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Gegenstand und Interesse

  • Julia Schöll: Interessiertes Wohlgefallen. Ethik und Ästhetik um 1800. Paderborn: Wilhelm Fink 2015. 412 S.
    ISBN: 978-3-7705-5390-7.
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Welche Innovation ist es eigentlich, die um 1800 zu einer Blüte der deutschen Literatur und Philosophie führt? Eine mögliche Antwort wäre die Geburt der Autonomieästhetik, was in diesem Fall heißt: Der Wert eines Kunstwerks bemisst sich nicht mehr nach ihm äußerlichen Regeln, seien sie formaler Natur, seien sie mit ethisch kodierten Inhalten verknüpft. Vielmehr gibt sich jedes Kunstwerk demnach die eigenen Regeln und sei auch nur nach diesen zu beurteilen. Damit werden Fragen nach den ethischen Aspekten, den moralischen Implikationen eines Textes abgekoppelt von denen danach, wie sehr er als Kunstwerk gelungen ist. Der wichtigste Denker in dieser Hinsicht war Immanuel Kant, der forderte, bei der Betrachtung des Schönen solle stets das »interesselose Wohlgefallen« des Betrachters wirksam bleiben. Die damaligen Auffassungen der Autonomieästhetik sind aber kein rein historisches Phänomen, sondern bleiben bis heute präsent. Sie sind beispielsweise noch immer wirksam, wenn Kritiker Künstlern vorwerfen, die Zurschaustellung ihrer ethischen Überzeugungen ginge zu Lasten der künstlerischen Qualität (man denke an Ulrich Greiners wirkungsmächtiges Wort von der »Gesinnungsästhetik«), oder wenn Kritiker derartige Auffassungen wiederum als den irrigen Qualitätsmaßstab anderer Kritiker ausmachen. Die Beurteilung eines Kunstwerks nach ethischen Kriterien stellt demnach die unzulässige Vermischung zweier Ebenen dar; subjektives Interesse am Text und »Gesinnungsästhetik« werden implizit oder explizit in eines gesetzt. Niklas Luhmann liefert die entsprechende philosophische Rechtfertigung: »Kunstwerke haben keinen externen Nutzen; und wenn sie einen solchen Nutzen haben, zeichnet sie das gerade nicht als Werke der Kunst aus.« Die Frage ist jedoch, wie es möglich sein kann, Kunstwerke ohne jedes subjektives Interesse zu beobachten. Sollen vielleicht nur bestimmte Interessen ausgeschaltet und dafür andere sogar motiviert werden?

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Dies ist der Punkt, an dem Julia Schölls Bamberger Habilitationsschrift Interessiertes Wohlgefallen: Ethik und Ästhetik um 1800 ansetzt. Die Betrachtung des Kunstwerkes, so Schöll mit Luhmann, verfolge tatsächlich ein Ziel: »Das Subjekt wird in der ästhetischen Erfahrung zum Beobachter seiner selbst« und das »Interesse an der Interesselosigkeit des Ästhetischen wird um 1800 vornehmlich moralisch kodiert« (S. 14). Damals, so Schöll weiter, komme es simultan zu einer moralischen und einer ästhetischen Revolution: Zum einen denke man das einzelne Subjekt erstmals als unabhängig von den Werten und Herrschaftsansprüchen von Kirche und Absolutismus, zum anderen werden »das Schöne und die Kunst zu grundlegenden Modi der menschlichen Welterkenntnis erklärt; im Zuge dieser Revolution erlangt die Ästhetik den Status akademischer Theoriefähigkeit« (S. 15). Die Betrachtung von Kunstwerken wird damit zu einem, wenn nicht dem Königsweg der Subjektkonstitution. Um dieses Ziel erreichen zu können, muss die Kunstbetrachtung einerseits freigehalten werden von Kriterien, die sich unmittelbar auf eine moralische Beurteilung des Kunstwerks selbst beziehen. Andererseits kann die Betrachtung des Kunstwerkes ihren eigentlichen Zweck nur erreichen, wenn sie nicht rein instrumentell ist, sondern sich wirklich auf die Erkenntnis von dessen Wesen richtet. Insofern ist die Betrachtung eines Kunstwerkes bis zu einem gewissen Grad immer durch das Interesse des Betrachters geprägt. Ethik und Ästhetik sind also gerade nicht voneinander getrennt, sondern sind vielfach aufeinander bezogen, auch wenn dies nicht immer explizit thematisiert wird.

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Schölls Studie widmet sich nun der Omnipräsenz dieses »Metadiskurs[es]« (S. 29), indem sie nicht weniger als sechzehn einschlägige Texte aus vier thematischen Bereichen im close reading-Verfahren untersucht, nämlich je vier aus der theoretischen Programmatik sowie zu Liebe, Religion und Sittlichkeit. Mit wenigen Ausnahmen stammen sie aus den Jahren zwischen 1790 und 1810, wobei Schöll allerdings nur bedingt chronologisch verfährt, denn es geht ihr um die Skizzierung eines Diskursfeldes, nicht um zeitliche Abfolgen. Neben kanonischen Texten von Kant, Schiller und Goethe stehen auch entlegenere, so etwa die Vorlesungen zur Kunstlehre (1801/02) August Wilhelm Schlegels, der Roman Agnes von Lilien (1796/97) von Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen oder der Essay Über die Moden (1792) von Christian Garve. Auch die Grenzen zwischen literarischen, philosophischen und anthropologischen Texten sind durchlässig gehalten. Hier argumentiert Schöll mit der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum, dass literarische Texte eine bestimmte Art moralischer Aussagen über die Welt treffen können, zu denen die traditionelle Philosophie nicht fähig sei. Zudem träfen sich beide in der »Frage nach dem ›guten Leben‹« (S. 22), d.h. dem wahren, ethisch vertretbaren. Man könnte natürlich auch einfacher damit argumentieren, dass es um 1800 zu Akten einer intensiven wechselseitigen Rezeption kommt und viele Autoren der Zeit, zumal die Jenaer Frühromantiker, die Grenzen zwischen Poesie und Philosophie bewusst vermischen (S. 30).

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Das Ergebnis sind sechzehn einzelne Analysen im close reading-Modus, die sehr genau die Argumentation der einzelnen Texte herausarbeiten. Dabei ist Schölls Vorgehen diskursanalytisch inspiriert, insofern sie nicht rekonstruieren will, was die Texte »wirklich« bedeuten, sondern einfach ihre Aussagen rekonstruiert; dabei will sie besonderen Wert auf die »Vernetzungsstrukturen« (S. 30), die aus den einzelnen Texten ein Geflecht machen, legen. Das allerdings löst Schöll nur bedingt ein: Obwohl sie gelegentlich Querverbindungen aufzeigt, betrachtet sie jeden Gegenstand primär doch für sich. Das Ergebnis ist ein diskursives Feld, dessen einzelne Knotenpunkte die Texte ausmachen, welche durch Schölls Auswahl wiederum zu thematischen Clustern gruppiert werden. Die Einzelanalysen sind skrupulös und mit großer Expertise ausgeführt, und in ihnen liegt die große Stärke von Schölls Arbeit.

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Stellvertretend sei das erste Großkapitel näher betrachtet. Hier untersucht Schöll Texte zur theoretischen Programmatik. Ausgangspunkt ist naheliegender Weise Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft, die in erster Fassung 1790 erscheint. Kant gehe es darum, einerseits das ästhetische Urteil zu subjektivieren und von einer empirischen Begründung zu lösen, es aber zugleich auf eine verbindliche Grundlage zu stellen, welche Kant in einem a priori existenten ästhetischen Ideal finde (S. 41). »Interesselos« soll das Wohlgefallen am Schönen sein, damit es als freies Wohlgefallen erscheinen könne. Damit stehe es im Kontrast zum Wohlgefallen am Angenehmen und Guten (S. 39), das ja im direkten Interesse des Subjekts liegt. Die Pointe ist aber, dass dieses freie Wohlgefallen sehr wohl im Interesse des Subjekts liegt, insofern der ästhetische Erkenntnisprozess indirekt der Selbstbeobachtung und Selbstvervollkommnung des Subjektes dient. Das Kunstwerk selbst bleibt dabei allerdings letztlich Mittel zum Zweck. Das erkennen Friedrich Schiller, August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schelling sehr gut, deren Texte Schöll im weiteren Verlauf dieses Großkapitels analysiert. Die Autorin zeigt, wie Schiller in seinen ›Kallias‹-Briefen zwar aus einem anderen Impetus handelt. Ihm geht es um die Konsequenzen aus Kants Überlegungen für die künstlerische Praxis des Schriftstellers; mit dem Versuch, der subjektiven Begründung des ästhetischen Urteils eine objektive entgegenzusetzen, scheitere Schiller allerdings. Im Gegensatz zu Schiller, der sich auf die Dichtung konzentriere, versuche Schlegel dann eine Kunstlehre zu schaffen, die sämtliche Kunstformen berücksichtige. Damit leiste er einen »wesentlichen Beitrag zur Systematisierung, Historisierung und Anthropologisierung der modernen Ästhetik« (S. 89) und behaupte erstmals die Gleichrangigkeit von Ethik und Ästhetik; zudem zeige er, dass auch die Moral den Menschen zum Medium der Ästhetik führen könne (S. 94). Schellings Philosophie der Kunst schließlich sei der »bis dato einmalige Versuch, Kunst und Philosophie nicht nacheinander, miteinander oder parallel zu betreiben, sondern sie tatsächlich als identisch zu verstehen« (S. 116).

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Als Sammlung thematischer Einzelstudien ist Schölls Buch unbedingt lesenswert, zumal sie den oft allzu engen Blick der Philologie erweitert, welche die Literatur einer Epoche nur anhand einer schmalen Auswahl weniger »Kerntexte« verstehen will, auch wenn diese Erweiterung natürlich meilenweit von den Makroanalysen der Digital Humanities entfernt ist, für die Franco Moretti den halb ironischen Begriff des »Distant Reading« geprägt hat. Dennoch ist Schölls unorthodoxe Textauswahl zu begrüßen. Gerade ihre inspirierenden Ausführungen zu Wolzogens Roman, A.W. Schlegels Vorlesungen und Friedrich Schellings Philosophie der Kunst (1802/03) lassen auf weitere Studien zu diesen Texten hoffen. Schölls Entscheidung für eine offene, clusterartige Struktur ihres Buches hat aber auch ihre problematischen Seiten. So werden die Ergebnisse der einzelnen Sektionen nicht gebündelt; statt übergreifender Entwicklungslinien, die es doch auch in diesem kurzen Zeitabschnitt von zwanzig Jahren gegeben haben muss, werden die Leser mit einer Fülle von Einzelbeobachtungen zurückgelassen; die eben angeführte Paraphrase des ersten Großkapitels ist insofern leicht verfälschend, als sie den Dialog der analysierten Gedanken betont, wo Schöll vor allem die inneren Mechanismen des einzelnen Textes ausstellt.

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Der Notwendigkeit zum Überblick, zur Zusammenfassung wird auch das allzu knappe »Resümee« (S. 365–371) nicht gerecht. Damit wird die Einleitung des Bandes, die doch der thematischen Exposition dienen soll, de facto auch gleich zu seiner Zusammenfassung, die in dieser Funktion jedoch am falschen Platz steht. Schöll hat zudem zwar recht damit, dass die Verkettung von Ethik und Ästhetik, wie sie sie hier für die Zeit um 1800 beschreibt, grundlegend für die Formation des modernen Subjektes ist. Statt aber diese Zusammenhänge genauer zu beschreiben, arbeitet der Text immer wieder mit anachronistischen Verweisen auf Theoretiker des ausgehenden 20. und des frühen 21. Jahrhunderts. Weshalb Foucault und Rorty, Derrida und Luhmann, Martha Nussbaum und Jacques Rançiere dabei im Einzelnen aufgerufen werden, ist nicht immer einsichtig. Damit soll sehr wahrscheinlich auf die Relevanz des Verhandelten auch für die Gegenwart hingewiesen werden, ohne dass freilich genau erklärt wird, worin genau die Parallelen zwischen damaligem und heutigem Denken bestehen, oder wie heutige Ansätze beim Verständnis der früheren hilfreich sein können. Zumindest in Form eines etwas längeren Schlusskapitels von zwanzig oder dreißig Seiten hätte man zu dieser Beziehung gern Genaueres gelesen. Trotz dieser Kritikpunkte gilt aber: Insgesamt ist Julia Schölls Buch eine lesenswerte Studie, an der nicht vorbeigehen sollte, wer sich mit ethischen und ästhetischen Diskursen der Sattelzeit beschäftigt.