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Einführung in den germanistischen Umgang mit Gedichten - chronologisch

  • Dieter Burdorf: Geschichte der deutsche Lyrik. Einführung und Interpretationen. Mit 11 Abbildungen. (Lehrbuch J.B. Metzler) Stuttgart: J. B. Metzler 2015. 170 S. 11 Abb. Paperback. EUR (D) 24,95.
    ISBN: 978-3-476-02619-4.
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Dieter Burdorf verspricht in der Einleitung seines Buches keine neue Geschichte der deutschsprachigen Lyrik, sondern eine »neuartige Darstellung der Geschichte der deutschsprachigen Lyrik« (S. VII). Sein Buch beansprucht also nicht, die Vergangenheit im Hinblick auf einen bestimmten Gegenstand (›die Lyrik‹) neu – und etwa unter dem Einfluss neuer Quellen besser, vollständiger oder auch nur anders als ältere literaturgeschichtliche Darstellungen – zu rekonstruieren. Es greift weder bei den Strategien der Erzeugung historischen Wissens an noch bei den Strategien der kollektiven Erinnerung, sondern bei der ästhetischen Dimension literaturgeschichtlichen Denkens, also bei der Poetik und der Rhetorik historiographischer Repräsentation, die Burdorf vollkommen in den Dienst der literaturwissenschaftlichen Didaktik stellt. Burdorf folgt im Hinblick auf die Gegenstandskonstituierung den Vorschlägen, die er in seiner Einführung in die Gedichtanalyse (jetzt in der 3. Aufl. 2015) als ›Minimaldefinition‹ unterbreitet, und betrachtet insbesondere alle mündlichen oder schriftlichen Verstexte, die nicht auf eine szenische Aufführung hin angelegt sind, als Gedichte und alle Gedichte als Lyrik.

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Das Neuartige seiner Darstellung sieht er darin, dass es sich 1) um eine kurze, im Sinne von wenig umfangreiche Geschichte handele, dass sie 2) ungeachtet aller Kürze ihre »Leserinnen und Leser mit allen nötigen Informationen für die fundierte Beschäftigung mit Lyrik aus den letzten 500 Jahren zu versorgen« versuche »und ihnen zugleich soviel Hinweise zum Weiterlesen« wie möglich gebe (ebd.), dass 3) die neuartige Darstellung außerdem in besonderen Abschnitten »Zur Vertiefung« auf besondere Aspekte des jeweiligen Themas oder auch auf die aktuelle Forschungsdebatte aufmerksam mache, dass 4) die Darstellung durch Interpretationsbeispiele »veranschaulicht« (tatsächlich so S. VII) werde und viele verschiedene Gedichte ausgewählt wurden, um Einzelaspekte aufzuzeigen oder zu interpretieren, und schließlich 5) dass die Darstellung versuche, Wege aufzuzeigen, sich durch Verständnisschwierigkeiten, die sich beim Lesen älterer wie neuerer Lyrik ergeben mögen, nicht abschrecken zu lassen, sondern diese Schwierigkeiten »zum Ausgangspunkt des eigenen Verstehens und Interpretierens zu machen« (S. VIII).

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Dabei bietet das Buch allerdings weniger eine Geschichte der deutschen Lyrik als eine chronologisch und nach eingeführten germanistischen Literaturepochen geordnete Einführung in den literaturwissenschaftlichen Umgang mit deutschsprachigen Gedichten, die aus der Zeit zwischen ca. 1500 und der Gegenwart stammen. So versucht das erste Kapitel Antworten auf die Frage zu geben: »Wie lese ich Lyrik der Reformationszeit und des Humanismus (1500–1620)?« Das zweite Kapitel stellt sich der Frage »Wie lese ich Lyrik der Barockzeit (1620–1720)?« Es folgt ein Kapitel zu der Frage »Wie lese ich Lyrik der Aufklärung, der Anakreontik und der Empfindsamkeit (1720–1770)?«, sodann eines über die Frage »Wie lese ich Lyrik der Restaurationszeit, des Realismus und des Naturalismus (1830–1890)?«, ein weiteres über »Wie lese ich Lyrik des 20. Jahrhunderts (1890–1990)?« und ein letztes über »Wie lese ich Gedichte der Gegenwart (seit 1990)?«

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Dieses ›Ich‹, das in allen Titelfragen des Buches auftaucht, ist natürlich nicht Burdorf selbst, sondern gemeint ist jeweils ein weitgehend literatur- und kulturgeschichtlich uninformierter und literaturwissenschaftlich noch vollkommen unversierter Leser bzw. eine ebensolche Leserin von deutschsprachigen Gedichten. Ihnen soll nicht etwa überhaupt das Lesen von Gedichten als ›entzifferndes‹ Abtasten einer Schriftbildfläche mit den Augen beigebracht oder tatsächlich erklärt werden, wie sie Gedichte lesen, sondern sie sollen in Umgangsformen mit Gedichten eingeführt werden, wie sie für die akademische Disziplin Neuere deutsche Literaturgeschichte typisch, vielleicht als state of the art auch nur erwünscht sind: »Wie lese ich…« ist jeweils zu verstehen als Frage nach den wissenschaftlichen Vorgehensweisen, mit denen Germanisten ein deutschsprachiges Gedicht ›in den Griff‹ bekommen können.

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Burdorfs Einführung ist ebenso kenntnis- wie informationsreich, wenn auch in ihrem Bemühen um größtmögliche Einfachheit im Ton manchmal etwas betulich (»Der Meistersang mit seinem handwerklichen Verständnis von Dichtung und Dichtergestalten wie dem bieder-melancholischen Schustermeister Hans Sachs scheinen uns heute ganz fern zu sein«; S. 9 – hier möchte ich auch als Leser lieber keiner von uns sein) und manchmal sogar zu lax (»›Parallelismus membrorum‹ (die Aneinanderreihung von Sätzen und Satzteilen ähnlichen Inhalts)«, S. 11 – nein, das versteht man eigentlich nicht unter einem Parallelismus membrorum). Insgesamt aber bietet Burdorf eine solide, literaturgeschichtlich orientierende Einführung in den akademischen Umgang mit deutschsprachigen Gedichten, die ohne Frage (und zumal in Verbindung mit Burdorfs Einführung in die Gedichtanalyse) ihren Weg in die germanistischen Einführungsseminare finden wird.