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Ein gelungenes Handbuch zur Fiktionalität

  • Tobias Klauk / Tilmann Köppe (Hg.): Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch. (Revisionen) Berlin, New York: Walter de Gruyter 2014. 540 S. Gebunden. EUR (D) 139,95.
    ISBN: 9783110322606.

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Ein Handbuch sollte zuallererst eine umfassende Übersicht über seinen Gegenstandsbereich bieten und so als Einführung und Nachschlagewerk dienen. Es sollte außerdem die wichtigsten Autoren vorstellen und Argumente für und gegen einzelne Positionen geben. Dies sollte leicht zugänglich sein und darf sich nicht in einzelnen Debatten verlieren. Vielmehr sollten Hinweise und Anregungen gegeben werden, in welche Richtungen eine Vertiefung stattfinden kann und eventuell auch, wo noch Forschungsbedarf besteht. Ein Handbuch darf aber auch den Beitragenden Raum geben, ihrer eigenen Position eine gesonderte Stellung einzuräumen, ohne dabei anderen Positionen gegenüber zu voreingenommen zu sein. All dies gelingt den Herausgebern und Autorinnen und Autoren des Bandes »Fiktionalität. Ein interdisziplinäres Handbuch« größtenteils sehr gut, wie im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden soll.

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›Fiktionalität‹, so stellen die Herausgeber Tobias Klauk und Tilmann Köppe in ihrer übersichtlichen und klaren Einleitung fest, hat das Potential, ein geisteswissenschaftlicher Grundbegriff zu sein. Der Band möchte zu dessen Verständnis beitragen. Dazu wird ein breiter Fächer zugrundeliegender Begriffe und Probleme vorgestellt, die in die folgenden Hauptkapitel eingeordnet sind: »Theoretische Aspekte der Fiktionalität« (Kapitel 2-11), »Psychologie der Fiktionalität« (Kapitel 12-15), »Historische Dimensionen der Fiktionalität« (Kapitel 16-18), »Fiktionalität im disziplinären Kontext« (Kapitel 19 - 22).

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Umfassend ist der Band nicht nur insofern, als zahlreiche systematische Aspekte von Fiktionalität disziplinübergreifend behandelt werden, sondern auch insofern, als die Geschichte der Theorien von Fiktionalität beleuchtet wird, verschiedene Medien berücksichtigt werden und verschiedene Methoden und Ansätze ihren Platz bekommen. So geht es im Hauptkapitel »Historische Dimensionen der Fiktionalität« um Fiktionalität in der Antike, im Mittelalter und in der Neuzeit, Fiktionalitätstheorien werden auf Literatur, bildende Kunst, Film, Computerspiele u.a. angewendet, und die Beiträge »Theoretische Rezeptionspsychologie der Fiktionalität« (Kapitel 13) von Köppe und »Empirische Rezeptionspsychologie der Fiktionalität« (Kapitel 15) von Norbert Groeben/Ursula Christmann stellen zwei unterschiedliche Herangehensweisen an die Rezeption von Fiktion vor. Die Beiträge sind durchgehend gut aufeinander abgestimmt und mit zahlreichen Verweisen aufeinander versehen.

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Viele der Autorinnen und Autoren bieten eine Übersicht über das Thema, die zum Weiterlesen und Vertiefen einlädt. Dabei beschränken sich beispielsweise Klauk in »Fiktionalität in der Philosophie: Fiktionalismus« (Kapitel 21), Köppe in »Fiktive Tatsachen« (Kapitel 8) und Regina Wenninger in »Fiktionalität in Kunst- und Bildwissenschaften« (Kapitel 20) weitgehend darauf, Vor- und Nachteile verschiedener Theorien zu präsentieren, während etwa die Beiträge »Das Paradox der Fiktion« (Kapitel 14) von Ingrid Vendrell Ferran, »Ontologie fiktiver Gegenstände« (Kapitel 7) von Maria Elisabeth Reicher oder »Fiktionen, Wissen und andere kognitive Güter« (Kapitel 9) von Oliver R. Scholz etwas weitergehen und sich bisweilen eher wie Verteidigungen der favorisierten Position bzw. des favorisierten Zugangs zum Thema lesen.

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In der Einleitung bemerken die Herausgeber, dass Kendall Waltons Theorie »zu den wichtigsten und auch einflussreichsten Fiktionalitätstheorien neueren Datums zählt« (S. 8) und sich nicht nur mit zahlreichen Aspekten des Themas befasst und Lösungen zu vielen fiktionalitätstheoretischen Problemen bereitstellt, sondern auch besonders zur interdisziplinären Anwendung geeignet ist. Im Folgenden soll eine Auswahl an Beiträgen vorgestellt werden, die sich zentral oder am Rande mit Waltons Werk befassen.

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Der ausführlichste Beitrag zu Waltons Werk ist »Fiktionen als Make-Believe« (Kapitel 3), in dem J. Alexander Bareis die wichtigsten Aspekte der Theorie des Make-Believe vorstellt: fktionale Wahrheit, die gemäß Walton direkte fiktionale Wahrheiten (primary/direct fictional truths) und indirekte fiktionale Wahrheiten (implicit/indirect fictional truths) umfasst (S. 57), die Unterscheidung zwischen Spielwelten (game world) und Werkwelten (work world) (S. 58), Prinzipien des Generierens fiktionaler Wahrheiten (S.59) und die Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion (S. 61). Dass die Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion unerwartet ausfällt, ist eine Folge der spezifischen Bestimmung von Fiktionalität: »Waltons Make-Believe-Theorie kann als eine funktionelle Theorie der Fiktion charakterisiert werden. Alle Darstellungen (representations) im Sinne Waltons teilen die Eigenschaft, als Requisiten (props) in einem Make-Believe-Spiel (game of make-believe) zu fingieren und dabei Vorstellungen anzuleiten oder vorzuschreiben (prescribe imaginings).« (S. 53) Gemäß dieser Bestimmung ist es möglich, dass auch oder sogar ausschließlich wirklich existierende Personen Requisiten in einem Make-Believe-Spiel sind, und im Prinzip könnten alle Propositionen einer Fiktion wahr sein, solange sie die Funktion haben, in einem Make-Believe-Spiel zu fingieren und dabei Vorstellungen anzuleiten oder vorzuschreiben. Das Gegenteil von Fiktion ist also nicht Wirklichkeit oder Wahrheit. Weiter betont Bareis, dass zur Bestimmung des Fiktiven für Walton weder die Intention des die Fiktion Produzierenden ausschlaggebend ist, noch auf eine institutionelle Praxis verwiesen wird. Außerdem ist Fiktionalität gemäß dem funktionalen Ansatz keine stabile Eigenschaft eines Objekts. All dies widerspricht nicht nur dem traditionellen Verständnis von Fiktion und hat daher Kritik ausgelöst, wie Bareis feststellt (S. 62), es widerspricht auch unserem alltäglichen Verständnis von Fiktionalität.

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Um die in der Literaturwissenschaft gängigen Desiderata einer Theorie der Fiktionalität dennoch zu erfüllen, schlägt Bareis vor, zwischen der Unterscheidung von Fiktion und Nicht-Fiktion und der Entscheidung, ob ein Werk als fiktionales rezipiert wird, klar zu trennen. Das dürfte so zu verstehen sein, dass Waltons Kriterium ausschließlich als notwendig, aber nicht als hinreichend betrachtet werden sollte. Ein Objekt kann demnach fiktional sein, also in einem Make-Believe-Spiel fungieren und die Vorstellungen anleiten, aber es steht uns dennoch frei, zu entscheiden, es nicht als Fiktion zu rezipieren, wenn die gängigen Kriterien nicht zutreffen. Die Entscheidung »(...) für die eine oder andere Rezeptionsweise hängt (...) durchaus mit einer Reihe diachron und soziokulturell wandelbarer Kennzeichnungen (...) zusammen wie beispielsweise Paratext und Markierungen der Produzentenintention.« (S. 64) In anderen Worten: Die Klasse der Fiktion gemäß Walton mag der Literaturwissenschaftlerin zu weit sein, wobei sie dann auf ihre geläufigere Unterscheidungsmerkmale als Einschränkung zurückgreifen kann. Dieser Kompromiss erscheint etwas ad hoc. Erstens ist nicht klar, warum etwas als Fiktion definiert sein sollte, wenn es nicht als solche rezipiert wird. Zweitens bleibt offen, ob die von Bareis vorgeschlagenen Einschränkungen als Grundlage einer hinreichenden Bedingung für Fiktionalität dienen sollen.

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In einem abschließenden Unterkapitel zu strittigen Fragen und Forschungsdesiderata erwähnt Bareis, dass es an ausreichend umfassenden Untersuchungen fehle, welche systematisch Waltons Theorie auf ihre Anwendbarkeit in den Einzeldisziplinen wie etwa der Photographie, dem Theater oder der Musik überprüfen (S. 53).

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Maria Elisabeth Reicher beginnt ihren Beitrag »Ontologie fiktiver Gegenstände« (Kapitel 7) mit der Einführung zweier Arten von Paradoxien, die als Anlass von Überlegungen zur Ontologie fiktiver Gegenstände betrachtet werden können. Die Herausforderung bei der Auflösung der Paradoxien ist es, eine Erklärung dafür zu geben, dass Sätze wie »Pegasus ist ein Flügelpferd« wahr zu sein scheinen. Aus der Einleitung geht allerdings nicht hervor, warum wir mit zwei verschiedenen Arten von Paradoxien konfrontiert werden, zumal angekündigt wird, dass die einzige Auflösung des Paradoxes der zweiten Art, die sich von den möglichen Auflösungen des Paradoxes der ersten Art zu unterscheiden scheint, nicht diskutiert wird (S. 163). Der Einstieg in den Text ist dadurch unnötig schwierig, zumindest im Vergleich zu anderen Beiträgen.

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Bezüglich der Auflösung der Paradoxien gibt es zwei grundsätzliche Positionen: realistische Theorien fiktiver Gegenstände, gemäß welchen Sätze wie »Pegasus ist ein Flügelpferd« wahr erscheinen, weil sie tatsächlich wahr sind, und antirealistische Theorien fiktiver Gegenstände, die eine andere Erklärung dafür geben, dass uns solche Sätze wahr erscheinen. Reicher stellt verschiedene Ausprägungen beider Grundpositionen sowie Kritik an ihnen vor.

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Waltons Make-Believe Theorie (oder wie hier übersetzt: Waltons So-Tun-als-ob-Theorie) stellt eine Möglichkeit dar, die Paradoxien antirealistisch aufzulösen: Im Rahmen des Make-Believe-Spiels und nur in diesem Rahmen sind Sprecher auf die Existenz jener Gegenstände, auf die sie vorgeblich referieren, festgelegt. In ihrer Kritik dieses Ansatzes ist Reicher meines Erachtens etwas zu eilig (S. 167-168). Wie üblich wird zwischen fiktionalen Äußerungen, die den fiktionalen Text ausmachen, und Äußerungen über Fiktionen unterschieden. Bei den letztgenannten muss weiter unterschieden werden zwischen internen und externen Sätzen über fiktive Gegenstände. Interne Sätze über fiktive Gegenstände schreiben zum Beispiel fiktiven Gegenständen Eigenschaften zu, wie etwa »Pegasus ist ein Flügelpferd«. Externe Sätze sind hingegen Zuschreibungen von Eigenschaften, welche die fiktiven Gegenstände nicht aufgrund fiktionsinterner Gegebenheiten haben, so etwa »Pegasus ist eine fiktive Figur«. Reicher stellt dem So-Tun-als-ob die Ernsthaftigkeit von Aussagen gegenüber und behauptet: »Besonders für die externen Sätze über fiktive Gegenstände entbehrt die Theorie des So-Tuns-als-ob jeglicher Plausibilität, da es sich hierbei um ernsthafte Behauptungen handelt.« (S. 168)

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So einfach lässt sich der Antirealist jedoch nicht abschütteln, und die Diskussion zum Antirealismus des So-Tun-als-obs ist hier stark abgekürzt. Erst einmal müsste zum Verständnis von Waltons Lösung erwähnt werden, dass Walton keinen Kontrast zwischen »real« und »nicht-real« aufwirft: ein Spiel zu spielen bedeutet nicht notwendig, dass wir es nur mit Nicht-Realem zu tun haben. Unbeachtet bleibt außerdem Waltons Unterscheidung zwischen autorisierten und nicht autorisierten (oder offiziellen und nicht offiziellen) Spielen, die dabei hilft, externe Sätze über Fiktion zu erklären. Autorisierte Spiele sind genau diejenigen, die von der Fiktion vorgegeben sind. Bei dem externen Satz »Pegasus ist eine fiktive Figur« handelt es sich nun um einen Satz, der wahr ist relativ zu einem nicht autorisierten Spiel, in welchem manche Figuren als reale und andere als fiktive Gegenstände gelten. In diesem nicht autorisierten Spiel wird Pegasus korrekt als fiktive Figur bezeichnet. Reicher mag nun erwidern, der Einwand sei, dass es sich intuitiv eben gerade nicht um ein Spiel handelt, sondern um einen ernsthaften Satz. Allerdings ist es intuitiv durchaus plausibel zu sagen, dass wir uns auch in externen Sätzen über fiktive Gegenstände auf ein Spiel einlassen, in welchem diese Gegenstände eine Rolle spielen.

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Im letzten Abschnitt verteidigt Reicher ausführlich einen Ansatz, gemäß dem fiktive Gegenstände kontingente Abstrakta sind, die von den Autoren der Fiktion geschaffen werden. Um die Paradoxien aufzulösen, wird zwischen zwei Typen von Prädikaten unterschieden, internen und externen, die terminologisch folgendermaßen festgelegt sind: »Pegasus ist also eine Figur aus der griechischen Mythologie, ein fiktiver Gegenstand, ein abstrakter Gegenstand etc.; zugleich ist Pegasus bestimmtals ein geflügeltes Pferd, das an der Quelle der Peirene getrunken hat, das von Bellerophon geritten wurde etc.« (S. 181-182) Aus dieser Unterscheidung folgt: »Es ist also wörtlich genommen falsch, dass Pegasus ein Flügelpferd ist (...) etc. Wahr ist vielmehr, dass Pegasus bestimmt ist als ein Flügelpferd (...)« (S. 182) Gemäß dieser Lösung gibt es zwar nichts, was ein Flügelpferd ist, aber es gibt etwas, das als ein Flügelpferd bestimmt ist. Da dies kein Widerspruch ist, ist die Paradoxie aufgelöst.

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Köppes Beitrag »Fiktive Tatsachen« (Kapitel 8) bietet eine ausgezeichnete Übersicht über Theorien, die sich mit der Frage beschäftigen, genau welche fiktiven Tatsachen in der fiktiven Welt eines Werkes bestehen. Wichtig ist zu unterschieden zwischen expliziten fiktionalen Wahrheiten und impliziten fiktionalen Wahrheiten, die nicht im Text des fiktionalen Werkes zu finden sind. Auch in diesem Zusammenhang werden Aspekte von Waltons Theorie dargestellt: »Die Frage nach (expliziten und impliziten) fiktionalen Wahrheiten ist daher in Waltons Theorie die Frage danach, welche Vorstellungen ein Kunstwerk vorschreibt.« (S. 193) Da die Weisen, in welchen Kunstwerke Vorstellungsregeln aufstellen können, zu verschieden sind, gibt es nach Walton allerdings kein einheitliches Prinzip, fiktionale Wahrheiten zu identifizieren.

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Im Anschluss diskutiert Köppe Vorschläge zur Bestimmung fiktiver Wahrheiten von David Lewis, Gregory Currie und Jan Stühring. »Lewis’ Grundidee ist, dass sich die von fiktionalen Geschichten identifizierten ›Welten‹ als Mengen von möglichen Welten verstehen lassen: jene Welten nämlich, in denen die Ereignisse der Geschichte stattfinden.« (S. 194) In der Diskussion der Vorschläge, die Lewis vor dem Hintergrund seiner Theorie der möglichen Welten zur Bestimmung von fiktionalen Wahrheiten macht, schenkt Köppe zwei Prinzipien der Generierung impliziter fiktiver Wahrheiten besondere Aufmerksamkeit: dem Reality Principle, dem gemäß in fiktiven Welten dieselben Implikationsverhältnisse gelten wie in der Wirklichkeit, und dem Mutual Belief Principle, dem gemäß in einer fiktiven Welt gilt, was zur Entstehungszeit der Geschichte allgemein angenommen wurde. Curries Idee des »fiktiven Autors« zufolge sollen wir uns beim Lesen vorstellen, eine nicht fiktionale Geschichte erzählt zu bekommen. Fiktional wahr ist dann, was dem Überzeugungssystem des fiktiven Autors entspricht. Die Frage ist allerdings, ob ein solcher fiktiver Autor unserer Erfahrung beim Lesen und Interpretieren entspricht: Interpretieren wir tatsächlich das Überzeugungssystem eines fiktionalen Autors, wenn wir einen fiktionalen Text interpretieren? Gemäß Stühring sollte fiktionale Wahrheit über die beste Interpretation eines fiktionalen Textes bestimmt werden. Da allerdings nicht gegeben ist, dass es für jede Fiktion eine beste Interpretation gibt, schlägt Stühring vor, dass es für die fiktionale Wahrheit eines Satzes hinreichend ist, wenn der Satz gemäß allen möglichen optimalen Interpretationen wahr ist.

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In einem abschließenden Abschnitt fasst Köppe Konsens, Kontroversen und Konsequenzen in Bezug auf die vorgestellten Theorien zusammen. Etwas überflüssig ist die Bemerkung, dass die Beantwortung der Frage nach der Definition von fiktionaler Wahrheit noch keine Antwort auf die Frage gibt, was im konkreten Fall fiktional wahr ist. Dies ist für jede Definition eines theoretischen Gegenstands oder Phänomens der Fall, da die Anwendung von Kriterien immer streitbar ist.

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Regina Wenningers Beitrag »Fiktionalität in Kunst- und Bildwissenschaften« (Kapitel 20) beschäftigt sich im ersten Teil wesentlich mit einer Einführung in Aspekte von Waltons Theorie. Diese Einführung ist auch dann nicht redundant, wenn man den Beitrag »Fiktionen als Make-Believe« (Kapitel 3) gelesen hat. Wie bereits Bareis thematisiert auch Wenninger einige kontraintuitive Konsequenzen der Waltonschen Theorie und hebt dabei hervor, dass sich Waltons Ansatz bereits auf einer grundlegenden Ebene von anderen unterscheidet: »Am deutlichsten werden diese Besonderheiten anhand dessen, was Walton ablehnt: Neben der allgemeinen Fokussierung des Fiktionalitätsdiskurses auf Sprache und literarische Fiktion sind dies vor allem die gängige Auffassung des Fiktionalen als Gegenpol zum Realen oder Faktischen sowie die Beschränkung des Begriffs der Repräsentation bzw. Fiktion auf gegenständliche Kunst.« (S. 470). Während andere den Fiktionalitätsbegriff auf den Gegenstand der Darstellung anwenden, also etwa auf ein Einhorn, so wendet Walton ihn auch auf das Medium der Darstellung an, also etwa auf das Bild. Wenninger bemerkt, dass sich für Waltons Anwendung des Fiktionsbegriffs auf nicht-fiktive Inhalte durchaus intuitiv plausible Gründe finden lassen: »Für die Anwendung auch auf Darstellungen realer Gegenstände spricht etwa die grundsätzliche Vermitteltheit von Darstellungen. In diesem Sinne trüge Waltons These schlicht dem Gemeinplatz Rechnung, dass keine noch so wirklichkeitsgetreue Repräsentation, keine noch so große Ähnlichkeit die abgebildete Realität selbst buchstäblich wiederholen kann, und auch eine Dokumentarfotografie immer nur ein (ausschnitthaftes, geformtes) Bild der Wirklichkeit liefert.« (S. 473) Angesichts des weiten Begriffs von Fiktion und Repräsentation fragt Wenninger, ob Walton vielleicht eher ein Kriterium für Kunst als eine Theorie der Fiktionalität liefert. Sie verneint diese Frage allerdings, da Walton selbst der Auffassung zu sein scheint, dass seine Kriterien der Fiktion weder eine notwendige Bedingung von Kunst darstellen noch eine vollständige Charakterisierung eines Kunstwerks liefern.

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Im zweiten Teil des Beitrags diskutiert Wenninger verschiedene konkrete Erscheinungsformen, Funktionen und Aspekte des Fiktiven in der bildenden Kunst, so etwa verschiedene Spielarten von Fiktion als Mimesis. Der letzte Abschnitt ist dem Phänomen der ›Beseelung‹ oder ›Verlebendigung‹ von Kunstwerken gewidmet, das die folgende Frage aufwirft: Wie ist zu erklären, dass uns Kunstwerke manchmal als belebt erscheinen, obwohl wir wissen, dass es sich um unbelebte Objekte handelt? Wenninger bemerkt, dass Waltons Ansatz in diesem Zusammenhang noch nicht diskutiert wurde, obwohl eine Anwendung auf das genannte Phänomen diese Theorie als besonders relevant und plausibel erscheinen lässt: »Wenn sich Waltons Vorschlag etwas abgewinnen lässt, unseren Umgang mit Kunstwerken in Analogie zu Kinderspielen zu verstehen, in denen Baumstümpfe als Bären imaginiert und Puppen zu Wesen aus Fleisch und Blut werden, dann vielleicht gerade hier.« (S. 490)

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Interdisziplinarität sollte im Idealfall Disziplinen überschreiten, indem verschiedene Disziplinen an ein und demselben Thema mit unterschiedlichen (oder auch den gleichen) Methoden arbeiten und indem sie sich nicht scheuen, sich der Theorien und Errungenschaften anderer Disziplinen zu bedienen. Eine besondere Herausforderung ist es dabei, die jeweils gebräuchlichen Terminologien miteinander zu verknüpfen und einander anzupassen. Ein Abschnitt der Einleitung ist terminologischen Festlegungen gewidmet. Ein gutes Beispiel für diese integrative Aufgabe findet sich aber auch in Köppes Beitrag zur fiktiven Tatsachen: »Die Übertragung der philosophischen Terminologie auf fiktive Welten ist intuitiv einleuchtend: Was in einer fiktiven Welt der Fall ist, ist (in der fiktiven Welt) wirklich der Fall, also eine Tatsache in der fiktiven Welt; man kann sich über die Konturen fiktiver Welten mit wahren oder falschen Sätzen äußern; und nicht jeder denkbare fiktive Sachverhalt besteht (in der fiktiven Welt) tatsächlich (...) Literaturwissenschaftler sprechen meist nicht von ›fiktiven Tatsachen‹ sondern etwa von den Konturen der einer fiktionalen Erzählung zugrunde liegenden Geschichte, von der Handlungsebene einer fiktionalen Geschichte oder vom Geschehen in der Erzählwelt. Gemeint ist aber dasselbe.“ (S. 190)

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Im größten Teil des Bandes gelingt die Integration verschiedener Disziplinen sehr gut, so etwa in der Vorstellung und Diskussion von Waltons Werk, an der sich die Literaturwissenschaften, die Philosophie und die Kunst- und Bildwissenschaften mit unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkten beteiligen. Dass fiktionale Medien und ihre Verarbeitung auch für unterschiedliche Teilbereiche der Psychologie wichtig sind, zeigen die Beiträge von Rüdiger Zymner (»Evolutionäre Psychologie der Fiktionalität«, Kapitel 12) und von Norbert Groeben und Ursula Christmann (»Empirische Rezeptionspsychologie der Fiktionalität«, Kapitel 15). Zymner fasst neuere Forschungen zur Frage der evolutionären Entwicklung jener kognitiven Fähigkeiten zusammen, die für die Produktion und Rezeption fiktionaler Medien wichtig sind. Deutlich wird dabei auch, dass diese Forschungen grundlegende Entwicklungs- und Funktionshypothesen zum menschlichen Geist aufstellen, deren Anspruch und Reichweite über den engeren Bereich der Kunstproduktion und -rezeption weit hinausgehen. Im Unterschied dazu konzentrieren sich Groeben und Christmann auf einen Überblick über empirische Forschungen zur Rezeption fiktionaler Literatur. Diskutiert werden u.a. der Erwerb des ›Fiktionsbewusstseins‹, die Unterscheidung von ›Realität‹ und ›Fiktion‹ und der Erwerb von Überzeugungen anhand fiktionaler Medien.

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Aufgrund der Orientierung an Themen statt Disziplinen und der Vielfalt an Methoden, die vorgestellt werden, kann der Band als »interdisziplinär« im besten Sinne des Wortes bezeichnet werden. Ein wenig schade ist daher, dass das letzte Hauptkapitel »Fiktionalität im disziplinären Kontext« übertitelt ist. Der Rückzug in die Disziplinen mutet wie ein Rückschritt an. Vorstellbar wäre, dass unter diesem Titel die Geschichte des Themas Fiktionalität in einzelnen Disziplinen behandelt wird oder die für die Disziplinen charakteristischen Methoden in Bezug auf das Thema diskutiert werden. Dies ist aber nicht der Fall. In den Kapiteln »Fiktionalität in Film- und Medienwissenschaft« (Kapitel 19) von Jan-Noel Thon und »Fiktionalität in Kunst- und Bildwissenschaften« (Kapitel 20) von Regina Wenninger geht es nicht um eine Disziplin, sondern es werden vielmehr vornehmlich philosophische Theorien der Fiktionalität in Bezug auf ihre Anwendbarkeit auf Spielfilme, Graphic Novels und Computerspiele bzw. auf Kunst und Bild geprüft. Ebenso wie die genannten beiden Kapitel hätte auch Klauks Beitrag »Fiktionalität in der Philosophie: Fiktionalismus« (Kapitel 21) gut unter »Theoretische Aspekte der Fiktionalität« eingeordnet werden können. Es geht, wie Klauk selbst bemerkt, um eines von vielen philosophischen Problemen, die mit Fiktion verbunden sind oder von fiktionalen Kontexten aufgeworfen werden. Klauk legt dar, dass Fiktionalismus eine Theorie ist, welche unser alltägliches Sprechen etwa über moralische Eigenschaften als Teil einer Fiktion erklärt. Dies ermöglicht es uns, dass wir uns nicht auf die Existenz dieser Eigenschaften und Gegenstände festlegen müssen. Der letzte Beitrag des Bandes, »Fiktionalität in den Geschichtswissenschaften« (Kapitel 22) von Stefan Haas, scheint als einziger zu Recht unter dem Kapitel der Disziplinen eingeordnet zu sein. Hier geht es um die Frage, ob Geschichtswissenschaft Texte generiert, die wesentlich auch fiktionale Elemente enthalten.

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Wer eine Einführung in das vielseitige Thema »Fiktionalität« oder Anregung zur Vertiefung einzelner Aspekte sucht, ist mit dem vorliegenden Band bestens bedient.