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Es brodelt in Kreuzburg: Ein neuer Sammelband zu Gustav Freytag wirft Fragen auf

  • Rafal Biskup (Hg.): Gustav Freytag (1816-1895). Leben - Werk - Grenze. (Schlesische Grenzgänger 8) Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag 2015. 306 S. Hardcover. EUR (D) 44,00.
    ISBN: 978-3865838834.

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Inzwischen brodelt es in Kreuzburg wegen Gustav Freytag. Ein Teil des Stadtrates will seinen Ruhm in der Stadt wiederherstellen und an seinem Haus eine zweisprachige Gedenktafel anbringen. Ein Anonym mit der Drohung, das Haus in die Luft zu sprengen, ein mit dem Fuß ausgetretenes Schaufenster, sollen nur die Vorzeichen für die Angriffe der patriotischen Armee sein, die ein Anonymus ›Major Szary‹ befehligen soll. 1

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So schreibt Teresa Kudyba 1995 im Schlesischen Wochenblatt. Rafal Biskup, der Herausgeber des hier zu rezensierenden Bandes, zitiert Kudybas Artikel in seinem Aufsatz »Das Wecken der Dämonen? Einiges über die Anwesenheit Gustav Freytags in der kollektiven Wahrnehmung Schlesiens nach 1989«.

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Biskups Beitrag steht ganz am Ende des Bandes, und wer die elf vorangegangenen Texte gelesen hat, wird bis dahin ein Gefühl dafür bekommen haben, wie kontrovers die Debatte um Gustav Freytag sein kann. Nur wenige Schriftsteller sind wohl so umstritten, dass ihretwegen Bombenanschläge zu befürchten sind. Doch der Autor von Soll und Haben war, ist und bleibt aufgrund seiner antisemitischen und antipolnischen Aussagen bis heute ein Politikum.

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Freytag-Forschung: polnisch, deutsch, international?

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Die literaturwissenschaftliche Diskussion hat sich aufgrund der politischen Fragwürdigkeit mit Freytag lange schwer getan; nach 1945 wurde ihm zunächst keinerlei Beachtung geschenkt, bis Soll und Haben ab den 1970er Jahren unter ideologiekritischer Perspektive diskutiert wurde. Erst in der letzten Dekade ist, nicht zuletzt aufgrund einiger Jubiläen, eine kleine Renaissance der Freytag-Forschung zu verzeichnen, die zunehmend auch Perspektiven jenseits der Ideologiekritik einbezieht. Die rezenten Buchpublikationen zu Gustav Freytag sind freilich weiterhin an einer Hand abzählbar. Der 2005 von Florian Krobb herausgegebene Sammelband 150 JahreSoll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman 2 gehört ebenso dazu wie Christine Achingers Monographie Gespaltene Moderne. Gustav FreytagsSoll und Haben. Nation, Geschlecht und Judenbild. 3

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Auch der nun von Rafal Biskup vorgelegte Sammelband nimmt Jubiläen – nun den 120. Todestag und nahenden 200. Geburtstag – zum Anlass einer erneuten Auseinandersetzung mit Freytag. Der Band, der überwiegend Beiträge von polnischen GermanistInnen enthält, nimmt dabei nicht nur Krobbs 150 Jahre Soll und Haben in keinem der zwölf Aufsätze zur Kenntnis, sondern verweist auch lediglich im Beitrag von Sibylle Schönborn auf Achingers Monographie. Umgekehrt hat die Freytag-Forschung jenseits Polens wichtige Arbeiten polnischer LiteraturwissenschaftlerInnen zu wenig rezipiert. 4 Die gegenseitige Wahrnehmung und Befruchtung über die Landesgrenzen hinweg findet mehr als fünf Jahre nach dem internationalen Germanistenkongress in Warschau 2010 noch nicht so statt, wie man es sich wünschen würde. Das ist umso bedauerlicher, als – davon legt Biskups Band Zeugnis ab – die polnische (und wohlgemerkt oft deutschsprachige) Freytag-Forschung, deren wichtigste Vertreter Izabela Surynt, Wojciech Kunicki, Edward Bialek und nun auch Rafal Biskup sind, eine durchaus lebhafte Existenz führt.

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Leben – Werk – Grenze

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Während die Publikationen der letzten Jahre zumeist Soll und Haben ins Zentrum stellten, formuliert Rafal Biskup die Agenda seines Bandes bewusst offen: »Leben – Werk – Grenze«, mit diesen Stichworten deutet der Untertitel die Bearbeitung eines weiten Feldes an. So versammeln sich hier sowohl biographisch als auch literaturwissenschaftlich orientierte Beiträge, rezeptionsgeschichtliche Untersuchungen wie Textanalysen. Ziel des Bandes ist, wie das Vorwort formuliert, »ein möglichst differenziertes Bild des Schriftstellers zu zeichnen« (S. 7).

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Der dem gängigen Begriffspaar »Leben und Werk« zunächst aufgesetzt erscheinende Zusatz »Grenze« erklärt sich einerseits aus der Apostrophierung Freytags als ein »schlesischer Grenzgänger« (S. 7), andererseits daraus, dass Ergebnisse einer Tagung, die im Mai 2013 unter dem Titel »Grenzräume. Literatur, Kultur und Sprache zwischen Regionalismus und Universalismus« in Gustav Freytags Geburtsstadt Kluczbork (ehemals Kreuzburg) stattgefunden hat, unter dem Dach des Bandes versammelt sind. Sie werden durch weitere Aufsätze aus anderen Kontexten ergänzt, so etwa durch den ersten, von Izabela Surynt und Marek Zybura verfassten Beitrag über die Korrespondenz zwischen Gustav Freytag und Theodor Molinari, der bereits als Einführung zu Gustav Freytags Briefen an Theodor Molinari erschienen ist. 5 Der hier erfolgte Wiederabdruck macht nicht zuletzt interessante Belege für eine gewisse Freigeistigkeit Freytags einem breiteren Leserkreis zugänglich. Über die Familie Molinari lernte Gustav Freytag Emilie Gräfin von Dyhrn kennen; sie wurde zunächst seine Geliebte, dann, nach ihrer Scheidung, Freytags Lebensgefährtin. Im Herbst 1847 heiratete das Paar. Die zunächst freie Beziehung, so geht es aus den Briefen hervor, galt Freytag und seiner Freundin moralisch nicht als bedenklich.

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Diese in den frühen Briefen an Molinari bekundete sittliche Großzügigkeit und Missachtung der gesellschaftlichen Konventionen der gutbürgerlichen Kreise mögen auch ein Grund dafür sein, dass die beiden nach ihrer Umsiedlung nach Dresden (und später nach Leipzig) Zuflucht bei der zu dieser Zeit als Emanzipierte verschrieenen Ida von Hahn-Hahn fanden, die den beiden ihr Appartement zur Verfügung stellte. (S. 15f.)
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Mit solchen Schilderungen fügt der Band schon in seinem ersten Beitrag entscheidende Facetten zur Wahrnehmung Gustav Freytags hinzu. Dies erscheint umso relevanter, als sich Freytags eigene autobiographische Schrift Erinnerungen aus meinem Leben (1887) über derart Privates vollständig ausschweigt. Surynts und Zyburas Beitrag macht deutlich, dass Freytags öffentliche Selbstdarstellung einer intensiven »Autozensur« unterlag (S. 17). Davon betroffen ist auch die gescheiterte politische Laufbahn des Dichters. 1867 war Freytag für kurze Zeit Mitglied des Norddeutschen Reichstags. Doch »sein erster und einziger Auftritt verunglückte, denn ihm wurde das Wort von dem Vorsitzenden Bennigsen entzogen, weil er vom Thema abwich« (S. 23). Dass Freytag sich in der Folge zunehmend der Literatur widmete und nach 1870 politisch immer weniger zu Wort meldete, bewerten Surynt und Zybura als Eskapismus, als Flucht in imaginäre Welten (S. 28). Darin drückt sich eine gewisse Geringschätzung der Literatur aus, die womöglich auch dazu beiträgt, dass Surynt und Zybura immer wieder auf der Suche nach der politischen Agenda Freytags sind. So reduzieren sie Freytags wesentlich vielfältigeres literarisches Werk auf die Bearbeitung »zwei[er] dominierende[r] Themenkomplexe«, nämlich den »deutschen ›Volkscharakter‹« und »die kulturelle Superiorität des Bürgertums« (S. 28).

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Auch der zweite Aufsatz im Band geht auf eine Co-Autorschaft zurück: Hans-Harald Müller und Mirko Nottscheid tragen bei zu »Gustav Freytag und Wilhelm Scherer – Gelehrtenkultur zwischen Dichtung und Wissenschaft«. Anhand von Freytags Korrespondenz mit dem österreichischen Germanisten geht es ihnen um die »Beziehungen, die Freytag mit der gelehrten Welt verknüpften, der er auch als Romancier verbunden blieb« (S. 39). Dabei ist das Verhältnis der beiden Intellektuellen insgesamt eher als höflich-distanziert zu beschreiben. Der gegenseitig ausgedrückten entspricht keine eigentliche Wertschätzung, wie Scherers Äußerungen gegenüber Dritten deutlich machen; umgekehrt äußert sich Freytag seinem Verleger Salomon Hirzel gegenüber abwertend über Scherer. Auch hier zeigt sich, dass Freytag öffentliche Äußerung und private Meinung voneinander trennte, was die Forschung mitunter vor schwierige Aufgaben stellt. So scheint es, dass Müller und Nottscheid zu einer Überbewertung der höflichen Respektsbekundungen zwischen Freytag und Scherer tendieren, wenn sie diese als »prägenden Einfluss« (S. 39) bezeichnen.

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Ironische Distanz hielt Freytag eben zu vielem, auch zu dem von ihm betreuten Musenalmanach der Universität Breslau auf das Jahr 1843, mit dem sich Wojciech Kunicki befasst. In den Erinnerungen aus meinen Leben äußert sich Freytag über diese Episode seines Lebens wie folgt:

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Denn da ich an der Universität zuweilen über neuere Dichtkunst las und in der Stadt einen Ruf als Versemacher gewonnen hatte, so kamen Abgeordnete der Studentenschaft zu mir und ersuchten mich, die Redaction eines Musenalmanachs für das Jahr 1843 zu übernehmen, zu welchem Studirende die Gedichte liefern sollten. Mit trüben Ahnungen willigte ich ein, erhielt überreichlich Beiträge, sowie genaue Kenntniß von der Beschaffenheit junger lyrischer Gemüther, hatte viele unnütze Mühe und erreichte nichts weiter, als daß meine stolzen Knaben die Freude hatten, ihre Verse gedruckt zu kaufen. 6
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Kunicki weist indessen nach, dass Freytag seine Aufgabe womöglich doch ernster genommen hat, als das Zitat suggeriert. So fällt Kunicki vor allem im Vergleich mit dem Almanach des Vorjahres eine größere thematische Bandbreite sowie formale Vielfalt der Gedichte auf, die er auf Freytags gründliche Redaktionsarbeit zurückführt. Eine Übersicht über die Immatrikulationsdaten der Almanachbeiträger zeigt auf, dass »die sich um Freytag scharenden ›Burschen‹ eine bildungsbürgerliche, dabei zugleich nationalliberale Elite der Breslauer Studierenden darstellten« (S. 78). Schnell ablesen lässt sich zudem, dass Fachwechsel, Studienabbrüche und das Phänomen des Langzeitstudiums bereits im 19. Jahrhundert verbreitet waren.

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Sibylle Schönborn schreibt über Arthur Silbergleits Roman Der Leuchter, den sie in Beziehung zu Soll und Haben setzt. Schönborn plädiert für eine Aufwertung dieses unpublizierten Romans »im Sinne einer jüdischen Kontrafaktur und damit als Ein- oder Widerspruch« gegen Soll und Haben (S. 81). Tatsächlich macht ihr Beitrag neugierig darauf, den im Deutschen Literaturarchiv Marbach in zwei Typoskripten vorliegenden Roman einzusehen. Seine Form- und Stilvielfalt hat die Kritik dem Roman angelastet; Schönborn bewertet sie als moderne Ästhetik neu. Silbergleits Roman sei »weniger ein Beispiel für einen ästhetisch misslungenen Roman, als ein Zeugnis für die Kontinuität der Austreibung einer genuin jüdischen Tradition aus der deutschen Literaturgeschichte, die in der Weimarer Klassik ihren Ausgangspunkt hat« (S. 87).

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Jochen Strobel befasst sich unter der Überschrift »Tableaus und raumzeitliche Grenzen in der populären Geschichtsnarrativik« mit Gustav Freytags Bildern aus der deutschen Vergangenheit. Strobel arbeitet heraus, dass die Bilder aus der deutschen Vergangenheit literarisch und historiographisch zugleich verfahren und dabei komplexe Darstellungsprobleme verhandeln – wie die Frage, »wie Geschichte zugleich als Tableau geschildert und prozessual als Fortschritt, Wandlung, Veränderung« erzählt werden kann (S. 101). Die Darstellungsform wirkt dadurch komplex und, zumal für das 19. Jahrhundert, innovativ. Insgesamt macht Strobel plausibel, dass Freytags Geschichtsmodell erstaunlich wenig teleologisch verfährt.

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Mit »Über die ›Verbastardung‹ der Nationen. Zum Problem der kulturellen Begegnung und ›Mischung‹ bei Gustav Freytag« steuert Izabela Surynt einen zweiten Beitrag zum Band bei. Darin arbeitet sie heraus, dass Freytag vor allen Dingen in der Frühphase seines öffentlichen Wirkens Aussagen trifft, die »gerade die Vorteile der kulturellen Vielfältigkeit und Hybridisierung im Gegensatz zum Postulat nationaler bzw. ethnischer ›Reinheit‹ vieler ›Nationskonstrukteure‹ hervorheben« (S. 116). Zum Beleg zieht Surynt vor allen Dingen Freytags Studie Die deutsche Sprache und Literatur als Bildungsmittel auf höheren Unterrichtsanstalten heran, die sich im Nachlass des Autors findet. Freytag propagiere eine kulturelle Hybridität, ja »›Rassenvermischung‹«. Damit »unterscheiden sich Freytags Ansichten krass von den ›Rassenreinheit‹ postulierenden Ideen Fichtes und Arndts, aber auch Kants [...]« (S. 125). Die Bilder aus der deutschen Vergangenheit deutet Surynt im direkten Gegensatz zum vorangegangen Beitrag von Strobel als teleologisch. In diesem Sinne sei auch die »Hybridisierung« lediglich eine – wenngleich aufgewertete – Entwicklungsetappe.

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In ihrem Beitrag »Die Rezeption des Werkes von Gustav Freytag in Polen« stellt Anna Kochanowska-Nieborak fest, dass Freytags Werk in Polen zunächst kein ausgeprägtes Politikum darstellte, eher von der ästhetischen Seite her rezipiert wurde. Erst nach und nach wurde eine politische Tendenz wahrgenommen und zum Thema der Rezeption: »Neben der Erörterung von den künstlerischen Qualitäten der Freytagschen Werke wandten sich die Kritiker zunehmend der Frage nach der moralischen Verantwortung des Schriftstellers für gesellschaftliche Auswirkungen seines Schaffens zu, was meist in Form der Kritik an der Antagonisierung der Polen und Deutschen geschah« (S. 139). Dabei diente das literarische Werk den Rezensenten teils auch als die Zensur umgehender Vorwand, einen Beitrag zur politischen Debatte zu leisten. Einen eigenen Abschnitt widmet Kochanowska-Nieborak der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Freytag seit den 1980er Jahren in Polen. Dabei betont sie insbesondere den Stellenwert der in einer ideologiekritischen Traditionslinie stehenden Arbeiten von Izabela Surynt einerseits, der psychoanalytisch-dekonstruktivistischen Untersuchungen Wojciech Kunickis andererseits.

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Im hier zu besprechenden Sammelband ist Wojciech Kunicki, wie Izabela Surynt, mit zwei Beiträgen vertreten. So schreibt er – neben der Erörterung des von Freytag betreuten Musenalmanachs – einen weiteren Aufsatz zur »Problematik der Polenwahrnehmung bei Gustav Freytag und Gottfried Keller«. Dabei beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Mythologie und Geschichte, wie es sich in der deutschen Wahrnehmung des Polnischen artikuliert – nämlich als »Domestizierung des scheinbar Fremden, das sich im Mythos offenbaren muss« (S. 192). Somit wird deutlich, »dass die Struktur der Polen-Wahrnehmung in Deutschland keineswegs eindimensional war«; dass sie sich nicht – wie die Forschung zu Soll und Haben immer wieder unterstellt hat – »nach dem Schema rational-gut, irrational-böse gruppieren lässt« (S. 193). Untersucht wird dies an Freytags Soll und Haben und an Gottfried Kellers Kleider machen Leute. Kunicki sieht in Freytags Soll und Haben und Gottfried Kellers Kleider machen Leute zwei unterschiedliche Bearbeitungen desselben Phänomens: »des Bürgerlichen in seinem Verhältnis zur Welt der ›dunklen‹ und ›unverständlichen‹ Impulse des Lebens« (S. 207). Doch während bei Freytag ein »Unglaube an die Möglichkeit der bürgerlichen Idylle« überwiege, sei diese bei Keller sehr wohl möglich – und zwar »durch das Integrieren der ›poetischen‹ Seite des Lebens« (S. 208).

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Piotr Stronciwilk trägt bei zum »Polenbild« in Gustav Freytags Grenzboten, dessen Ambivalenz er mit Hilfe einer Übertragung von Edward Saids Orientalismus-Begriff auf Osteuropa herausarbeitet. Unter dem Titel »›Die Wacht am Osten‹ als des Schlesiers Kampfparole. Zur Mythisierung des Grenzlandes am Beispiel der Freytag-Rezeption in der literarischen Kultur Niederschlesiens nach dem Ersten Weltkrieg« untersucht Edward Bialek die Grenzlanderfahrung als identitätsstiftenden Faktor. Gabriela Dziedzics Aufsatz schließlich befasst sich mit Gustav-Freytag-Gedenkstätten in Schlesien. Insbesondere während der Zeit des Nationalsozialismus gab es Gustav-Freytag-Denkmäler; heute findet sich – wie zu Beginn der Rezension erwähnt – nicht einmal ein Hinweis am Geburtshaus. Dziedzics Beitrag hat eher dokumentarischen Charakter, eine Diskussion der virulenten Problematik bleibt aus – und auch die damit eingenommene neutrale Haltung wird nicht explizit begründet. Der Herausgeber Rafal Biskup beendet die Reihe der Beiträge mit seinem Aufsatz »Das Wecken der Dämonen? Einiges über die Anwesenheit Gustav Freytags in der kollektiven Wahrnehmung Schlesiens nach 1989«. Auch Biskup hält Distanz zum Gegenstand: »Zu betonen ist, dass es dieser Analyse nicht darum geht, das Werk Freytags oder seine Einstellung Polen gegenüber vom heutigen Standpunkt aus zu untersuchen« (S. 273). Biskup begreift Freytag als »Erinnerungsort« im Sinne Jan und Aleida Assmanns, der nach 1989 »zum Legitimierungsgegenstand eines deutschen (!) Oberschlesiens« wurde (S. 273).

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Freytag, Lipinsky-Gottersdorf, Kaluza?

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Die Beiträge gehen mit dem politischen Subtext, der die Freytag-Forschung stets begleitet, auf unterschiedliche Weise um. Der Herausgeber benennt teils offensiv Freytags »Abneigung gegenüber allem, was er mit dem ›slawischen Element‹ verband: Unordnung, Chaos oder Organisationsdefizite [...]« (S. 7), teils zieht er sich – wie auch andere BeiträgerInnen – auf neutralen Boden zurück. Der Rezensentin erscheint einerseits die Betonung von Freytags Aversion dem Polnischen gegenüber nicht komplex genug; der Funktion des polnischen Grenzgebietes in Soll und Haben, das dort als eine Art Reich der Poesie fungiert, lässt sich so nicht gerecht werden. Andererseits irritiert ein nicht zu greifender Subtext, eine Art Lust an der Grenzverletzung. So schreibt der Herausgeber im »Vorwort«:

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Die in diesem Buch veröffentlichten Beiträge möchten keine ›Damönen wecken‹. Vielmehr wollen sie wichtige – wenngleich dabei auch heikle – Aspekte aus dem Leben, dem Werk und der Legende Gustav Freytags aufgreifen und kritisch werten. Die Beiträge sollen Tabus aufbrechen und damit zu einer weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Werk und der Person von Gustav Freytag anregen. (S. 10f.)

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Wie das zu verstehen ist, was das genau bedeutet, wird nicht vollständig klar. Nicht zuletzt deshalb, vor allen Dingen aber aufgrund der breiten thematischen Streuung der Beiträge zerfasert der Band bis zu einem Punkt, an dem es der Herausgeber selbst leid zu sein scheint. Am Ende ist Biskup das eigene Herausgeberinteresse an Freytag nicht mehr nachvollziehbar; stattdessen fordert er dazu auf, sich doch anderen Autoren zuzuwenden wie Hans Lipinsky-Gottersdorf oder Victor Kaluza. Zu hoffen bleibt, dass sich die mit dem vorgelegten Sammelband um weitere Beiträge reicher gewordene Freytag-Forschung dennoch nicht erschöpft hat – und dass die Forschungsergebnisse hier wie da in Zukunft verstärkt zur wechselseitigen Wahrnehmung kommen.

 
 

Anmerkungen

Teresa Kudyba: Keine Erinnerungen sind geblieben, in: Schlesisches Wochenblatt, Nr. 18 / 182, vom Mai 1995, S. 3, zitiert nach Rafal Biskups Beitrag im rezensierten Band (dort S. 291).   zurück
Florian Krobb (Hg.): 150 Jahre Soll und Haben. Studien zu Gustav Freytags kontroversem Roman. Würzburg: Königshauen & Neumann 2005.   zurück
Christine Achinger: Gespaltene Moderne. Gustav Freytags »Soll und Haben«. Nation, Geschlecht und Judenbild. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.   zurück
Ein Vorwurf, den sich die Rezensentin auch selbst gefallen lassen muss.   zurück
Mein theurer Theodor: Gustav Freytags Briefe an Theodor Molinari 1847-1867. Hg. von Izabela Surynt / Marek Zybura. Dresden: Neisse Verlag 2006, S. 7-39.   zurück
Gustav Freytag: Erinnerungen aus meinem Leben. In: G.F.: Gesammelte Werke. Zweite Serie. Leipzig: Hirzel o.J. Bd. 8, S. 523.   zurück