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Deutsche Autoren um 1800 als Beiträger zum nationalen Diskurs

  • Hannes Höfer: Deutscher Universalismus. Zur mythologischen Konstruktion des Nationalen in der Literatur um 1800. (Jenaer Germanistische Forschungen Neue Folge 37) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2015. 216 S. Gebunden.
    ISBN: 978-3-8253-6517-2.
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Hannes Höfer leistet mit seiner Analyse der mythologisierenden Tendenzen in der romantischen Literatur Deutschlands einen wichtigen Beitrag zur Klärung der komplizierten ideengeschichtlichen Verkreuzungen von ästhetischen, politischen, edukatorischen, geschichtsphilosophischen und religiösen Diskursen. Höfer setzt nicht gleich mit dem Jahr 1800 ein, sondern beginnt mit Herders mythologisierenden Konstruktionen, die in der nächsten Generation aufgegriffen und variiert wurden. Ob aber bei Herder oder den Vertretern der romantischen Generation: in beiden Fällen werden mythologisierende Entwürfe über eine künftige deutsche Nation und ihre postulierte Ausstrahlung vor allem in Abgrenzung von Frankreich geschrieben. Herder erkennt in der Französischen Revolution eine Fehlentwicklung mit europaweiter Wirkung, und vergleichbar grenzen sich die deutschen Romantiker vom imperialen Konzept Napoleons ab. Kontinentalen und tendenziell universalen Anspruch erhoben auch die Revolutionäre in Paris mit ihren menschheitsbeglückenden Thesen, und Napoleon war in seinem Ehrgeiz ebenfalls auf die Eroberung des Kontinents aus, was ihm die Durchsetzung globaler Ziele ermöglicht hätte.

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Höfer arbeitet genau und detailreich die nationalen, auf Menschheitsbeglückung abzielenden universal-humanistischen Absichten der nationalen Deutschlandkonzepte heraus, aber er profiliert sie nicht ausreichend im europäischen Kontext. Seit dem 16. Jahrhundert rechtfertigen – ob Spanien, Portugal, England, Frankreich, die Niederlande – europäische Kolonialmächte ihre universalen wirtschaftlichen und politischen Ansprüche durch Legitimationsthesen kultureller und religiöser Art. Diesen Wettstreit muss man im Auge behalten, wenn das nicht-kolonisierende, weil in sich zerstrittene Deutschland in dem Moment seine Kulturmission entdeckt, als es durch den Nachbarstaat Frankreich zunächst revolutionär herausgefordert, dann durch die Napoleonische Expansion entweder in den französischen Staat integriert oder als Satellit im Dienst der neuen kontinentalen imperialen Macht degradiert wird. Militärisch hatte das als politische Einheit nicht existierende Deutschland den Ansprüchen des Nachbarstaates wenig entgegenzusetzen: umso radikaler und verstiegener wurden die kulturellen Argumente romantischer Intellektueller, die sich in nationalen Visionen von kontinentalen und globalen Erziehungsplänen und künftigen Einflussphantasien verloren. Schon damals wirkten sie überspannt und hatten in ihrer Zeit kaum Einfluss.

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Höfer zeigt richtig, wie das Vehikel des intellektuellen deutschen Protestes gegen die damals geschichtswirksamen politischen Entwicklungen in Frankreich die Methode des Mythologisierens ist. Er trifft die wichtige Unterscheidung zwischen »mythisieren« und »mythologisieren«. Wer »mythisiert« macht etwas zu einem Mythos, aber wer »mythologisiert« sieht im Mythos ein ästhetisches Material, über das man verfügen kann, hat also bereits ein distanziertes, reflektiert-aufgeklärtes und vergleichendes Verständnis vom Mythos. Auch hier wäre es wichtig daran zu erinnern, dass sich nicht nur die deutschen Schriftsteller dieser Verfahren bedienten. Man begegnet ihnen vorher bereits in Frankreich, wenn die französischen Vorbereiter und Akteure der Revolution sich aus Legitimationsgründen auf Mythen über Heroen der römischen Republik beziehen. Ähnlich verfährt man in Frankreich und Italien (zum Teil auch in Deutschland), wenn der frühe Napoleon mit Alexander dem Großen verglichen wird. Und mythisierend fallen auch die danach einsetzenden Vergleiche des neuen Imperators in Paris mit Augustus oder Karl dem Großen aus. Höfer führt vor Augen, wie schwierig es in Deutschland war, eine nationale Identität für ein Land zu konstruieren, das politisch nicht existierte, das auch – als Kulturnation – kein Zentrum besaß wie es in Spanien und Portugal, in Frankreich und England der Fall war. Zudem war das Land teils katholisch, teils protestantisch. Aber hatten es die französischen Autoren von Voltaire bis Chateaubriand da einfacher? Aufgeklärte Laizität lag im Streit mit einem gallikanischen Katholizismus, die keltische Kultur wurde gegen die romanische ausgespielt und umgekehrt (Napoleon schuf neben der existierenden Französischen Akademie auch eine Keltische), Bürgertum und Adel bekämpften sich bis aufs Messer und der alte Regionalismus war noch längst nicht überwunden.

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Das sind die Dinge, die bei Höfer immer wieder auffallen: es fehlt der Blick auf die zeitgenössischen Entwicklungen in den übrigen europäischen Ländern. Ansonsten ist seine Studie ausgezeichnet. Eine Wortprägung wie »Heilsgeschichtsphilosophie« trifft den Sachverhalt gut, aber auch sie kann man auf Tendenzen in der Darstellung Napoleons in Literatur und Malerei Frankreichs anwenden. Und über den Völkern stand man als Nation nicht nur in den Phantasien deutscher Dichter. Auch der Begriff des nationalen Universalismus mit der dazu passenden Idee der kulturellen Vormachtstellung ist gut gewählt, bloß erscheint er bei den Deutschen viel unrealistischer als zur gleichen Zeit bei den europäischen Kolonialländern. Die Passagen des Buches über Herder und Wilhelm von Humboldt, über Hölderlin und Novalis, über Schiller und Fichte sowie schließlich über Friedrich Schlegel sind gut geschrieben und ergänzen sich zu einem Bild realitätsferner nationaler Träume von Einfluss und Macht, Dominanz und Erziehungsdiktatur. Die Humanität, die hier als Alleinstellungsmerkmal deutscher Identität propagiert wird, hat immer auch einen Beigeschmack des Rechthaberischen und der bloß behaupteten ethischen Überlegenheit gegenüber angeblicher Gewalt oder dem Egoismus anderer Nationen. Bei Schiller muss man berücksichtigen, dass er sein Gedicht »Deutsche Größe« vom Frühjahr 1802 weder vollendete noch publizierte. Fichte ist mit seinen »Reden an die deutsche Nation« wohl ein besonders bizarrer Fall, wenn er glaubt, die Welt werde an seiner Wissenschaftslehre genesen. Friedrich Schlegel verliert sich in schon damals indiskutablen Verherrlichungen des Heiligen Römischen Reiches, dessen Wiederkehr alle Probleme seines gegenwärtigen Europas beenden würde.

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Die romantische Literatur hat viele Aspekte. Ihr Beitrag zur Nationaldebatte war zu ihrer Zeit ressentimentgeladen und in der Rezeption fatal. Das Buch von Hannes Höfer kann man jedem Studenten zur Lektüre bei Romantikseminaren empfehlen. An einigen Stellen seiner Studie wird deutlich, dass sich der Nationaldiskurs der deutschen Romantiker mit dem Europa-Diskurs überschneidet (siehe den Abschnitt über Novalis). Das zeigt auch ein weiteres Buch zum Thema, das Höfer nicht erwähnt, nämlich »Europa und die Revolution« (1821) von Joseph Görres. Damit sich der Blick nicht allzu sehr verengt, mag er – oder einer seiner jungen Kolleg_innen – demnächst vielleicht ein Buch über die Nationalideologien der Romantiker in den übrigen europäischen Ländern in der Verflechtung mit dem kontinentalen Europa-Diskurs der Zeit schreiben. Das wäre ein ausgezeichnetes weiteres Projekt.