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Männlichkeit in ihren Facetten

  • Stefan Horlacher / Bettina Jansen / Wieland Schwanebeck (Hg.): Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B. Metzler 2016. 430 S. Gebunden. EUR (D) 69,95.
    ISBN: 978-3-476-02393-3.
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Während innerhalb der »Gender Studies«, aber auch in anderen Disziplinen, Weiblichkeit in verschiedenen historischen Ausprägungen differenziert beschrieben worden ist, hat sich die Forschung nur sehr zögerlich dem Thema Männlichkeit genähert. Da Männlichkeit ohnehin als dominantes Prinzip allgegenwärtig ist, fiel sie – als »unmarkierte Form« – nicht weiter auf oder wurde für etwas Natürliches gehalten und so, speziell in den Geisteswissenschaften, als wenig einträglicher Untersuchungsgegenstand empfunden. Geändert hat sich dies spätestens Anfang der 1980er Jahre vor allem durch das Aufkommen der nordamerikanischen »Men’s Studies«, die im Laufe der 1990er Jahre verstärkt »Masculinity Studies« genannt wurden. Besonders seit der Wende zum 21. Jahrhundert untersucht man Männlichkeit – oder vielmehr Männlichkeiten in ihrer Pluralität – mit steigender Intensität in verschiedenen Wissensfeldern. Männlichkeit: Ein interdisziplinäres Handbuch bietet einen hervorragenden Überblick über einen immer lebendiger werdenden Forschungsbereich.

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Die Einleitung stellt die Relevanz des Sujets durch aktuelle Beispiele – vom Männermagazin bis zum Männergesundheitsbericht – anschaulich heraus, bietet einen Überblick über bisherige Nachschlagewerke und umreißt die Ziele des Handbuchs. Der Hauptteil (II-IV) besteht aus drei Großkapiteln: Das erste »Männlichkeitsforschung« umfasst fünf Beiträge, das zweite »Disziplinen und Ansätze« zwölf und das dritte Großkapitel »Künstlerisch-mediale Repräsentationen und theoretische Ansätze« zehn, wobei sich die Hälfte davon mit verschiedenen Nationalliteraturen beschäftigt.

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Die meisten Artikel sind von profilierten Spezialisten aus Deutschland geschrieben, doch stammen einige Beiträge auch von ausländischen Experten und sind ins Deutsche übersetzt worden. Gemäß dem Handbuchcharakter finden sich die Verfassernamen lediglich in kleiner Schrift am Ende der jeweiligen Artikel. Das Autorenverzeichnis am Schluss des Bands ist insofern nützlich, als es die unterschiedlichen fachlichen Provenienzen sichtbar macht. Das breite Fächerspektrum trägt viel zum Reiz des Buchs bei.

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»Männlichkeitsforschung«

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Eröffnet wird das erste Großkapitel mit Walter Erharts sehr verständlich geschriebenem Aufsatz »Deutschsprachige Männlichkeitsforschung«. Er zeichnet zunächst die Genese des Interesses an Männlichkeit nach und greift dabei bis ins frühe 19. Jahrhundert zurück. Diese weite Perspektive erfüllt sicherlich den Zweck, ins Gedächtnis zu rufen, welch hohe Relevanz Überlegungen zur Differenz der Geschlechter schon lange vor der Etablierung des erwähnten Forschungsfelds hatten. Gleichwohl muss ein so knapper Abriss recht fragmentarisch bleiben. Während die im 19. Jahrhundert stark biologistisch geprägten Versuche erwähnt werden, den »Geschlechtscharakter« des Mannes zu fassen, vermisst man etwa Hinweise auf die evolutionsbiologischen Argumente, die in Deutschland und Österreich um 1900 in der Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung vorgebracht wurden. Ziemlich weit erscheint der Sprung von Georg Simmels Reflexionen um 1900 in die 1960er Jahre, schließlich gab es gerade in der »völkischen« Pseudowissenschaft eine Fixierung auf das, was als männlich betrachtet wurde. Im eher thematisch ausgerichteten Teil des Beitrags wird verständlich in Problemkreise eingeführt, die im Laufe des Buchs immer wieder von Belang sind, so die Performativität von Geschlecht, das Konzept der Krise und alternative sexuelle Orientierungen.

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Angesichts der zahlreichen Anregungen, die die Männlichkeitsforschung hierzulande aus dem angloamerikanischen Raum erhalten hat, muss Erhart immer wieder auf anglophone Publikationen eingehen, bevor diese im zweiten, von Todd Reeser verfassten Beitrag »Englischsprachige Männlichkeitsforschung« eigens gewürdigt werden. Nicht zuletzt aufgrund des globalen Einflusses vor allem der nordamerikanischen »Gender Studies« handelt es sich hierbei um ein Schlüsselkapitel, das man wegen des Ursprungs des Forschungsbereichs in den USA von der Chronologie her ebenso an den Anfang hätte stellen können. Indes führt Reeser auch in die neuesten Forschungstendenzen ein, so in das Konzept der »female masculinities« oder die Berücksichtigung von Männlichkeit in transnationaler Perspektive. Für die USA ist natürlich die Intersektionalität von »Rasse« und Geschlecht von eminenter Relevanz und wird auch von Reeser entsprechend berücksichtigt. Neben Afroamerikanern finden weitere Ethnizitäten Erwähnung, wie die Latinos oder die Juden – letztere werden freilich nur kursorisch und ohne Bezug auf Sander L. Gilmans und Neil R. Davisons wichtige Forschungen behandelt.

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Dass das erste Großkapitel nach Publikationssprachen beziehungsweise Ländern und Regionen strukturiert ist, mag in einer Zeit, in der viele Studien unabhängig vom Ursprungsort auf Englisch erscheinen oder nicht auf die Verhältnisse eines bestimmten Landes abheben, ein wenig anachronistisch anmuten. Gerade im Bereich der Männlichkeitsforschung ist der internationale Austausch sehr intensiv. Man liest etwa am Anfang von Julio César González Pagés‘ Kapitel zur Männlichkeitsforschung in Lateinamerika: »Die lateinamerikanische Männlichkeitsforschung unterscheidet sich in ihren Grundannahmen nicht von der Männlichkeitsforschung anglophoner und frankophoner Länder« (S. 65). Gleichwohl hat die Gliederung dieses Blocks zweifelsohne ihre Berechtigung, denn es zeigt sich, dass sich durchaus nationale Traditionen mit eigenen Schwerpunkten in der Auseinandersetzung mit Männlichkeit herausgebildet haben, die eine sorgfältige Betrachtung verdienen. So wird im erwähnten Kapitel ausführlich auf Untersuchungen zum Phänomen des in Lateinamerika besonders virulenten »Machismo« eingegangen.

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Anne-Marie Sohn erklärt in ihrem Aufsatz »Männlichkeitsforschung in Frankreich, Italien, Spanien«, in Frankreich und Italien habe man sich bei aller Bedeutung anglophoner Vorbilder »niemals einfach in die Men’s Studies eingereiht« (S. 62). Dabei erinnert der Beitrag daran, dass der internationale Austausch oft multidirektional verläuft. Michel Foucaults Schriften, namentlich die Histoire de la sexualité, hatten einen enormen Einfluss auf das konstruktivistische Verständnis von Geschlecht, wie es zunächst für den angloamerikanischen Bereich und dann für Westeuropa dominant werden sollte (S. 53 f.). Der in der Einleitung des Handbuchs ausgegebenen Maxime, man wolle einen »Dialog zwischen den primär US-amerikanischen Masculinity Studies sowie der in Europa betriebenen Männlichkeitsforschung« (S. 4) herstellen, wird somit bereits das erste Großkapitel voll gerecht. Zugleich manifestiert sich auch innerhalb der einzelnen Unterkapitel der Wille zur genauen Differenzierung zwischen den europäischen Ländern. So wird in Alexander Wölls »Männlichkeitsforschung in Russland und Ostmitteleuropa« erklärt, dass Polen, Tschechien und die Ukraine weithin den Anschluss an die westliche Theoriebildung geschafft haben, während man in Russland in alten Paradigmen verharrt und Männer häufig als »passive Opfer ihrer biologischen Natur und kulturellen Umgebung darstellt« (S. 42).

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»Disziplinen und Ansätze«

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Das zweite mit »Disziplinen und Ansätze« betitelte Großkapitel des Handbuchs bildet den umfangreichsten Teil und ist zum Nachschlagen für Vertreter der aufgeführten Fächer – von der Ethnologie zur Soziologie, von der Geschichtswissenschaft zur Rechtswissenschaft – besonders gewinnbringend. Hier erhält man sachgerechte Informationen zu den in diesen Wissenschaftsdisziplinen verbreiteten Prämissen, Forschungsfragen und Methoden. Es empfiehlt sich sehr, über die eigenen Fachgrenzen hinaus- und in andere Kapitel hineinzublicken. So ist gleich der erste Artikel zur Archäologie geeignet, vermeintliche Gewissheiten über Männlichkeit in der Steinzeit zu hinterfragen, auf die im populären Diskurs häufig rekurriert wird. Die Autorin Linda R. Owen erklärt, dass viele Vorstellungen über die Geschlechterrollen jener Zeit mehr auf Stereotypen als auf verlässlichen Daten basieren. Diese Projektionen würden jedoch oft in aktuellen Debatten um die biologische Determination von Geschlechterrollen instrumentalisiert.

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Während die meisten geistes- und sozialwissenschaftlichen Beiträge den Konstruktcharakter von Männlichkeit betonen, setzt Chefarzt Markus Schubert in seinem Aufsatz »Biomedizin: Humanmedizin und Humanbiologie« einen ganz anderen Schwerpunkt:

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Obwohl noch viele offene Fragen auf dem Gebiet der Neurowissenschaften bezüglich der Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Gehirnfunktion bestehen, wird mit Hilfe neuer Untersuchungstechniken und molekularer Ansätze immer klarer, dass die Verhaltensunterschiede zwischen Männern und Frauen nicht allein auf deren Erziehung und Umgebung zurückzuführen sind. Vielmehr scheinen genetische und hormonelle Einflüsse die wesentliche Ursache für männer- bzw. frauenspezifische Verhaltensweisen zu sein. (S. 88)
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Wie aus mehreren anderen Beiträgen des Handbuchs hervorgeht, wird in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen eine solche Sicht fast immer als Essentialismus zurückgewiesen.

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Schon im nächsten Artikel legt Susanne Schröter dar, dass man in der Ethnologie an der Auffassung festhält, »dass Männlichkeit, wie Gender allgemein, kulturell hergestellt wird und nicht auf mögliche biologische oder andere nicht-kulturelle Faktoren verweist« (S. 102 f.). Schröters konziser Beitrag zeigt die Felder auf, in denen die Untersuchung von Männlichkeit innerhalb des Fachs einen besonderen Stellenwert besitzt, etwa in der Sozialisations- beziehungsweise Initiationsforschung oder der Konfliktforschung.

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Das ausführliche Kapitel zur Geschichtswissenschaft von Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz und Daniel Albrecht diskutiert viele der bereits in den ersten Beiträgen aufgeworfenen Grundfragen der Männlichkeitsforschung, so den Einfluss Judith Butlers, das Konzept der Krise und das der Hegemonie, und stellt ihre Relevanz für die historischen Teildisziplinen heraus. Stärker an konkreten Einzelfragen orientiert ist der Artikel zur Linguistik von Constanze Spieß, in dem die Debatte um das generische Maskulinum im Deutschen ein anschauliches Beispiel liefert. In Olaf Stuves Beitrag zur Pädagogik ist bemerkenswert, dass das Fach zwar einerseits die konstruktivistischen Annahmen neuerer Theoriebildung akzeptiert hat, aber andererseits aktuelle Bildungsdiskussionen häufig »essentialisierenden Deutungsmustern« (S. 138) verhaftet bleiben. Im Beitrag zur Philosophie beklagt Michael Groneberg, sein Fach habe aufgrund von »Scheuklappen« (S. 154) der Männlichkeit kaum Beachtung geschenkt und weist auf Bereiche hin, in denen die Kategorie zum Tragen kommt. Der Abschnitt zur philosophischen Ästhetik ist für die Statik des Bands insofern wichtig, als man nur hier etwas über Edmund Burkes Unterscheidung zwischen einem weiblichen Schönen und einem männlichen Erhabenen erfährt, die nicht zuletzt auf Kunst und Literatur einen beträchtlichen Einfluss ausüben sollte. Wertvoll sind ferner Gronebergs Erläuterungen zum psychischen Geschlecht, das man neben dem physischen und dem sozialen veranschlagen sollte, »um die geschlechtliche Verfasstheit zwischen- und transgeschlechtlicher Personen zu beschreiben« (S. 162). Wolfgang Mertens Aufsatz zur Psychoanalyse und Holger Brandes‘ zur Psychologie sind natürlich aufeinander bezogen. Querverweise und Abgrenzungen des eigenen Interessensfelds machen deutlich, wie eng man sich untereinander abgestimmt hat. Der Beitrag zur Psychologie und der Richard Colliers zur Rechtswissenschaft sind zwei von mehreren Kapiteln des Bands, die sehr offen auf die großen Defizite hinsichtlich der Männlichkeitsforschung in ihren Fächern aufmerksam machen. Ähnlich stellt Björn Krondorfer in »Religion und Theologie« fest: »In Europa ist das Feld der kritischen Männlichkeitsforschung in Religion und Theologie bis zum Beginn des 21. Jh.s weitgehend brach geblieben« (S. 204). Als eine der Schwierigkeiten erwähnt er, dass man angesichts der Dominanz von Männern in den Religionen der Welt leicht Gefahr läuft, lediglich Offenkundiges zu bestätigen. Zugleich ruft sein Überblick unter anderem wichtige Phänomene der Verquickung von Religion und dezidierten Maskulinitätsvorstellungen ins Gedächtnis, so die Bewegung der »Muscular Christianity« im viktorianischen England oder Max Nordaus »Muskeljudentum«. Der Beitrag zur Soziologie von Michael Meuser ist für den Band schon deshalb sehr zentral, weil von seinem Fach entscheidende Impulse für das gesamte Feld der Männlichkeitsforschung ausgegangen sind. Das Kapitel stellt differenziert Raewyn Connells Konzept der »hegemonialen Männlichkeit« und Pierre Bourdieus Begriff des »männlichen Habitus« dar, Erläuterungen, auf die in vielen anderen Aufsätzen immer wieder Bezug genommen wird. Es spricht für die sorgfältige Konzeption des Bands, dass mehrfach Querverweise auf Meuser geliefert werden.

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»Künstlerisch-mediale Repräsentationen und theoretische Ansätze«

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Das letzte Großkapitel »Künstlerisch-mediale Repräsentationen und theoretische Ansätze« basiert auf der Überzeugung, dass die Künste eigene Erkenntniszugänge zur Männlichkeit eröffnen, die traditionelle Wissenschaftsdisziplinen nicht anbieten. Da sich die meisten Artikel dieses Teils auch intensiv mit der akademischen Auseinandersetzung mit ihren künstlerischen Gegenständen befassen, ergibt sich jedoch kein wesentlicher Unterschied zum zweiten Großkapitel. Uta Fenskes Ausführungen zum Film, Christoph Ribbats zur Fotografie, Bettina Uppenkamps zu Kunst und Kunstgeschichte, Toni Tholens zur deutschsprachigen Literatur und Rainer Emigs zur englischsprachigen Literatur legen alle zunächst einen Schwerpunkt auf die Forschungstendenzen in ihren jeweiligen Fächern. Sie folgen aber dann einem stärker diachronen Muster, wenn sie entscheidende Schritte der Repräsentation von Männlichkeit skizzieren. Beispielsweise findet in Emigs Übersicht eine große Zahl kanonischer Autoren und Werke der wichtigsten literaturgeschichtlichen Epochen seit dem Mittelalter Erwähnung – und dies gegliedert nach britischer und irischer Literatur, amerikanischer Literatur und den postkolonialen Literaturen. Warum unter den Überschriften »Deutschsprachige Literatur« und »Englischsprachige Literatur« Unterpunkte zum Film auftauchen, wird angesichts eines eigenen Kapitels zum Film nicht ganz klar. In den Beiträgen »Russische und ostmitteleuropäische Literatur« von Alexander Wöll, »Französische, italienische und spanische Literatur« von Gregor Schuhen und »Lateinamerikanische Literatur« von Dieter Ingenschay zeigen sich manche Parallelen zu den ersten Aufsätzen des Bands. Dass sich Katrin Loslebens Artikel zur Musik stark auf den »Fall Beethoven« konzentriert, gereicht etwas zum Nachteil populärer Musikströmungen wie Heavy Metal oder Hip Hop, die lediglich erwähnt werden. Auch wenn Janine Schulze-Fellmanns Kapitel zum Tanz, mit dem der Band schließt, einige allgemeine Fragestellungen berührt, unterbreitet die Autorin doch recht spezifisches Wissen zum Ballett.

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Will man trotz des facettenreichen Überblicks, den das Handbuch bietet, Kulturpraktiken identifizieren, die noch hätten behandelt werden sollen, so kommt einem der eng mit Geschlechterspezifika verknüpfte Bereich des Sports in den Sinn. Die wenigen Bemerkungen dazu im Beitrag zur Soziologie beziehen sich lediglich auf Teilaspekte. Denkbar gewesen wäre ein eigenes Kapitel, das die interdisziplinäre Forschung zur Körperlichkeit (»the body«) reflektiert.

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Ohne Zweifel ist Männlichkeit: Ein interdisziplinäres Handbuch ein großer Wurf für die Männlichkeitsforschung im deutschsprachigen Raum. Es eignet sich nicht nur sehr gut als Nachschlagewerk, sondern sei auch für eine kontinuierliche Lektüre empfohlen. Dies gilt für Experten wie für allgemein Interessierte, die zuverlässige Erläuterungen zu wesentlichen Debatten auf der bisher vernachlässigten Seite der »Gender Studies« suchen.