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Über das Kartographieren von Emotionen in Erzähltexten

  • Claudia Hillebrandt: Das emotionale Wirkungspotenzial von Erzähltexten. Mit Fallstudien zu Kafka, Perutz und Werfel. (Deutsche Literatur 6) Berlin: Akademie 2011. 331 S. EUR (D) 109,95.
    ISBN: 978-3-05-0051963.
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Die vorliegende Arbeit, entstanden unter der Betreuung von Prof. Simone Winko, wurde 2011 an der Universität Göttingen als Dissertation angenommen. Sie macht es sich zur Aufgabe, das viel bearbeitete Thema von Erzählliteratur und deren emotionaler Wirkung wenn auch nicht vollkommen neu, so doch – mit einem dezidiert anwendungsorientierten Fokus – aufs Neue zu beleuchten. Während die Verfasserin also gemäß dieser Ausrichtung in einem ersten Teil ein auf praktische Nutzbarkeit ausgerichtetes Analyseraster zur Beschreibung von potenziell emotionalisierenden Textstrukturen entwirft, das einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Übertragbarkeit auf andere Gegenstände erhebt, widmet sie sich in einem zweiten Teil der exemplarischen Anwendung ihres Analysewerkzeuges auf drei ausgewählte Texte der Prager deutschsprachigen Literatur. Die Arbeit verfolgt ein doppeltes Ziel, indem sie neben der Theorie- bzw. Methodenbildung einen Beitrag zur literarhistorischen Einordnung der von ihr ausgewählten Texte von Franz Kafka (Das Schloss), Leo Perutz (Der Meister des jüngsten Tages) und Franz Werfel (Verdi. Roman der Oper) leisten möchte.

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Im systematischen Teil formuliert die Verfasserin, der Komplexität des Gegenstandes durchaus angemessen, eher zurückhaltend ihr Anliegen, »ein Modell zur systematischen Beschreibung von Textstrukturen in fiktionalen Erzähltexten [vorzustellen], von denen angenommen werden kann, dass sie das Potenzial haben, das emotionale Erleben während der Lektüre zu beeinflussen« (S. 27). Die auch schon im Titel verwendete, vorsichtige Rede von der Potenzialität der Wirkung ist schon allein deshalb angebracht, weil das emotionale Erleben des Lesers stets von dessen jeweiliger Subjektivität abhängig ist, und aus diesem Grund allgemeingültige Aussagen über die tatsächliche emotionale Wirkung literarischer Texte bei »dem Leser« kaum getroffen werden können. Es können jedoch sehr wohl Aussagen über emotionalisierende Absichten in Texten getroffen werden, die sich ausschließlich am Text selbst und nicht in einer anderweitig aufzuspürenden Autorintention nachweisen lassen.

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Die Auswahl der drei formal und inhaltlich sehr unterschiedlichen, jedoch nahezu zeitgleich erschienenen Beispieltexte wird im Vorfeld durchaus plausibel begründet und auch im Verlauf der Analyse erweist sich die Zusammenstellung des Korpus’ als fruchtbar. Mit ihr verbunden ist auch die taktisch kluge Absage der Autorin an den möglichen Anspruch der »Konstruktion einer Traditionslinie« (S. 148), sie verweist lediglich darauf, ihre Methodik und deren Wirkungshypothesen könnten als Basis für zukünftige Forschungsarbeiten dienen. Die Anwendung emotionswissenschaftlicher Fragestellungen auf Erzähltexte der Moderne ist naheliegend, da letzteren, so die Autorin, traditionell der Ruf anhaftet, Emotionen weder zu thematisieren noch emotionale Wirkungen zu intendieren (Vgl. S. 143). Als Beleg für die Verbreitung dieser – von der Verfasserin naturgemäß nicht geteilten – These von der »Kälte« oder »Immunität« der Erzähltexte der Moderne zieht sie mehrere thematisch einschlägige Publikationen, u.a. von Helmut Lethen und Martin von Koppenfels heran, die die Studie in den Kontext der literaturwissenschaftlichen Emotionsforschung einbetten und die Verfasserin als auf diesem Gebiet ausgezeichnet informiert ausweisen.

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Der große Vorzug der Arbeit liegt darin, dass sie – vor dem Hintergrund einer fundierten Zusammenfassung unterschiedlicher, nicht nur literaturwissenschaftlicher, Ansätze der Emotionsforschung – ein Modell entwickelt, das tatsächlich anwendungsorientiert ist. Es handelt sich um ein kultursemiotisches Modell, das sowohl die Analyse von Emotionsdarstellungen in Texten, als auch in einem nächsten Schritt Rückschlüsse auf deren Auswirkungen auf den Rezeptionsprozess erlaubt. Zentral ist für dieses Modell, dass es davon ausgeht, dass die Beschreibung von Textmerkmalen das Aufstellen von Wirkungshypothesen ermöglicht. Mittels dieses relationalen Ansatzes werden bestimmte Texteigenschaften mit von ihnen abhängigen potentiellen Wirkungen in Verbindung gebracht. Bei dem entwickelten Modell handelt es sich um ein narratologisch-kognitionspsychologisch fundiertes Analysemodell, das sehr plausibel und nachvollziehbar verschiedene Ansätze miteinander vereint. Elegant ist hierbei die Vorgehensweise der Verfasserin, die einerseits gut informiert den aktuellen Stand der Debatte wiedergibt und gleichzeitig pragmatisch diejenigen Elemente aus ihr zu destillieren weiß, die sich für ihr Vorhaben als praktikabel erweisen.

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Sie unterscheidet zwischen denjenigen Emotionen des Rezipienten, die in Bezug auf die entworfene fiktionale Welt entstehen und solchen, die sich vorrangig auf den Artefaktcharakter des literarischen Werkes beziehen. Bei ersteren differenziert sie zwischen figurenbezogenen und solchen Emotionen, die durch die Erzählkonstruktion ausgelöst werden können. Diese Unterscheidungen sind zwar durchaus gängig, in der bestechenden Klarheit ihrer Präsentation gewinnen sie jedoch neue Überzeugungskraft, die schließlich in den Detailanalysen des dritten Kapitels deutlich hervortritt.

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Die Analyse von Kafkas Schloss widmet sich in erster Linie der Hervorhebung figurenbezogener emotionalisierender Verfahren, genauer der Sympathielenkung des Lesers bezüglich der Figuren K. und Amalia. Hier wird die Anwendbarkeit des entworfenen Modells in einer Close-Reading-Passage unter Beweis gestellt, in der exemplarisch Satz für Satz emotionale Aussagen und deren potenzielle Wirkung tabellarisch dargestellt werden. Im Anschluss an diese sehr detaillierten und durchaus originellen Einzelbeobachtungen bezüglich der Thematisierung und Evokation von Emotionen im Text kommt die Verfasserin abschließend doch, übereinstimmend mit der etablierten Kafka-Forschung, zu der Erkenntnis, dass eindeutige (emotionale) Bewertungen von Figuren durch den Leser offensichtlich strategisch verunmöglicht werden, wodurch die Frage nach dem Ziel einer solchen Strategie der Ambivalenz aufgeworfen wird. Beantwortet wird sie, auch hierin den gängigen Forschungslinien folgend, mit einem in Bezug auf Kafkas Texte bereits vielfach beschriebenen Effekt der Desorientierung. Was jedoch, so die Verfasserin, bisher weniger beachtet worden sei, sind die emotionalen Konsequenzen des kafkaschen Schreibverfahrens der Uneindeutigkeit für den Rezipienten. Ihre These, dass der Text starke, wenn auch uneinheitliche, desorientierende emotionale Wirkung entfalte, untermauert die Verfasserin abschließend unter Zuhilfenahme der zeitgenössischen Rezeption, die dem Text in der Tat eine solche attestierte: Max Brod, Sigfried Kracauer und einige andere nehmen ausführlich Bezug auf eine ganze Reihe von Gefühlen und Stimmungen, die der Roman erzeuge, jedoch dominiert auch in ihren unterschiedlichen Interpretationen der Eindruck der Uneindeutigkeit, der Rätselhaftigkeit. Drei durchaus widersprüchliche Hauptlinien der emotionalen Wirkung des Textes werden in den gesichteten zeitgenössischen Rezensionen ausgemacht, Angst, Komik und Langeweile (S. 205). Die Verfasserin spricht abschließend von »der spezifischen Deutungsoffenheit des Schloß-Romans« (S. 207), deren emotionaler Effekt im Zentrum der Arbeit stehe, im Gegensatz zu anderen Ansätzen, die auf jene Offenheit mit dem Versuch einer Sinn(re)konstruktion reagierten. Allerdings muss, was die Autorin übrigens auch selbst tut, kritisch angemerkt werden, dass dieser affirmative Umgang mit der Deutungsoffenheit des Textes eben auch dazu führt, dass letztlich keine abschließende Aussage über die emotionalen Effekte des Schloß-Textes getroffen werden kann, sich die entwickelte Methode also letztlich, zumindest in der vorgeführten Form, als nur bedingt fruchtbar erweist.

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Die Modellanalyse von Perutz’ Text fokussiert unter emotionswissenschaftlichen Aspekten insbesondere die Frage nach dem Status des unzuverlässigen Erzählens im Roman, wobei sich die Verfasserin nicht auf die prominenteste Theorie zu diesem Thema von Ansgar Nünning, sondern auf einen weniger bekannten Ansatz von Tom Kindt beruft. Ebenso wie in der Analyse des Kafka-Textes, werden auch hier zeitgenössische Rezeptionszeugnisse herangezogen, um den wahrgenommenen emotionalen Effekt des Textes nicht nur von der Textseite fassen zu können. Perutz‘ Text löse, so das Ergebnis, entsprechend seiner verbreiteten Einordnung als Kriminal- oder fantastischer Roman, v.a. Gefühle der Spannung, Angst, des Grusels und Schauers und der Erschütterung aus (S. 228). Gerade aus dem Einsatz unzuverlässiger Erzähler resultiere die Uneinheitlichkeit der Emotionen, die in Bezug auf die Figuren ausgelöst würden, einheitlicher hingegen seien Effekte der Spannung, die sich auf die Erzählkonstruktion zurückführen ließen. Ausführlich geht die Verfasserin auf die Frage nach dem Status der perutzschen Romane als fantastische Texte ein, wobei sie aktuelle Perspektiven auf die Debatte um die Frage nach dem Fantastischen als Gattung oder als Schreibweise gut informiert einbezieht. Dass gerade das Fantastische ob der ihm in der Forschungsliteratur häufig als notwendige Bedingung attestierten Eigenschaft, Angst oder Zögern auszulösen, sich für eine Analyse der Emotionsstrategie anbietet, versteht sich von selbst. Auch die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen unzuverlässigem Erzählen, fantastischem Erzählen und den emotionalen Effekten solcher Erzählweisen erweist sich als fruchtbar und stellt sich in den Dienst einer engagierten Neuevaluierung des häufig allzu leichtfertig als Trivialliteratur abgetanen Werkes von Leo Perutz.

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Ähnlich ist die Ausgangslage in Bezug auf Franz Werfels Opern-Roman, auch dieser wurde bereits von der zeitgenössischen Kritik als Unterhaltungsroman abgetan, eine Einordnung, die die Verfasserin auch in diesem Fall in Frage stellt. Sie verfolgt das Ziel eines »emotionsbezogenen typologischen Vergleichs zwischen Libretto und Roman« (S. 267), ein Unterfangen, das sie durch ein dem Libretto unterstelltes »Primat der Emotionalität« (S. 268) plausibilisiert. Allerdings erscheinen schließlich die Elemente, die als potenziell emotionsauslösend identifiziert werden, nicht unbedingt an eine mögliche Libretto-Struktur des Romans gebunden, die Herstellung eines Zusammenhangs wirkt stellenweise etwas bemüht. Inwiefern beispielsweise eine dichotomische Figurenkonstellation unbedingt mit der Librettostruktur des Romans zu tun hat, erschließt sich nicht vollständig, stört aber die Argumentation letztlich auch nicht wirklich. Wenn aber der Roman abschließend als Anleitung für eine emotionsgeprägte Rezeption von (italienischen) Opern gelesen wird, so erschließt sich auch der zunächst konstruiert erscheinende Zusammenhang zu musikalischen Strukturen am Ende doch noch.

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Abschließend qualifiziert die Verfasserin das von ihr entwickelte Instrumentarium als »sinnvolle Ergänzung« (S. 303) herkömmlicher Analyse- und Interpretationsmethoden und führt eine Reihe von Forschungsdesideraten auf, die sich aus ihrer Untersuchung ergeben, bzw. die durch diese deutlicher hervortreten. Es lässt sich konstatieren, dass sich das in der vorliegenden Arbeit entwickelte Analyseinstrumentarium als durchaus produktiv erweist und die von der Verfasserin immer wieder betonte Anwendbarkeit auch auf andere Gegenstände klar gegeben ist. Einschränkend kann man allenfalls konstatieren, dass die Arbeit letztlich ein wenig hinter ihrem eigenen Anspruch zurückbleibt, bzw. sich die eingangs lobend hervorgehobene Vorsicht der Verfasserin als bremsend erweist, indem sie sich in ihren Beispielanalysen immer wieder auf etablierte Deutungsmuster der jeweiligen Texte zurückzieht, bzw. diesen als dominierendem Grundtenor gegenüber ihrer eigenen Deutung vielleicht etwas zu viel Platz einräumt.