IASLonline

Neue hermeneutische Zugangsweisen zu bekannten literarischen Texten aus geist-theoretischer Sicht

  • Wolfgang Detel: Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes. Exemplarische Interpretationen poetischer Texte. (Klostermann Rote Reihe 80) Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2016. 240 S. EUR (D) 21,90.
    ISBN: 978-3-465-04256-3.
[1] 

Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes soll die Leistungsfähigkeit der allgemeinen Hermeneutik zeigen, die Wolfgang Detel in zwei vorangehenden Publikationen entwickelt hat. In Geist und Verstehen hatte er maßgebliche Positionen aus der Geschichte der Hermeneutik im Lichte der heutigen Theorie des Geistes rekonstruiert. Die dort ebenfalls enthaltenen ersten systematischen Überlegungen hatte er dann in Kognition, Parsen und rationale Erklärung weiterentwickelt und um Aspekte zur Theorie des Verstehens und zur Methodik der wissenschaftlichen Interpretation ergänzt, die sich aus der gegenwärtigen Theorie des Geistes ergeben, wie sie in der Philosophie und den Kognitionswissenschaften vertreten wird. Um die Vorzüge dieser geist-theoretischen Hermeneutik herauszustellen, möchte er in dem vorliegenden Buch den Nachweis führen, dass sie sich in einer Bereichshermeneutik, nämlich bei der Interpretation literarischer Texte, bewährt. Sie soll geeignet sein, wichtige Dimensionen literarischer Texte zu erhellen, die anderen Zugangsweisen verborgen bleiben, und damit zu einem besseren Verständnis literarischer Texte beitragen. Ein zentrales Interpretationsziel bestehe darin, »die Psychologie der fiktiven Figuren« zu ermitteln (S. 11). Entsprechend untersucht er vor allem, was in den literarischen Texten über die Psyche der Figuren ausgesagt wird und welche Erklärungen sich dafür geben lassen (vgl. dazu detailliert S. 9 f.).

[2] 

Die Kapitel 1–3 bieten Interpretationen zu einem zur Liebeslyrik gehörenden Gedichtfragment von Sappho und zur ersten Fassung von Goethes An den Mond, Hoffmanns Erzählung Der Sandmann und Flauberts Roman Madame Bovary. Die auf den ersten Blick nicht auf der Hand liegende Auswahl der Texte begründet Detel damit, dass es sich um häufig untersuchte und bekannte Texte handele, an denen sich besonders gut darlegen lasse, was die geist-theoretische Hermeneutik ausmacht. In Kapitel 4 beschreibt er Grundzüge der geist-theoretischen Hermeneutik, die für das Verständnis des Ansatzes und der Interpretationen in den vorangehenden Kapiteln erforderlich sind. Er erläutert zentrale Begrifflichkeiten wie ›Geist‹, ›mind-reading‹, ›Parsen‹ (d.h. schnelles, automatisches Verstehen) und ›Gefühl‹, beschreibt die hypothetisch-deduktive Methode und die Methode des Schlusses auf die beste Erklärung, gibt an, unter welchen Umständen das in literarischen Texten Dargestellte wahrheitswertdefinit sein kann (nämlich dann, wenn es Eigenschaften eines ›Modells‹ besitzt), und macht Angaben zur Theorie der verkörperlichten Kognition. Vor- und Schlussbemerkung rahmen diese vier Kapitel und tragen dazu bei, Anliegen und Erträge des Buches sehr gut deutlich werden zu lassen.

[3] 

Sappho und die hypothetisch-deduktive Methode

[4] 

Bei der Interpretation des Gedichtfragments von Sappho argumentiert der Verfasser gegen eine in der Forschung etablierte These, wonach in dem Gedicht Liebe ausschließlich anhand einer Beschreibung körperlicher Symptome dargestellt werde, und gegen die dahinter stehende Annahme über die historischen Gegebenheiten, nämlich dass die Menschen in Griechenland zur Zeit Sapphos grundsätzlich nicht zwischen Körper und Geist unterschieden hätten. Dass diese Annahme unzutreffend ist, zeige ein Blick in andere Gedichte der Autorin. Auf dieser Grundlage kann er eine revisionistische These formulieren: In dem Gedicht werde Liebe thematisiert, indem körperliche Symptome und mentale Zustände geschildert und aufeinander bezogen werden (vgl. S. 24–31 und, in leicht formalisierter Form zusammengefasst, S. 32–34). Detailliert führt er die entsprechende Argumentation aus und macht sie abschließend als Anwendung der hypothetisch-deduktiven Methode kenntlich (vgl. S. 34 f.).

[5] 

Positiv hervorheben lässt sich, dass damit, ausgehend von der tatsächlichen Praxis und mit der gebotenen Ausführlichkeit, eine Methodik konkret in ihrer Relevanz für die Literaturinterpretation deutlich wird, deren Diskussion sonst häufig abstrakt bleibt und losgelöst von der (geisteswissenschaftlichen) Forschung erfolgt. Als nachteilig könnte sich allenfalls erweisen, dass das Vorgehen der Sache nach sehr vertraut ist. Damit könnte der Eindruck entstehen, diese Einsicht sei eher banal. Es ist doch in der Literaturwissenschaft üblich, so könnte man meinen, bei der Interpretation andere Texte zu berücksichtigen, die etwa deswegen einschlägig sind, weil sie vom selben Autor stammen. Umgekehrt könnte allerdings gerade diese Vertrautheit ein Vorzug sein. Denn die interessante und wichtige Einsicht, dass in der Literaturwissenschaft gemäß hypothetisch-deduktiver Methode vorgegangen werden kann, ist womöglich dann besonders einleuchtend, wenn sich – wie hier – zeigen lässt, dass die bestehende Praxis so funktioniert.

[6] 

Die hypothetisch-deduktive Methode steht in Verbindung mit der geist-theoretischen Hermeneutik, ist allerdings für sie nicht spezifisch, sondern relativ unabhängig davon. Der Ansatz gewinnt eher an anderer Stelle Kontur. Gegen eine These der Forschung, wonach das Gedicht in einem bestimmten Sinne »einmalige, einzigartige und radikal individuelle Erlebnisse schildert« (S. 43), macht Detel vor dem Hintergrund der Theorie des Geistes geltend, dass »die semantischen Gehalte von Repräsentationen öffentlich und allgemein« sind (S. 45). Daher seien in einer wichtigen Hinsicht die im Gedicht geschilderten Erlebnisse dem Leser zugänglich, weil der von Detel favorisierten Theorie des Geistes zufolge Erlebnisse einen repräsentationalen Gehalt haben. Die Vorzüge des geist-theoretischen Zugangs sollen an diesem Beispiel darüber hinaus insofern erkennbar werden, als er es erlaube, die Struktur des Gedichtes eingehender zu beschreiben, während in der bisherigen Forschung mitunter davon ausgegangen wurde, dass das Gedicht gar keine Struktur besitzt (vgl. S. 35–39).

[7] 

Goethe und die Selbsterklärung des lyrischen Ich

[8] 

Während das Sappho-Beispiel vor allem zeigen soll, dass die geist-theoretische Hermeneutik geeignet sein kann, bestehende Forschungsmeinungen zu revidieren oder zu präzisieren, führt der Verfasser anhand von Goethes An den Mond vor, dass der Ansatz neue Interpretationen ermöglicht, die das bisherige Spektrum an zulässigen Interpretationen ergänzen sollen. In exemplarischer Abgrenzung von verschiedenen biographischen Lesarten begründet er die Auffassung, dass die im Gedicht geschilderten psychischen Zustände die Form einer »kausal-rationalen Selbsterklärung« annehmen: Gezeigt werde ein Sprecher, der sich in reflektierter Manier »über die Gründe seiner Empfindungen klar zu werden versucht« (S. 58, im Orig. teilw. kursiv). Damit habe das Gedicht nicht nur einen biographischen Gehalt, sondern vermittle zugleich eine allgemeine, von derartigen Bezügen losgelöste kommunikative Botschaft, die im Rahmen des geist-theoretischen Ansatzes identifiziert werden kann und dem Gedicht eine besondere Relevanz zuweist.

[9] 

Der Sandmann und die Erklärung für ein Trauma

[10] 

Im Kapitel zu Hoffmanns Der Sandmann entwickelt Detel in Auseinandersetzung mit den verschiedenen Gruppen von Forschungsmeinungen eine geist-theoretische Lesart der Erzählung, die zu neuen Einsichten führen, Teilen der bisherigen Forschung überlegen und zugleich integrativ sein soll, da sie einen großen Teil der bestehenden Forschungspositionen miteinbeziehen könne. Den Ausgangspunkt bildet die Annahme, dass die Erzählung »Modelle der Erklärung der seelischen Entwicklung Nathanaels« thematisiere, die es im Rahmen einer Interpretation nachzuvollziehen gelte (S. 83). Dazu untersucht Detel die Figuren und ihre Perspektiven, die Erzählerkommentare und den Verlauf der Handlung eingehender. Ferner wird erwogen, ob der Text vor dem Hintergrund der Seelenkunde um 1800 oder der heutigen Psychologie als psychologische Fallgeschichte aufgefasst werden kann.

[11] 

Insbesondere die Ausführungen in diesem Kapitel werfen die Frage nach dem konkreten Verhältnis von geist-theoretischer Hermeneutik und hermeneutischer Praxis auf. Das zeigt sich an verschiedenen Stellen. Nathanael und Clara geben, so heißt es etwa, rationale psychologische Erklärungen für die Wahrnehmungen des Ersteren (vgl. S. 87 f. und 89 f.). Bei der Erklärung der psychischen Entwicklung Nathanaels verwendet Detel entsprechendes Vokabular. Er spricht unter anderem davon, dass Nathanael etwas als »Auslösereize« (z.B. S. 100) verarbeite und zumindest zeitweilig zu einer »metarepräsentationalen […] Bewertung der Situation in der Lage« sei (S. 101) oder dass seinen Erlebnissen »kognitive Mechanismen« wie etwa die »Empathie mit Objekten« und damit »eine Form des schnellen automatischen Parsens« zugrunde lägen (S. 105). An einer Stelle nennt er als einen der Vorzüge der eigenen Interpretation, dass sie relevante Aspekte berücksichtigen könne, die anderen Zugangsweisen entgehen, wie etwa »die Rolle mangelnder Formen der sozialen Kognition«, die sich in der Erzählung zeige (S. 119). Nicht immer ist dabei ganz klar, welchen Stellenwert das Gesagte hat: Was davon verdankt sich der im Hintergrund stehenden Theorie? Was der damit verbundenen Methode der Textinterpretation? Zum Beispiel: Welche Konsequenzen hat die Annahme, dass das Verstehen fiktiver Figuren auf dieselbe Weise erfolgen soll wie das Verstehen realer Personen (vgl. S. 11), konkret für diese Interpretation? Was genau ist hier eine psychische Erklärung, die auf die geist-theoretische Hermeneutik rekurriert, was eher eine Beschreibung der Motivierung des Figurenhandelns, die aus der herkömmlichen Methodik der (narratologischen) Textanalyse bereits bekannt ist?

[12] 

Besonders deutlich wird dieser Punkt in einem Abschnitt, in dem erwogen wird, ob Nathanael nach dem Verständnis der Psychologie um 1800 psychisch krank sei und ob er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung gemäß heutigem Kenntnisstand leide. Es scheint darum zu gehen, ein Detail der Textwelt, nämlich Nathanaels psychische Disposition, zu klassifizieren. Dazu bedarf es eines bestimmten materiellen Wissens über einen Sachverhalt, hier also: des Wissens über eine bestimmte psychische Erkrankung. Es ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, warum genau hier die Überzeugungen und Verfahrensweisen einer geist-theoretischen Hermeneutik erforderlich sein sollten. Man könnte den Eindruck haben, dass es vor allem darum geht, welches Wissen einbezogen werden muss, um das im Text Dargestellte zu verstehen. Eine interessante Anschlussfrage wäre dann, welchen Stellenwert dieses Wissen eigentlich hat. Handelt es sich um ein Expertenwissen, über das nur der kompetente hermeneutische Interpret verfügt, oder steht das für das Verstehen des Textes erforderliche Wissen im Prinzip allen Lesern zu Gebote, etwa in Form eines lebensweltlichen Wissens darüber, dass belastende Erfahrungen in der Kindheit eine lebenslang beeinträchtigende Wirkung haben und extremes Verhalten zur Folge können?

[13] 

Diese Punkte hätten womöglich noch etwas deutlicher gemacht werden können. Dann wären die Vorzüge der geist-theoretischen Hermeneutik noch stärker zur Geltung gekommen. Zudem wäre wohl noch etwas klarer geworden, was genau den Unterschied zu bestehenden hermeneutischen oder anderen Ansätzen ausmacht, insbesondere zu solchen, die ebenfalls – wenn auch in einem anderen Sinne – ›psychologische‹ Lesarten vornehmen oder zumindest vornehmen können.

[14] 

Madame Bovary und die Wahrheit der Literatur

[15] 

Flauberts Madame Bovary nimmt Detel vor allem zum Anlass, die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Wahrheit zu stellen: Kann das in literarischen Texten Dargestellte wahr und wahrheitswertdefinit (wahr oder falsch) sein (vgl. S. 121)? Ausführlich untersucht er auf geist-theoretischer Grundlage die Psyche der Figur der Emma Bovary und gibt für ihre Entwicklung eine kausal-rationale Erklärung (vgl. dazu insbesondere die zusammenfassenden Bemerkungen S. 150 f.). Der Roman ermögliche auf diese Weise wichtige Einsichten. Gezeigt werde unter anderem, wie »seelische[] Entwicklungen und Handlungsentscheidungen von vorherigen mentalen Zuständen determiniert sein können und oft determiniert sind«, und dass »die Ursachen dieser Entwicklungen und Entscheidungen meist aus subjektiv-rationalen Gründen bestehen, die wahr, aber auch falsch sein können« (S. 153). Daran anschließend werden im zweiten Teil des Kapitels theoretische Fragen aufgeworfen, die mit dem Problem der Wahrheit literarischer Texte in Verbindung stehen, etwa Aspekte einer Theorie der Fiktion, die Gründe für die emotionale Anteilnahme an fiktiven Figuren oder die Eignung literarischer Texte, eine kognitive Funktion zu erfüllen (vgl. S. 155 f.). Um zu zeigen, »dass Literatur trotz ihrer Fiktionalität wahr und lehrreich sein kann« (S. 160), erweisen sich im Folgenden modelltheoretische Überlegungen als vielversprechend. Das in literarischen Texten Dargestellte lasse sich so auffassen, dass es Eigenschaften eines fiktiven Modells besitzt. Zu diesen Eigenschaften gehören Wahrheitswertdefinitheit und Realitätsbezug.

[16] 

An Stellen wie diesen zeigt sich die Komplexität des Ansatzes, der verschiedene literaturtheoretische Probleme berührt, zu denen es zum Teil bereits eine umfangreiche Diskussion gibt. Ein weiteres Beispiel wäre die Anachronismus-Problematik (vgl. S. 39–42 und 118 f.). Zudem fällt auf, dass der Aufbau des Buches es bisweilen erforderlich macht, thematisch eng Zusammengehörendes getrennt zu behandeln. Die Modelltheorie zum Beispiel wird sowohl in Kapitel 3 als auch in Kapitel 4 (vgl. S. 168–177 und 215–221) diskutiert. Die Konzeption bringt es mit sich, dass die (literatur-)theoretischen Probleme nicht eingehender diskutiert werden können. Dafür kann ebenfalls die Darstellung der modelltheoretischen Überlegungen als Beispiel dienen. Insbesondere in dem Abschnitt in Kapitel 4 könnte sie ein wenig sehr gedrängt wirken, zumindest auf manche (literaturwissenschaftliche) Leser.

[17] 

Hermeneutische Theorie und interpretative Praxis

[18] 

Es hat sicherlich seinen guten Sinn, konkrete Anwendungen einer komplexen Theorie gesondert zu publizieren. Den Beispielen wird auf diese Weise der erforderliche Raum geboten, der im Rahmen einer den theoretisch-methodischen Aspekten gewidmeten Arbeit nicht zur Verfügung stände. Außerdem kann auf diese Weise vermieden werden, dass die umfangreichen Beispiele, die dann eher den Charakter von Exkursen hätten, vom Gang der Untersuchung ablenken und den argumentativen Zusammenhang unterbrechen. Allerdings bringt ein solches Vorgehen verschiedene Herausforderungen mit sich. Eine erste besteht darin, die Verständlichkeit des Gesagten da sicherzustellen, wo es auf dem aufbaut, was in den anderen beiden Büchern dargelegt wurde. Damit die Interpretationen begreiflich werden und insbesondere, um einen Eindruck davon zu vermitteln, was sie besonders macht, muss zum einen etwas zum geist-theoretischen Ansatz gesagt werden, zum anderen kann das aber natürlich nur in einem gewissen Umfang geschehen. Es gelingt im Ganzen gut, in dieser Sache einen gangbaren Weg zu finden. Das Verhältnis von theoretischem Ansatz und interpretativer Praxis stellt in darstellungstechnischer Hinsicht eine weitere Herausforderung dar. Ein nicht ganz aufmerksamer Leser könnte zum Beispiel in der zweiten Hälfte von Kapitel 3 den Eindruck haben, dass bei den theoretischen Überlegungen zur kognitiven Funktion das literarische Fallbeispiel Madame Bovary ein wenig aus dem Blick gerät (vgl. S. 154–177).

[19] 

Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes ist ein Buch, das an seine Leser gewisse hermeneutische Anforderungen stellt. Das liegt an dem ambitionierten Projekt einer zeitgemäßen allgemeinen Hermeneutik, der Komplexität der behandelten Sache, der Dichte der Ausführungen und an dem Umstand, dass das Buch in engen Verbindungen zu zwei weiteren Publikationen steht, für die dasselbe gilt. Zwar sind die Ausführungen mitunter voraussetzungsreich, aber stets klar und explizit. Der Gang der Argumentation ist in der Regel von mustergültiger Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Es werden plausible und stringente Interpretationen geboten, die schon für sich allein genommen die Lektüre lohnen und als gelungen erscheinen können, auch und vielleicht gerade dann, wenn sie zu Widerspruch anregen.

[20] 

Zu berücksichtigen wäre in diesem Zusammenhang der interdisziplinäre Charakter der Arbeit. Eine Publikation, die zeigen soll, dass sich der vertretene Ansatz bei der Literaturinterpretation bewährt, muss sich gewiss auch an literaturwissenschaftlichen Standards messen lassen. Umgekehrt wäre es allerdings zu einseitig, die vorgelegten Interpretationen allein aus literaturwissenschaftlicher Sicht zu betrachten und den im Prinzip philosophischen Charakter der Arbeit auszublenden. Konkret gesagt: Man sollte zum Beispiel die Interpretation von Hoffmanns Der Sandmann nicht vorschnell deswegen negativ bewerten, weil in ihr nicht von unzuverlässigem Erzählen, romantischem Spiel mit Rezeptionserwartungen oder den Nachtstücken die Rede ist. Ein kurzer Hinweis zur Leserlenkung hätte vielleicht dazu beigetragen, solche potenziellen Irritationen von literaturwissenschaftlicher Seite noch unwahrscheinlicher zu machen. Literaturwissenschaftliche Forschung zu den behandelten Texten wird in aller Regel berücksichtigt.

[21] 

Konnte also gezeigt werden, »dass es hilfreich und fruchtbar sein kann, fiktionale Literatur im Rahmen der modernen Theorie des Geistes zu interpretieren« (S. 223)? Mit den genannten Einschränkungen, die zum Teil pragmatischer und darstellungstechnischer Art sind, gelingt in Hermeneutik der Literatur und Theorie des Geistes eine lesenswerte Illustration eines vielversprechenden hermeneutischen Ansatzes.