IASLonline

Zahlenreiche Einblicke in ein vernachlässigtes Repertoire

  • Cristina Urchueguía: Allerliebste Ungeheuer. Das deutsche komische Singspiel 1760-1790. (nexus 99) Frankfurt a.M., Basel: Stroemfeld 2015. 462 S. 23 Abb. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-86109-199-8.
[1] 

Singspiele aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellen heute noch immer ein Repertoire dar, das in Wissenschaft und Bühnenpraxis nahezu vergessen ist. Ausgenommen sind hierbei lediglich die Genrebeiträge Wolfgang Amadé Mozarts – Die Entführung aus dem Serail und Die Zauberflöte –, deren Pflege auf der Opernbühne und Beschäftigung in der Wissenschaft jedoch mehr mit dem Namen Mozart zusammenhängt als mit dem besonderen musikdramaturgischen Zuschnitt der Werke als Dialogoper. Die zahlenmäßig überschaubaren Arbeiten zum Singspiel aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Theater-, Literatur- und Musikwissenschaft betonen zwar sämtlich die zentrale theater- und musikhistorische Bedeutung von Singspielen für die Entwicklung des deutschsprachigen Musiktheaters bis ins 19. Jahrhundert, 1 doch haben diese Appelle bisher nicht dazu geführt, eine breitere Singspielforschung oder gar Wiederentdeckung von Werken für die Opernbühne anzustoßen.

[2] 

Die Ursachen für diese mangelnde Beschäftigung mit dem Repertoire sind vielfältig und liegen, wie nicht zuletzt von Jörg Krämer deutlich gemacht, 2 in geistesgeschichtlichen und anthropologischen Veränderungen, in wissenschaftsgeschichtlichen Traditionen sowie in einer tradierten Pauschalklassifizierung des Repertoires als ästhetisch belangloser Trivialkunst innerhalb der einzelnen Wissenschaftszweige begründet. Hinzu tritt noch die Heterogenität des Quellenbestandes, die dem Wunsch nach klaren Gattungskriterien zuwiderläuft, und eine heutige rezeptionsästhetische Erwartungshaltung, die sich vor allem an Mozarts Genrebeiträgen und damit eher am Sonderfall, nicht aber am künstlerischen Alltag ausrichtet. So ist es erfreulich, dass mit der Habilitationsschrift von Cristina Urchueguía ein umfangreiches Buch zu diesem Repertoire aus musikwissenschaftlicher Perspektive vorgelegt wurde.

[3] 

Gliederung und Aufbau

[4] 

Das Buch gliedert sich nach einer kurzen Einleitung in drei etwa gleich umfangreiche Großkapitel, die sich unter verschiedenen Blickwinkeln dem Singspiel im gewählten Untersuchungszeitraum 1760 bis 1790 zuwenden, sowie einen Anhang mit Datentabellen. Eine DVD-ROM liefert darüber hinaus weiteres Datenmaterial in Form von PDF-Dateien. Im ersten Großkapitel »Deutsches Theater und komisches Singspiel 1760–1790« (S. 15–158) legt Cristina Urchueguía eine die gegenwärtige Literatur zum Thema rekapitulierende Einführung (»Standortbestimmung«, S. 11) in die Thematik vor. Konzipiert ist das Kapitel dabei gleichermaßen als Forschungsüberblick, Darstellung des ästhetischen und entwicklungsgeschichtlichen Kontextes des Singspiels und einer historisch orientierten Einführung in die Singspielentwicklung. Das zweite Kapitel »Skizze zu einem Panoramabild mit einer Anleitung zur Ortsbegehung« (S. 159–272) widmet sich statistischen Auswertungen von im Untersuchungszeitraum entstandenen Werken deutschsprachigen Musiktheaters sowie von dessen Ur- und Folgeaufführungen; hier bezieht die Autorin bewusst nicht nur selbständige Melodramen (vom Muster Georg Bendas), sondern unter anderem auch die für die Entwicklung des Singspiels zentralen Übersetzungen italienischer und vor allem französischer Musiktheaterwerke im deutschen Sprachraum ein. Das dritte Kapitel »Musikalische Komik im Singspiel der Spätaufklärung« (S. 273–359) geht vor dem zunächst im Kapitel dargestellten ästhetisch-theoretischen Hintergrund anhand einiger analytischen Beispiele dagegen der Frage nach, ob sich im Singspielrepertoire eine »spezifische Ausprägung musikalischer Komik« nachweisen lässt, »die sich sowohl vom Theater als auch von der Oper unterscheiden« lässt (S. 13).

[5] 

Singspiele in der Theaterlandschaft des späteren 18. Jahrhunderts

[6] 

Richtet sich das erste Kapitel durch seinen weitgehend rekapitulierenden Einführungscharakter eher an den noch nicht mit dem Thema vertrauten Leser, so bietet das zweite Kapitel eine ganze Reihe neuer Ergebnisse. Als Ziel des Kapitels benennt die Autorin zu eruieren, welche Bedeutung Singspiele im Theaterleben und im Vergleich zu anderen Formen von Musiktheater im deutschsprachigen Raum der Zeit einnahmen (S. 11). Nun gab es in der Vergangenheit bereits vergleichbare Unternehmungen und die Autorin verweist auch selbst auf diese (S. 156, 159 f.): die in Form einer Datenbank online zugängliche Sammlung des DFG-Projekts »Die Oper in Italien und Deutschland zwischen 1770 und 1830« 3 sowie den schon älteren Aufsatz von Reinhart Meyer »Der Anteil des Singspiels und der Oper am Repertoire der deutschen Bühnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« von 1981. 4

[7] 

Konzentriert sich die Online-Datenbank aber ausschließlich auf Musiktheater und zusätzlich nur auf einige Residenzstädte sowie stehende Bühnen und klammert dadurch den für die Pflege von Singspielen zentralen Bereich der Wandertruppen ebenso aus wie das Verhältnis von Musiktheater zu anderen Genres, so stellt Reinhart Meyer das Musiktheater zwar stärker in den Kontext des übrigen Theaterlebens und ermöglicht anhand einer Auswertung von Spielplänen von rund 100 Bühnen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Repertoireuntersuchungen zur Pflege der verschiedenen Theaterformen. Allerdings würden hier laut Cristina Urchueguía die verschiedenen Formen von Musiktheater »unabhängig von Sprache und Typ« zusammengefasst ausgewertet, sodass »die erforderliche Differenzierung für musiktheatralische Belange fehlt« (S. 156).

[8] 

Ihre eigenen Untersuchungen sollen demgegenüber eine »systematische Darstellung der tatsächlichen Präsenz der verschiedenen Werke auf der Bühne [bieten], die die Bedeutung der verschiedenen Genres, Werke, Autoren und Stile lesbar und übersichtlich gegenüberstellt und erläutert« (S. 160). Grundlage dafür sind Werktitel sowie Aufführungs- und Werkdaten aus dem damals deutschsprachigen Raum (S. 166), die Cristina Urchueguía in beeindruckender Fülle sowohl aus historischen Quellen wie Rezensionen, Theaterkalendern, Spielplänen, Dokumentationen oder gedruckten Textbüchern wie auch aus quellenorientierter Forschungsliteratur zusammenträgt und im elektronischen Anhang offenlegt (Anhang 2 und 3). Auf der Grundlage dieser Daten erstellt Cristina Urchueguía zahlreiche statistische Auswertungen, die in Form von Diagrammen oder Tabellen dem Leser mitgeteilt werden – beispielsweise zur geographischen Verteilung von Aufführungen (S. 170 f.), zu Uraufführungen und Aufführungen musiktheatralischer Werke im Untersuchungszeitraum nach Ursprungs- und Aufführungssprache (S. 173), zu Ur- und Folgeaufführungen französischer, italienischer und deutscher Werke (S. 204, 224), zur Verteilung von Aufführungen nach Frequenz der einzelnen Musiktheaterformen (S. 209) sowie zu zahlreichen weiteren Aspekten.

[9] 

Als Ergebnisse der statistischen Auswertungen kann sie – unter einigen weiteren – festhalten, dass sich auf der deutschsprachigen Bühne trotz zahlreicher Uraufführungen nur ein kleiner Bestandteil von Werken auf der Bühne halten konnte, sich dabei jedoch ein Kernrepertoire ausgebildet hat, das wiederum eine erstaunliche geographische Verbreitung mit langen Spielzeiten erfuhr (S. 161). Mit dem Kernrepertoire bestritten die Ausführenden immerhin »drei Viertel der Aufführungen [...], obwohl es weniger als 10% der neuen Kompositionen ausmachte« (S. 161). Es lässt sich also ein ständiges Nebeneinander von schnell wechselndem Repertoire und Kernrepertoire ausmachen (S. 209).

[10] 

Anders sieht es nach der Autorin beispielsweise bei den, wie sich nun auf breiter statistischer Basis belegen lässt, stark gepflegten Übersetzungen italienischer und französischer Werke aus. Hier lassen sich weit weniger Uraufführungen feststellen, dafür aber ein geringerer Bestand an nur einmalig gespieltem Repertoire (S. 207 f.). In Zahlen belegen lässt sich anhand der Statistiken auch, dass erwartungsgemäß die Aufführungssprache Deutsch dominierte (S. 204), wobei sich aber bei den Aufführungen deutschsprachige Originalwerke und Übersetzungen italienischer und französischer Opern für das Publikum gleichberechtigt gegenüberstanden – nur mit einer anderen Frequenz der einzelnen Werkaufführungen (S. 208). Demgegenüber lässt sich im Bereich des Melodrams – präzisierend müsste man sagen: das selbständige Melodram, da Melodrame als Bestandteil von Opern nicht behandelt werden – die völlige Fixierung der Zeitgenossen auf nur zwei Werke konstatieren (Georg Anton Bendas Medea und Ariadne auf Naxos), mit denen immerhin zwei Drittel der Melodram-Aufführungen bestritten wurden (S. 208). Als Ausgangspunkt für ihr folgendes Kapitel kann Cristina Urchueguía anhand ihrer Statistiken zudem Reinhart Meyers Beobachtung bestätigen, dass Singspiele mit komischen Sujets das beliebteste Genre im Repertoire der Theaterpflegenden ausmachten, während ernsthafte Werke deutlich weniger gepflegt wurden (S. 239, 267–272).

[11] 

Generell gelingt es der Autorin anhand der zahlenreichen Belege spannende Aspekte zum Theaterleben der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ans Licht zu bringen. Einerseits kann sie zu vermutende und bekannte Entwicklungen der musikalischen Theaterlandschaft nun mit genauen und differenzierbaren Daten unterfüttern und nachweisen (wie beispielsweise die Dominanz deutschsprachiger Werke und die nur marginale Pflege originalsprachlicher Werke durch spezialisierte Bühnen im Untersuchungszeitraum), andererseits kann sie neue Erkenntnisse liefern – wie zum Beispiel, dass das Publikum zwar immer neue Werke verlangte, zugleich aber Repertoire-Stücke eingefordert haben muss und dies sich gleichermaßen auf genuin deutschsprachige wie auch übersetzte Werke bezog.

[12] 

Daten, Daten, Daten

[13] 

Durch die Offenlegung des Datenbestandes, auf dem sich die Statistiken gründen, bietet der Anhang 2 eine Fülle von Daten, die für eine weitere Beschäftigung mit dem deutschsprachigen Musiktheater wertvoll sind. So lassen sich die aus einer Vielzahl von Quellen zusammengestellten Daten zum deutschsprachigen Musiktheater als Bibliographie und Dokumentation des Repertoires nutzen. Zwar gibt es vergleichbare Repertoirelisten bei Thomas Bauman, 5 der eine erste Sichtung des Repertoires vorgenommen hat, und bei Jörg Krämer, 6 der einen Baumans Liste gegenüber deutlich umfangreicheren Katalog vorlegen konnte, doch sind bei Cristina Urchueguía noch einmal mehr Daten zusammengetragen: Neben Titel, Komponist, Textdichter und Angaben zum Genre verzeichnet Cristina Urchueguía dokumentarisch (wenn auch nur ausgewählte) bibliographische Nachweise zu den Textbuch- wie zu den Notenquellen, zu Rezensionen und vor allem zu Aufführungen, die in solch übersichtlicher und ausführlicher Form bislang nur vereinzelt zusammengestellt sind, auch wenn die Autorin hierbei (verständlicherweise) keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt (Anhang 2, S. 2). Soweit Digitalisate greifbar waren, sind die Quellen durch Links direkt aus der PDF-Datei ansteuerbar.

[14] 

Hinsichtlich der Quellendifferenzierung verwundert jedoch die Verzeichnung der Textbuchquellen. Beim Eintrag »Adelheit von Veltheim« (Anhang 2, S. 6) werden beispielsweise sämtliche Librettodrucke des 1780 entstandenen Librettos Gustav Friedrich Wilhelm Großmanns bei der erst 1785 erstaufgeführten und wenig erfolgreichen Vertonung von Josef Grätz angegeben (Nr. 18). Das Libretto ist jedoch ursprünglich für die deutlich erfolgreichere Vertonung seines Wanderbühnenkapellmeisters Christian Gottlob Neefe entstanden (Nr. 19) und der Druck Dyk 1781 lässt sich auch zweifelsfrei der Neefe-Vertonung zuordnen. Die anderen beim Grätz-Eintrag genannten Librettodrucke aus dem 18. Jahrhundert verzeichnen zwar keinen Komponisten, datieren aber deutlich vor der Entstehung von Grätz’ Vertonung, dürften also kaum für Grätz gedruckt worden sein.

[15] 

Beim Eintrag zu »Die Dorfdeputirten« (Anhang 2, S. 88 f.) werden die Textbuchdrucke, die sich einzelnen Komponisten zuordnen lassen, hingegen bei der jeweiligen Vertonung angegeben (Nr. 496 Christian Ludwig Dieter, Nr. 498 Franz Teyber), bei Drucken ohne Komponistennennung finden sie sich jedoch bei der 1784 entstandenen Vertonung von Johann Lukas Schubaur (Nr. 497), auch wenn die Librettodrucke deutlich früher datieren (bspw. der Druck Weimar 1773). Bei Ernst Wilhelm Wolf (Nr. 499; UA Weimar 1772) wird hingegen auf die Textbuchquellen bei Teyber verwiesen, wobei sich dieser Druck nun gerade der Teyberschen Vertonung zuordnen lässt und zudem auf 1792 datiert, also deutlich nach der Wolfschen Vertonung entstanden ist. Ein Verweis auf den zwar Wolf nicht namentlich nennenden, jedoch vom Druckort und Entstehungsjahr plausibler zuzuordnenden Druck Weimar 1773, findet demgegenüber nicht statt.

[16] 

Auf diese Weise entsteht leider ein missverständliches oder sogar falsches Bild der einzelnen Quellenlagen. Praktikabler wäre eine separate Verzeichnung derjenigen Librettodrucke gewesen, die sich keiner Vertonung zuordnen lassen, während diejenigen Textbuchdrucke, die sich einer Vertonung zuordnen lassen, konsequent auch dort hätten verzeichnet werden sollen. Den Quellenlagen wäre dies sicher adäquater gewesen.

[17] 

Komik im Singspiel

[18] 

Ausgehend von der statistischen Feststellung, dass Singspiele mit komischen Sujets in der Publikumsgunst deutlich vor Sujets mit ernsthaftem Inhalt lagen, gilt das dritte Großkapitel der Untersuchung, »ob [... und] wie das deutsche komische Singspiel musikalisch und dramaturgisch auf die Herausforderung reagierte, die mit seiner offensichtlichen Popularität und seinem Erfolg einhergingen« (S. 272). Es gilt der Autorin, »der Frage nach den spezifischen Ausprägungen von Komik im weitesten Sinne« nachzugehen »und nach dem charakteristischen musikalischen Ton im komischen Singspiel der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« zu fragen (S. 274). Dafür sollen »stellvertretend für allgemeine Prinzipien der Werkgestaltung und der Komposition [...] ausgewählte Beispiele vorgestellt und analysiert werden, die zentrale Themen und Ausdrucksformen illustrieren« und »die stofflichen musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten« im Zentrum der Betrachtung stehen (S. 274).

[19] 

Zunächst entwickelt Cristina Urchueguía aus einer historisch orientierten Einleitung in die Entstehungsumstände der Singspielbegeisterung in Leipzig die zeitgenössische Wahrnehmung von komischen Singspielen (S. 274–287). Erstaunlich oft, so konstatiert sie (S. 283), hätten die Beteiligten Singspiele mit komischen Sujets lediglich als »unwichtige Nebenprodukte« (S. 285) kleingeredet. Dies sieht Cristina Urchueguía – vor dem Hintergrund der offensichtlichen Popularität des Genres – als Teil der historischen Legitimationsschwierigkeiten des Komischen im Theatersystem des 18. Jahrhunderts (S. 288).

[20] 

Aus der sich anschließenden Darstellung zeitgenössischer Komik-Theorien (S. 287–302) gewinnt Cristina Urchueguía schließlich Postulate, die sie als Grundlage der musikalischen und musikdramaturgischen Analyse nutzen möchte: So entfalte sich Komik durch Regelwidrigkeit und Persiflage, ermögliche anhand des Witzes das Einbringen anderer Realitäten und könne durch gezielte Kontrastbildungen zu komischen Brechungen führen (S. 302). Durch die Anlage als Dialogoper biete im Bereich des Singspiels schließlich vor allem die Musik selbst und die Integration von Musik in den gesprochenen Dialog einen Quell für Komik (S. 302).

[21] 

Zur Darstellung von »einige[n] Schlaglichter[n] [...] musikalischer Komik« (S. 308) wählt die Autorin insgesamt drei Aspekte aus: Die Romanze, das Rezitativ und das Spiel mit Realitäten. Im Bereich der Romanze (S. 308–317) verdeutlicht Cristina Urchueguía – musikanalytisch leider sehr knapp gehalten – anhand einer Romanze aus Ernst Wilhelm Wolfs Das Rosenfest, wie musikalische Einfachheit den in diesem Fall erotischen Textinhalt betont und damit eine dramaturgische Funktion im Sinne einer komischen Figurenzeichnung einnehmen kann (S. 317). Deutlich größeren Raum nimmt der in der Darstellung folgende Bereich des Rezitativs ein, der im Singspiel nur selten gebräuchlich, dadurch jedoch für besondere Wirkungen wie Komik geradezu prädestiniert war (S. 318–350). Anhand mehrerer Beispiele zeigt Cristina Urchueguía zunächst den dramaturgischen – nicht komischen – Einsatz von Rezitativen in Singspielen auf: an Georg Philipp Telemanns Don Quichotte auf der Hochzeit des Comacho (das auch nach der Autorin nicht zum eigentlich im Vordergrund stehenden Repertoire gehört, S. 318), an Johann Georg Standfuß’ Die verwandelten Weiber sowie an dem auch in seinen Entstehungszusammenhängen und Quellenüberlieferungen sehr ausführlich behandelten Singspiel Scherz, List und Rache von Johann Wolfgang Goethe und Philipp Christoph Kayser, bei dem die verschiedenen Überarbeitungen der zunächst durchgehend geplanten Rezitative thematisiert werden. Erst dann, und leider nur sehr kurz, geht die Autorin der Frage nach, wie durch Rezitative Komik im Singspiel entstehen kann. Anhand von Peter von Winters Parallelvertonung des Goethe-Librettos, zeigt sie, wie das in der Überarbeitung einzig erhaltene Rezitativ bei Winter als musikalische Darstellung von Wahnsinn fungiert und damit als musikalische Äußerung des Komischen wirkt (S. 349 f.). Da dieses Beispiel die für das Kapitel ursprünglich aufgeworfene Frage der Komikentstehung im Singspiel thematisiert, hätte man sich hier eine ausführlichere Stellungnahme – vor allem hinsichtlich der musikalischen Faktur des Rezitativs – gewünscht. So rückt in der Kapiteldisposition die Betrachtung von Goethes und Kaysers Singspiel Scherz, List und Rache und damit zwar ein Beispiel für die Rezitativverwendung, nicht jedoch primär für die Komikentstehung anhand von Rezitativen ins Zentrum.

[22] 

Das Spiel mit theatraler Illusion und Realität bildet ein weiteres Schlaglicht. Unter anderem an Carl Ditters von Dittersdorfs Die Liebe im Narrenhaus zeigt Cristina Urchueguía auf, wie beispielsweise die Inkorporation von Arien mit Rezitativen als Äußerungen von Närrinnen Komik erzeugen kann (S. 355); leider geht Cristina Urchueguía auch hier nicht näher auf die musikalische Faktur der Arien ein, die zweifellos ebenfalls zur Komikentstehung beigetragen haben dürften, sondern verweist lediglich auf ein Notenbeispiel im Anhang (S. 356).

[23] 

Anhand der gewählten Beispiele kann Cristina Urchueguía verschiedene Formen von Komik im Singspiel aufzeigen, die ihre eingangs erwähnten Postulate für die Erzeugung von Komik belegen, wie beispielsweise komische Kontrastbildung bei Wolf oder Persiflage bei Dittersdorf. Da es der Autorin aber nach eigener Aussage dezidiert auch um den »charakteristischen musikalischen Ton« (S. 274) und die »stofflichen musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten« (S. 274) in Singspielen der Zeit ging, sind die nur kurzen musikanalytischen Bemerkungen zu den untersuchten Werken schade – vor allem, da es sich bei dem untersuchten Repertoire um Werke handelt, die heute auch in der Wissenschaft praktisch nicht mehr bekannt sind.

[24] 

Fazit

[25] 

Die Arbeit bietet in einem nach wie vor in den beteiligten Wissenschaftszweigen vernachlässigten Forschungsfeld wertvolle Untersuchungen zur Theater- und Opernlandschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die statistischen Auswertungen, die sich auf eine Vielzahl zusammengetragener sowie im Anhang offengelegter und damit für weitere Untersuchungen nutzbare Rohdaten stützen, geben hierbei spannende Einblicke in Repertoirebildung und -pflege des deutschsprachigen Musiktheaters. Der sich anschließende Teil zur Komikerzeugung in Singspielen der Zeit liefert zwar die Bestätigung der aus den zeitgenössischen Theoretika abgeleiteten Postulate zur Komikerzeugung, verdeutlicht durch die nur kurzen musikanalytischen Abschnitte aber implizit auch die Rezeptionsschwierigkeiten, die die Musikwissenschaft auf analytischer Ebene wohl immer noch mit dem Repertoire hat.

 
 

Anmerkungen

Vgl. bspw. Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater. Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung, 2 Bde. (Studien zur deutschen Literatur, 149/150) Tübingen: Niemeyer 1998, S. 18–24; Thomas Bauman: North German Opera in the Age of Goethe. Cambridge 1985, S. 3.   zurück
Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater, S. 41–55.   zurück
http://www.oper-um-1800.uni-koeln.de (Zugriff: 18.7.2016).   zurück
Reinhart Meyer: Der Anteil des Singspiels und der Oper am Repertoire der deutschen Bühnen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal (Hg.): Das deutsche Singspiel im 18. Jahrhundert. Colloquium der Arbeitsstelle 18. Jahrhundert, Gesamthochschule Wuppertal, Universität Münster, Amorbach vom 2. bis 4. Oktober 1979. Heidelberg: Winter 1981, S. 27–76.   zurück
Thomas Bauman: North German Opera, S. 332–427.   zurück
Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater, S. 783–855.   zurück