Zeit abhebt, erzeugt einen besonderen Wert. Er wird zum ›Maßstab‹ und zur ›Autorität‹ für die nachfolgenden Werke. Daher stellt der ›Import‹ von Klassikern eine Wertaneignung und kollektive Wertsteigerung dar.

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Für Casanova stehen Übersetzungen in einem kolonialen Zusammenhang. In dieser Perspektive dienen sie gleichsam als ›Waffen‹ einer ›militärischen Eroberung‹. Mittels Übersetzungen findet eine nationale ›Bereicherung‹ an fremden ›Kulturschätzen‹ statt (vgl. S. 68). Weniger drastisch formuliert: Übersetzungen können einen symbolischen Wertetransfer initiieren. Da aber Übersetzungen in der Regel für einen Werteverlust im Vergleich zur Originalsprache stehen, neigen sie dazu, diesen durch sprachliche Eingriffe, wie zum Beispiel der sprachlichen Ausschmückung auszugleichen. Entsprechend war ›Treue‹ für die französischen Übersetzungen bis zum 18. Jahrhundert kein Thema. Auf der Grundlage dieser Aneignungspraxis der ›Verbesserung‹ konnte sich ein zunehmend gewählter Stil ausbilden. Die Ausbildung stilistischer und rhetorischer Kunstfertigkeiten in der französischen klassizistischen Literatur war also Produkt eines langsamen, im 16. Jahrhundert einsetzenden Akkumulationsprozesses (vgl. S. 70 f.).

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Der Prozess der Prestige-Aneignung durch nationalsprachliche Umwandlung charakterisiert in einem besonderen Maße auch die deutsche Literaturgeschichte seit dem Sturm und Drang, der Klassik und Romantik, wie sich an ihren literarischen Programmatiken des ›Übersetzens‹ ablesen lässt. Wenn Johann Gottfried Herder oder Wilhelm von Humboldt die ›treue‹ Übersetzung forderten, so muss dies vor dem Hintergrund französischer Kulturdominanz gesehen werden. Die deutsche ›treue‹ Übersetzung der ›Alten‹ war eine Reaktion gegen die Übersetzung »à la française«, das heißt gegen die freie Übersetzung (s. u.). Mit der sich um 1800 ausbildenden philologischen ›Treue‹ der Deutschen gegenüber den ›Klassikern‹ begann also der Akkumulationsprozess universalen literarischen Kapitals in deutscher Sprache. Sie gewann dadurch ›Literarizität‹ und erhob den Anspruch, das neue ›Latein der Modernen‹ zu sein (vgl. S. 75). 11

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Die Funktion der untreuen, ›hässlichen‹ Übersetzung

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Seit Mitte 17. Jahrhunderts war aber Französisch nicht nur eine anerkannte, sondern sie wurde zunehmend auch die dominante Literatursprache in Europa, nicht zuletzt durch die Ausbildung von ›Stil‹. Eine besondere Rolle spielte dabei die untreue, ›hässliche‹ Übersetzung. Bereits Shakespeare wich von den griechischen und lateinischen ›Klassikern‹ durch ›schlechte‹, bewusst untreue Übersetzungen ab. 12 Die bewusste ›untreue‹ Übersetzung erweist in besonderem Maße ihren ›Beute-‹ und ›Eroberungscharakter‹. Dies zeigt Casanova anhand der »Querelle des Anciens et des Modernes«: Die Position der »Modernen« war auf eine neue Leserschaft und ›Öffentlichkeit‹ in Paris ausgerichtet, die nur noch entfernte Beziehungen zum Griechischen und Lateinischen pflegte. Die ›Modernen‹ führten daher das Kriterium der ›Lesbarkeit‹ und ›Modernisierung‹ an, um neue, ›freie‹ Übersetzungen der ›Klassiker‹ zu legitimieren. Diese emanzipierte sich von deren Autorität und den bis dahin gültigen Übersetzungen, denen man die Projektion einer falschen, weil zeitenthobenen Universalität des Humanismus vorhielt. Dagegen bevorzugten die ›Modernen‹ fortan eine ›heteronome‹ und ›ethnozentrische‹ Übersetzung (vgl. S. 81), die sich am zeitgenössischen französischen Leser orientierte. Unter einer ›guten‹ Übersetzung verstand man nun eine ›gut geschriebene‹ Übersetzung. So traten Charles Perrault oder Antoine Houdar de La Motte (Übersetzer der Ilias, 1714) dafür ein, die ›Alten‹ durch Veränderung des Vokabulars, der Syntax und der historischen Kontextes zu ›modernisieren‹. Der fremde, ›alte‹ Text wurde so von seiner besonderen Historizität losgelöst. Übersetzungen ›à la française‹, die ›Belles Infidèles‹ richteten sich fortan nach dem Geschmack ihrer Zeit aus.

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Zwar wurde die Dominanz des Lateinischen durch die Dominanz des Französischen abgelöst, jedoch setzten sich die Grundzüge ›kolonialer‹ und imperialer symbolischer Herrschaft fort: Auch die neuen Herrschenden der ›Modernes‹ setzten ihren Geschmack durch das Instrument der ›untreuen‹ Übersetzung durch. Diese ›verbesserte‹ das fremde Original, indem sie ihm ein nationales Ansehen verlieh und es dadurch ›naturalisierte‹ bzw. ›einbürgerte‹. Das sprachlich Fremde wurde so den französischen Normen unterworfen. Nicht zuletzt mittels dieser ›annektierenden‹ Übersetzungen konnte die französische Sprache im 17. Jahrhundert zur Weltsprache aufsteigen. Ihre Herrschaft dauerte bis Mitte des 20. Jahrhunderts an.

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Ausblick auf die neue Weltsprache Englisch

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Im letzten Kapitel, »Exitus ou les Belles Infidèles recommencées«, reflektiert Casanova über die neue Weltsprache Englisch. Sie bezieht sich hier auf Untersuchungen von Gisèle Sapiro, die zeigen, dass der Anteil englischer Übersetzungen proportional mit dem Wachstum der weltweiten Übersetzungen zunimmt. 13 Durch die Dominanz der englischen Sprache könnten sich ihre Übersetzer wie einst die französischen Übersetzer der ›Belles Infidèles‹ erlauben, sich mehr an der eigenen Leserschaft als an den Anforderungen der fremden Originaltexte zu orientieren. Zudem würden Verleger heutzutage oft ›ethnozentrische‹ Übersetzungen favorisieren, die sie durch Kommentare, Anmerkungen etc. autorisierten. Besonders deutlich werde dies bei amerikanischen Übersetzungen, wo die Doktrin der ›Lesbarkeit‹ und des ›klaren Stils‹ herrsche. Heutige amerikanische Übersetzer müssten sich daher weitgehend ›unsichtbar‹ machen. Häufig würde kaschiert, dass es sich um eine Übersetzung ins Englische handelt. 14 Amerikanische Leser glaubten daher oft, dass sie amerikanische Originaltexte lesen würden, die sie der nationalen Literatur zuschrieben. Explizit als Übersetzung gekennzeichnete Texte seien dagegen wenig beliebt. So sei in der zeitgenössischen anglo-amerikanischen Kultur die (nicht anglophone) Weltliteratur (fast) verschwunden (vgl. S. 126 f.).

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Erneut gehen also im Namen der ›Lesbarkeit‹ und ›Zugänglichkeit‹ sprachliche und stilistische Besonderheiten in den Übersetzungen einer herrschenden Weltsprache unter. Auch die neuen ›Belles Infidèles‹ erzeugten dadurch die Illusion eines ›natürlichen‹, ›einheimischen‹ Textes. Zwar präsentierten sie sich als ›treue‹ Übersetzungen. Tatsächlich gehe es aber nach Meinung Casanovas um die Durchsetzung der eigenen Vorstellungen von ›Lesbarkeit‹ des Textes, das heißt letztlich um eine kulturelle Annexion (vgl. ebd.). 15 Umgekehrt expandieren sich mit der Weltsprache ihre Denkkategorien, die sie den anderen Sprachgebieten aufdrängt. Bei der Beherrschung der globalen Märkte sprachlichen Austausches geht es also letztlich auch um die Ausbreitung einer ganzen Kulturform. Die Studie endet mit dem Appell, gegen sprachliche Vorherrschaft anzukämpfen. Auch hierzu können Übersetzungen dienen, jedoch müssen sie im Unterschied zu den ›Belles Infidèles‹ im Zeichen sprachlicher Vielfalt stehen.

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Fazit

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Der schmale Band umfasst mehrere kleinere, aufeinander aufbauende Studien, die die Geschichte und Ökonomie sprachlicher Herrschaft im Fokus der französischen Sprache nachzeichnen. So überzeugend die Darlegung der Grundmechanismen ist, so wäre der Aufstieg der französischen Sprache zur Weltsprache angesichts der Ausdifferenzierung der sozialen Welt nach Wissensdisziplinen noch weiter zu unterscheiden und der französische Zentrismus zu relativieren. 16 Schließlich bleiben viele Fragen hinsichtlich des im letzten Kapitel skizzierten Hegemoniewechsels von der französischen zur englischen Sprache offen. Ähnlich wie im fünften Kapitel der République mondiale des Lettres, wo nur ansatzweise der Wandel »De l’internationalisme littéraire à la mondialisation commerciale?« seit den 1960er Jahren reflektiert wird, fehlt eine genauere Analyse des ›Falls‹ der französischen Weltsprache: Welche stilistischen Veränderungen sind mit dem sprachlich-kulturellen Hegemoniewechsel verbunden? Ist die Doktrin der ›Lesbarkeit‹ und des ›einfachen Stils‹, wie sie vor allem auf dem amerikanischen Markt herrscht, direkter Ausdruck einer Ökonomisierung des literarischen Feldes oder muss man hier nicht auch einen tiefgreifenden stilistischen Formationswechsel weltweit von (tendenziell französisch orientierten) modernistischen zu (tendenziell nordamerikanisch orientierten) realistischen Schreibweisen in Betracht ziehen? 17 Trotz der genannten Kritikpunkte und offenen Fragen legt Casanova eine wichtige Vertiefung und Konkretisierung ihres feldanalytischen Ansatzes zum besseren Verständnis symbolischer Herrschaft vor. In der deutschen Literatur- und Kulturwissenschaft ist diese Seite der Übersetzung noch zu wenig beachtet. Eine intensivierte Translationsforschung mit Verbindung zur Weltliteraturforschung ist auch von deutschsprachiger Seite wünschenswert. Dieser Band bietet hierzu gute Impulse.

 
 

Anmerkungen

Vgl. zuletzt: Pascale Casanova: Kafka en colère. Paris: Seuil 2011. Casanova interpretiert hier Kafka als ›kritischen Ethnologe‹ symbolischer Herrschaft im deutschsprachigen Prag.   zurück
Pascale Casanova: La République mondiale des Lettres. Paris: Seuil 1996.   zurück
Pascale Casanova: The World Republic of Letters. Cambridge: Harvard University Press 2004.   zurück
Johan Heilbron: Translation as a Cultural World System. In: Perspectives: Studies in Translatology 8 (2000), H. 1, S. 9–26, Abram de Swaan: Words of the World: The Global Language System. Cambridge: Polity Press 2001. De Swaan unterscheidet noch »super-„ und „hyper-zentrale« Sprachen (ebd., S. 4–7). Hieran wird deutlich, dass die Unterscheidung der hierarchischen Positionen eine graduelle ist.   zurück
Weitere Forschungen zur ›Ökonomie‹ der Übersetzungsströme innerhalb eines internationalen Kontextes stammen von Gisèle Sapiro (Gisèle Sapiro [dir.]: Les contradictions de la globalisation éditoriale. Paris : Nouveau Monde Éditions 2009; vgl. auch Gisèle Sapiro: Literarische Übersetzungen in den USA und in Frankreich im Zeitalter der Globalisierung. Eine vergleichende Studie. In: Heribert Tommek, Klaus-Michael Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – Diskurse – Medien-Ökonomien – Autorpositionen. Heidelberg: Synchron 2012, S. 139–168). Die Soziologie der Übersetzungen im deutschsprachigen Raum haben insbesondere Michaela Wolf und Norbert Bachleitner untersucht (Norbert Bachleitner, Michaela Wolf: Auf dem Weg zu einer Soziologie der literarischen Übersetzung im deutschsprachigen Raum. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur [2004], H. 2, S. 1–25; das gesamte Heft ist dem Thema gewidmet).   zurück
Vgl. zu den folgenden Ausführungen Pascale Casanova: Consécration et accumulation de capital littéraire. La traduction comme échange inégal, in: Actes de la recherché en sciences sociales 2002/4 (n° 144), S. 7–20; engl. Version P. C.: Consecration and accumulation of literary capital: translation as unequal exchange. In: Mona Baker (Ed.): Critical readings in translation studies. London, New York: Routledge 2010, S. 285–303.   zurück
Vgl. Pierre Bourdieu: Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller 1990.   zurück
Wenn auch alle zweisprachigen Kollektive sprachlich eher eine dominierte Position einnehmen, so sind doch nicht alle sprachlich Dominierten zweisprachig.   zurück
Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Bern: Francke 1958.   zurück
10 
Für Auerbach zeigte sich die sprachliche Erneuerung im wissenschaftlich exakteren Latein der Scholastik, das sich von der allgemeinen Rhetorik des Humanismus absetzte (vgl. ebd.).   zurück
11 
Wie sehr der Wertsetzung der ›Treue‹ von Übersetzungen durch nationale Konkurrenz geprägt war, geht aus folgender Notiz Goethes zu »Übersetzungen« hervor: Er kritisiert eine »Epoche […], wo man sich in die Zustände des Auslandes zwar zu versetzen, aber eigentlich nur fremden Sinn sich anzueignen und mit eigenem Sinne wieder darzustellen bemüht ist. Solche Zeit möchte ich im reinsten Wortverstand die parodistische nennen. Meistenteils sind es geistreiche Menschen, die sich zu einem solchen Geschäft berufen fühlen. Die Franzosen bedienen sich dieser Art bei Übersetzung aller poetischen Werke […]. Der Franzose, wie er sich fremde Worte mundrecht macht, verfährt auch so mit den Gefühlen, Gedanken, ja den Gegenständen, er fordert durchaus für jede fremde Frucht ein Surrogat, das auf seinem eignen Grund und Boden gewachsen sei.« (»Übersetzungen« in: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans, in: J. W. v. Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe in 12 Bänden, hg. von Erich Trunz, hier Bd. 2. München: Beck 19994, S. 255). Wieland wäre das entsprechende deutsche Beispiel für die Übersetzung ›à la française‹.   zurück
12 
Zum Beispiel beim Plot von Romeo und Julia, für die Shakespeare die ›schlechte‹ Übersetzung in William Painters Palace of Pleasure (1566 f.) zu Grunde nahm (vgl. S. 67).   zurück
13 
Gisèle Sapiro: Translatio. Le marché de la traduction en France à l’heure de la mondialisation. Paris: CNRS éditions 2008. Der Anteil der Übersetzungen an der Gesamtzahl der Neuerscheinungen im jeweiligen Land sieht um 1990 im internationalen Vergleich folgendermaßen aus: USA: 2,96%, Großbritannien: 2,4%, Frankreich: 9,9%, Deutschland (14,4), Italien (25,4%) (Zahlen zit. von Casanova S. 127 nach Lawrence Venutti: The Translator’s Invisibility: a History of Translation. New York: Routledge 1995, hier S. 12–14). Diese Zahlen wären noch zu differenzieren je nach dem Verhältnis zur absoluten Zahl der jeweiligen Neuerscheinungen und zum jeweiligen Anteil von Übersetzungen aus der englischen Sprache. Gleichwohl spiegeln sie den gleitenden Übergang von einer zentralen über eine semi-periphere bis hin zu einer peripheren Position auf dem internationalen Sprachmarkt wider.   zurück
14 
Casanova bezieht sich hier auf: Venutti: The Translator’s Invisibility (Anm. 13).   zurück
15 
Casanova verweist auf das Beispiel der englisch-amerikanische Übersetzung von Milan Kunderas Žert (Der Scherz, 1965/67); vgl. Piotr Kuhiwczak: Translation as appropriation: the case of Milan Kunderas' The Joke. In: Susan Bassnett, André Lefevere (Ed.): Translation, History & Culture. London: Cassell 1990, S. 124–126.   zurück
16 
Analog richtete sich eine Kritik bereits auf Casanovas These von der »literarischen Hauptstadt Paris« als universaler Maßstab von »Weltliteratur« bis Mitte des 20. Jahrhunderts, die im Zentrum ihrer Arbeit La République des Lettres steht (vgl. Christopher Prendergast: The World Republic of Letters, in: Christopher Prendergast [Ed.]: Debating World Literature. London: Verso 2004, S. 1–25; Helena Buescu: Pascale Casanova and the Republic of Letters, in: Theo D’haen, David Damrosch and Djelal Kadir [Ed.]: The Routledge Companion to World Literature. London, New York: Routledge 2012, S. 126–35).   zurück
17 
Vgl. hierzu Heribert Tommek: Die Formen des Realismus im Gegenwartsroman. Ein konzeptueller Bestimmungsversuch. In: Nadine J. Schmidt, Kalina Kupczynska (Hg.): Text + Kritik. Sonderband: Poetik des Gegenwartsromans. München 2016, S. 75–87.   zurück