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Irmgard Scheitlers Schauspielmusik (2013/2015) als Kompendium frühneuzeitlichen Theaters

  • Irmgard Scheitler: Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Band 2: Darstellungsteil. (ortus studien 19) Beeskow: Ortus 2013. 752 S. Leinen. EUR (D) 69,90.
    ISBN: 978-3-937788-46-3.
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Den von der Fachwelt 2013 einhellig begrüßten ersten Teil ihres Kompendiums hat Irmgard Scheitler mit dem zweiten zu einer wahrhaft monumentalen Gesamtdarstellung komplettiert. Im Alphabet der Autoren verzeichnet der Materialband auf über 1000 Seiten mehr als 1200 Dramen mit Musikeinsatz, ergänzt um über 200 anonyme Publikationen (kaum Manuskripte, der Akzent liegt auf dem Druck) sowie eine CD mit Beispielen musikalischer Einspielungen. Der umfangreiche Darstellungsband erarbeitet mit diesen 1467 Einträgen nicht nur die Funktion der Schauspielmusik in der Frühen Neuzeit, sondern den Medienverbund und die Praktiken frühneuzeitlichen Theaterwesens insgesamt. Erst jetzt kann die Leistung des Unternehmens gewürdigt und sein Nutzen angedeutet und prophezeit werden, denn entstanden ist ein grundlegendes Handbuch für alle mit der Epoche der Vormoderne befassten kulturwissenschaftlichen Disziplinen.

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Schauspielmusik: Der Darstellungsband

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Im 2015 erschienenen Darstellungsband präsentiert eine Einführung die Problematik von Musik im Schauspiel und ihre bisherige Erforschung und reflektiert Methode und Darstellung, worauf ein erster Teil (S. 27-222) die Abgrenzbarkeit des frühneuzeitlichen deutschsprachigen Theaters in historischer wie systematischer Hinsicht diskutiert. Der umfangreichere zweite Teil behandelt in vier Abschnitten (A) die Theorie der Schauspielmusik, (B) die Orte des Musikeinsatzes, (C) die Musikpraxis und ihre Formenlehre sowie (D) spezielle Aspekte und Problembereiche. Ein Anhang liefert Ergänzungsmaterial und Erschließungshilfen (Bibliographie, Register). 1

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Teil I: Abzugrenzen ist das »hochdeutsche Sprechtheater« in historischer Hinsicht von den antiken Vorbildern, denen es im Modus der aemulatio veterum verpflichtet bleibt, in sprachlich-theaterpraktischer Hinsicht vom neulateinischen Schauspiel der Frühen Neuzeit (S. 28-59). Sprachlich gemischt liegen die Verhältnisse beim Drama der Jesuiten im deutschen Theaterleben (S. 60-108) mit seinen verschiedenen Aufführungsformen und in den sogenannten Jesuiten-»Opern«. Getragen wird das musikalisch durchwirkte katholische Theater (S. 109-146) durch die Orden der Benediktiner, Augustiner, Piaristen, aber auch durch Bruderschaften, Stadtbürger oder Liebhaber. Der Abschnitt »Ganz gesungene Spiele in deutscher Sprache« (S. 147-207) präsentiert das Gattungskonzept der Oper sowie Liederspiele und Singpossen als angrenzende Formen, wobei zuletzt die »paradramatischen Formen« (S. 208-222) von Actus (bedeutsam die Nürnberger Spielart mit Johann Klaj), Gregoriusfest (eine in Görlitz, Altenburg und Zittau wirksame Tradition), »Auffzug« (als »Schauspiel in Bewegung« [S. 215] ein höfisches Maskenfest, aber auch als Trionfo Element der Machtinszenierung) und Prozession (v.a. im katholischen Bereich) Erörterung finden, die allesamt musikalische Elemente aufweisen.

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Teil II: Wenn der zweite Teil die Systematik der frühneuhochdeutschen Schauspielmusik (S. 223-652) entwirft, so verklammert bereits die Formulierung der Überschrift Sprache und Musik programmatisch. Als Theorie der Schauspielmusik (Abschnitt A, S. 223-264) skizziert Scheitler die Poetik im historischen Aufriss und erläutert gut rhetorisch angesetzt Affektenlehre und Affektgebrauch (S. 154-264) in beiden Medien. Musikalischer wie sprachlicher Performanz gilt der umfangreiche Abschnitt B Strukturbedingte Orte des Musikeinsatzes (S. 265-347), der die Einfügung musikalischer Darbietungen in der dispositio des Textes systematisiert (Der musikalische Rahmen, S. 265-280) und vom Prolog (S. 281-292) über den Zwischenakt (S. 292-334) bis zu stummen Bildern voranschreitet, die untermalt mit Musik als eine Art argumentum des Kommenden gezeigt wurden. Bezeichnet werden diese tableaux vivant mit dem zeitgenössischen Begriff der »Verthönung« (S. 335) als eine spezifische, nicht seltene Form der »Illustration auf dem Theater« (S. 335), ein »Inbegriff theatraler Zurschaustellung« (S. 347). Die Nähe zu analogen statischen Formen des Repräsentierens ist offensichtlich, wie wir sie als Element fürstlicher Festzüge, aber auch aus der religiösen Praxis als teatro sacro und Passionsspiel kennen. 2 Im Drama bieten die Verthönungen Gelegenheiten musikalischen Einsatzes, mit Prologfunktion oder als gliederndes Zwischenelement, jedenfalls mit der Möglichkeit, das dramatisch Gezeigte auch in den Bereich des Traumes, der Vision, des Unsichtbaren zu erstrecken. Die Medien der Verthönung reichen vom Ensemble der dramatis personae über Gemälde und Schattenriss bis zur Laterna Magica (S. 346 f.).

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Abschnitt C entfaltet eine zum Umfang eines eigenen Buchs angewachsene Darstellung der Musikpraxis und ihren musikalischen Formen (S. 348-548) zunächst im Zeichen der Aufführungspraxis unter dem Zusammenwirken von Bühne, Musikern und Schauspielern (und deren Musizieren). Die Formenlehre setzt mit liturgischen Gesängen und Kirchenliedern ein (S. 364-394), die Instrumentenlehre (S. 395-425) beschränkt sich nicht auf das Arsenal historischer Instrumente und spieltechnische Fragen, sondern belegt deren semantische Aufladung und spezifische Verwendung – zurecht heißt der letzte Abschnitt Spielpraxis, Ensemblespiel und Ansehen der Instrumente (S. 420-425). Die enorme Verbreitung und Tradierbarkeit des melodischen Materials untersucht ein Abschnitt über Liedfavoriten, Kontrafakturen und Brauchtumslieder (S. 426-449). Als Entdeckung präsentiert Scheitler das »Pritschenlied«, die musikalische Begleitung oder Zusammenfassung einer Prügelszene, die als »eigene Liedgattung« (S. 443) gelten darf, und dies von Hans Sachs an (S. 444): »Das Pritschenlied hat die Funktion, die rhythmische Arbeit des Zuhauens zu begleiten, ebenso wie der Gesang beim Dreschen und Schmieden« (S. 443). Scheitler unterscheidet die Große Pritsche als deftige Verprügelung von der Kleinen Pritsche als einem Rügebrauch, wobei in sublimierter Form die »Auspeitschung durch das Gewissen« (S. 449) den zivilisatorischen Endstand des Brauchtums markiert: »Vielmehr wurden bei Kongehl und Stieler belehrende Lieder gesungen« (ebd.).

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Sehr enzyklopädisch präsentiert wird die Vokale Schauspielmusik und ihre Formen (S. 450-482), wo sich die Formenvielfalt der Zeit aufspreizt, von der Terminologie beginnend (»Hofweise«, »Bergreihen«, »Humanistenoden«) und alles in der szenischen Verwendung belegt aus dem Materialband. In einer (für LiteraturwissenschaftlerInnen) schwindelerregenden Varietät von Formen purzeln Strophigkeit und Formenvielfalt, Meistergesang und Meistersinger, Tenorlieder (»Tonsätze, in denen sich der Cantus firmus in der Mitte der Mehrstimmigkeit befindet«, S. 457), Tanzlieder und Chöre, »Bicinien und Tricinien« (S. 461-464), es erscheinen »Vierstimmige Liedsätze mit leitendem Diskant« neben Motteten, Kanones (»Das eigenartige Phänomen des Judenkanons gibt zu denken.« S. 469), Madrigalen, »Villanellen, Kanzonetten, Balletti« und Echoliedern bis zu den Sonetten.

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Der Formenlehre folgt der literarhistorisch wichtige Abschnitt Lied und Lyrikreform (S. 482), der zur Kunstdichtung nach Opitz überleitet (insgesamt S. 482-500). Hier erörtert Scheitler dessen neue »Liedmodelle« (S. 484) und den Gesangscharakter vieler seiner Gedichte, dann die Arien Heinrich Alberts, »Die Bedeutung Paul Flemings« (S. 491), Adam Kriegers und Johann Rists, bevor es im Formenrepertoire des Bühnenliedes weitergeht, wo nun Arie, Rezitativ, »Concerto und mehrteilige Formen« (S. 505-507) und das Generalbasslied Behandlung finden. Der Abschnitt reicht bis zur Übernahme von Schauspielliedern in anderen Dramen (S. 514-516) und zur Problematik der Tradierungslinien und ihrer Darstellung.

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Auch Tanz und Ballett (S. 517-548) spielen auf der Bühne eine wesentliche Rolle. »Originale Musik zu Schauspieltänzen ist kaum je überliefert« (S. 529), doch wertet Scheitler auch hier alle Spuren ihres Fundus trefflich aus. Gehäuft (und dramaturgisch unkritisiert) wird bei Bühnenhochzeiten getanzt (S. 520 f.). Bauerntänze, aber auch Teufels- und Todestänze ergänzen das Spektrum, wobei in den Schuldramen der Jesuiten oder Piaristen mehr und öfter getanzt wird als in den evangelischen Anstalten (S. 536). Das Ballett dagegen ressortiert eher zum höfischen Schauspielbetrieb (S. 543-548).

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Abschnitt D behandelt die speziellen Aspekte der frühneuzeitlichen Schauspielmusik (S. 549-652) in drei Feldern. Musikaffine Figuren und Szenen (S. 549-584) erlauben eine Klassifikation der Einlagesituationen von Musik in die Dramenhandlung, etwa als Tafelmusik, Ständchen, Schlachtdarstellung, Musikalischer Spaß oder als Marker »herausgehobener Lebenssituationen« ihres Personals (S. 571; Opfer, Gebet, Kerker, Schlaf und Traum, Funeralkultur). Insbesondere ruft die Darstellung des Numinosen (S. 577) nach Musikbegleitung (Geister und Gespenster, Himmel, Meer und Wasser). Den Aspekt der Geschlechterrollen thematisiert im dritten Feld der Hinweis auf Frauen und Mädchen auf der Bühne (S. 585-619), die als Instrumentalistinnen oder Schauspielerinnen auftraten. Vor den Vorhang holt Scheitler beispielhaft »Drei besondere Frauen […] eine Dichterin, eine Komponistin und eine Patronin« (S. 608), kurz die Widmungsadressatin Gräfin Anastasia von Waldeck (Nr. 774-776) als Patronin, dann die Dramatikerin Sibylla Schuster geb. Neydhard (Nr. 1639-1685) mit ihrem Ophiletes (Nr. 999-1001), eine Nachfolgerin Lohensteins (I/744; II/609-611), sowie sehr ausführlich Herzogin Sophie Elisabeth von Braunschweig-Lüneburg (Nr. 1613-1676; 611-618), Komponistin von Schottels FriedensSieg (1642; Nr. 991-994) sowie von Festaufzügen, Maskeraden und Gratulationsdichtungen, unter denen die Glückwünschende Freüdensdarstellung auf Herzog August heraussticht (1652/1655; übrigens laut Scheitler weder Schauspiel noch Oper).

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Fallstudie Zittau

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Exemplarisch demonstriert Scheitler zuletzt eine der vielen Anknüpfungsmöglichkeiten ihres Handbuchs durch eine kleine Studie Musik und Theater in Zittau (S. 619-650), kann doch keine vergleichbare deutsche Stadt »auf ein solch reiches Oeuvre an Schuldramen mit Notenüberlieferung zurückblicken wie Zittau« (S. 619). Die Anfänge des Schulspiels setzen mit dem Gründungsdatum 1586 ein, »1622 kam vermutlich der erste deutsche Originaltext auf die Bühne«, wahrscheinlich Martin Böhmes Holofernes-Drama (Nr. 141). Christian Weise wurde von 1678 bis 1708 »in Zittau zum produktivsten Dramatiker des deutschsprachigen 17. Jahrhunderts« (S. 627), unterstützt von Komponisten wie Moritz Edelmann und Johann Krieger. Weise und die Musikverwendung seiner Dramen ist im Materialband auf fast 60 Druckseiten mit 91 Einträgen dokumentiert (Nr. 1084-1175, I/S. 807-865). Im Lichte der Tradition, wie sie mit dem Handbuch überblickbar wird, erscheint Weise weniger als Repräsentant der Frühaufklärung denn als charakteristischer Barockdramatiker (S. 645). Die Schule Zittaus mit ihrer herausragenden Schauspielpraxis strahlte in räumlicher Hinsicht wie auch in zeitlicher über die Hamburger Oper bis Pfalz-Neuburg aus (S. 649).

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Neue Autoren und neu aufgefundene Spiele ergänzen den Materialteil durch den wichtigen Anhang des Darstellungsbandes (S. 654-680). Unter den Addenda unbedingt nennenswert ist die Erweiterung zu Simon Dach (Nr. 232; S. 658-663) oder die Ergänzung des mageren Eintrags zu Simon Gerengels Johannesdrama nach einem Nürnberger Druck 1558 im Bestand der Wienbibliothek (Nr. 317) durch die genaue Beschreibung der Ausgabe Erfurt 1559 im Bestand Wolfenbüttels (S. 665-668). Verlässliche Verzeichnisse und Register gewährleisten den hohen Standard eines Nachschlagewerks, 3 wie auch insgesamt die tadellos sorgfältige Lektorierung des Unternehmens dessen außerordentliche inhaltliche Qualität unterstreicht.

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Dokumentation und Interpretation

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Die Probleme ihres Ansatzes, die Bindung der Untersuchungsperspektive an die deutsche Sprache, die Konzentration auf die Musik, die Frage entsprechender Gattungskonventionen und ihrer Poetik – all das ist Scheitler bewusst und wird im Darstellungsband einleitend angesprochen. Die strikte Beschränkung auf das Musikalische ist strukturierendes Dispositiv, aber auch Fessel, denn manchmal wünschte man sich breiteren Ausgriff in den Bereich der Literatur. Die »musikalische Verschönerung einer Hochzeit« (II/S. 438) könnte durch einen Blick auf die Epithalamia ergänzt und ausgeweitet werden, denn auch hier ist der Aspekt der Aufführung zentral. Als »volksliedhafte Brauchtumsgesänge« (Kapitelüberschrift ebd.) ist das Phänomen der galanten Gelegenheitslyrik und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu eng klassifiziert bzw. die Relation zur (akademischen) Okkasionsdichtung nicht klargelegt.

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Scheitlers enzyklopädische Schauspielmusik ist weder Bibliographie noch Literaturgeschichte und dennoch beides, ein Werk voller bibliographisch neuer Funde und literarhistorisch bedeutsamer Befunde. Scheitler versteht aus der sachkundigen Erfassung der Aufführungssignale und der quellenbasierten Rekonstruktion der Spielpraxis Ansätze neuer, weitergehender Interpretation zu gewinnen, und zu Recht haben Besprechungen etwa die neue Sicht auf die Dramen Andreas Gryphius´ hervorgehoben. Dazu ein genauerer Blick auf die Relation von Dokumentation und Interpretation.

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Bibliographen finden im besprochenen Buch nicht nur Hilfreiches. Warum die vielen Dramen (Nr. 658-667) des in Steyr (OÖ) als Rektor wirkenden Nürnbergers Georg Mauricius zwar während der zwei letzten Jahrzehnte des Reformationsjahrhunderts in seiner (protestantischen) Schule aufgeführt, aber allesamt 1606/07 in Leipzig bei Abraham Lamberg gedruckt wurden (ab 1600 war Mauricius wieder in Nürnberg I/S. 494, und zwar infolge der beginnenden Rekatholisierung Steyrs), findet nirgends Aufklärung. Scheitler ist am Inhalt interessiert und an den Spuren seiner theatralen Umsetzung, und bei Mauricius beeindruckt nun einmal, dass er dem Gottseibeiuns das Wort erteilt: »Mauricius lässt den Teufel selbst ausführlich zu Wort kommen, wobei sich Satan durch seine ordinäre Ausdrucksweise gründlich desavouiert« (II/S. 551; vgl. auch II/S. 360). Die im VD17 verzeichneten Drucke Mauricius´ sind alle bei Scheitler aufgenommen und autopsiert, manche daher versehen mit dem Mangelvermerk »Keine Musikhinweise« (Comoedia von allerlei Ständen Nr. 662, Comoedia Von den Weysen aus dem Morgenlande Nr. 664, Comoedia von Haman Nr. 666). Somit man kann nur bewundern, was trotz des Verzichts auf bibliographische Beschreibungsstandards an Einzelarbeit auch in kleinen Einträgen steckt. Die Stärcke deß Glücks/ und der Tugend/ Oder Der Irenae Liebs-Begebnussen (Nr. 1345, I/S. 1008) ist die gedruckte Perioche einer Geburtstagsaufführung für die Kaiserinwitwe Eleonora (Wien: Cosmerovius 1661). Hier wird die handschriftliche Auflösung des Autornamens im Exemplar der SB Berlin als Fehler nach Wellers Pseudonymenlexikon identifiziert und abgewiesen, die im VD17 genannte deutsche Aufführungssprache korrigiert und das von Giacomo Tiberti komponierte italienische Originallibretto La forza della fortuna e della virtù o vero gl´amori d´Irena mit Weilens Aufführungsverzeichnis (1901) ausfindig gemacht und datiert. Was druckgeschichtliche Informationen in der Art der Dokumentation an Gewicht verloren haben, gewinnt die Darstellung durch die Erhellung der medialen Komplexität im plurimedialen Aufführungszusammenhang.

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Franz Callenbachs Satiren auf der Schulbühne und im Druck

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Ganz besonders deutlich zeigt sich die Leistung des Werks im Zusammenhang von Dokumentation und Interpretation am Beispiel der Wurmsatire des in Wetzlar wirkenden Jesuiten Franz Callenbach (1663-1743) aus dem ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts (Nr. 194-196). Die Informationen des Handbuchs bleiben bibliographisch bei Dünnhaupt 4 stehen, ja bereits davor, denn die Drucke von Callenbachs mit deutschen und lateinischen Textpartien ganz auf die Schule konzentrierter Dramatik sind nicht mit Dünnhaupts Nummern identifiziert, ja nicht einmal mittels Umfangangaben spezifiziert. Scheitler veranschlagt drei Fassungen dieser mit den Fehlern der Welt als »Würmern« befassten Theatersatire, eine mit deutschem Titel Wurmland, die sie bloß verzeichnet (Nr. 194), eine mit lateinischem Titelblatt als Wurmatia (Nr. 195) und eine mit einer Landkarte von Wurmland (Nr. 196). Die ersten beiden Fassungen bieten trotz verschiedensprachiger Titelblätter in lateinischen und deutschen Partien (Dialogen, Chören, Liedern) einen zu allermeist wort-, aber nicht satzidentischen Text, und korrekt vermerkt Scheitler mit Blick auf den Wortlaut: »Keine wesentlichen Unterschiede in beiden Ausgaben.« (Nr. 195, Rubrik »Kat.« für »Kategorisierung«). Die dritte bringt als Ergänzung einen in der lateinischen Satire der Zeit geläufigen Illustrationstypus (vgl. die Utopien von Jakob Bidermann 1640, die Dünnhaupt 3.13 nennt, und Thomas Morus 1516), auf die dann auch eine entsprechende Variante des Titelblatts verweist. Bei der Wurmsatire bestehen unterdessen abgesehen von dieser graphischen Zutat zwei doch deutlich unterscheidbare Fassungen, eine mit 128 Druckseiten, die andere mit 144. Die Schwierigkeiten der Druckbeschreibung und Auflagendifferenzierung lässt Dünnhaupts genaue Verzeichnung ahnen und sollen hier nicht weiter beschäftigen, geht es doch vor allem um den Dramentext. Auch Scheitlers Nr. 194 und 195 umfassen tatsächlich weitestgehend identischen Text, beide mit 128 Seiten. Von Nr. 196 wird das deutsche Eingangslied der zwei »Wurmschneider« zitiert (I/S. 131), das verwendete Exemplar der UB Würzburg (Sign. L.g.o. 531) hat aber 144 Seiten und stellt die erweiterte Ausgabe dar, von der ebenfalls mehrere Druckvarianten existieren. Ihr fehlt der lateinische »Prologus Musicus« (Regest bei Nr. 195, I/S. 129), es geht sofort mit dem anzitierten Wurmschneiderdialog los (den es bereits in der kürzeren Ausgabe gibt; bei Nr. 195 wird er nicht erwähnt). Ein Vergleich der Drucke selbst erweist insgesamt, dass die längere Fassung stärker ins Deutsche tendiert; kein lateinisches Titelblatt findet sich mehr bei diesen Druckvarianten, und auch die dem Drama abschließend angehängte lat. »Epistola Consolatoria Ad Podagricos« (S. 124-128; Scheitler erwähnt sie nicht), mit der Callenbach eine alte Thementradition weiterführt (vgl. J. Balde), fehlt zumeist in den Drucken der umfangreicheren Fassung. Der einleitende lateinische Prosadialog mancher Szenen ist dort neu zusätzlich ins Deutsche übersetzt, was den Umfang eben leicht anschwellen ließ, etwa die »Duo Juvenes« (Wurmatia D 3.7, 5 S. 69) im dritten Aufzug (»Hauß=Wurm«) des zweiten Aktes (D 3.10, S. 82 f.) oder die »Duo Politici« im siebten Aufzug (»Spiritus Nationalis, Art=Wurm«, D 3.7, S. 88 f.) mit den hübschen französischen Einsprengseln ins Lateinische, die neu ein ebenso fremdwortdurchsetztes Deutsch sprechen (D 3.10, S. 107 f.). 6 Die Frage bleibt bestehen, in welcher Relation dies zur möglichen Aufführung steht, sei sie erfolgt, sei sie erneut ermöglicht, und weshalb in der erweiterten Ausgabe gerade die Dialoge zusätzlich verdeutscht wurden.

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Auf diese Entwicklung und ihre Details kann die Darstellung verzichten, denn wichtiger als Bibliographisches sind Textsignale und Aufführungszeugen, etwa das im Stadtarchiv München liegende, auf 1712 datierte handschriftliche Regiebuch von Callenbachs Quasi vero, Der Hinckende Bott Hat sich Wohl. Sive novellae politico-morales (Drucke ab 1714), 7 weil es um Schauspielmusik und Aufführung geht, und dies begründet auch die selektive Dokumentation eben nur jener deutschen Szenen, die damit zu tun haben oder dies vermuten lassen. Denn sehr ausführlich wird zitiert, etwa zum Wurmland zwei ganze Druckseiten (I/S. 129-131), was dem trockenen Datenmaterial Anschaulichkeit und Attraktivität verleiht. Und weil jedes Exemplar der eingesehenen Drucke mit Standort und Signatur nachgewiesen ist, liefert das Lexikon auch hier Dokumentenqualität und wissenschaftliche Anschließbarkeit.

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Diese material- und aspektereiche Dokumentation ergänzt nun der Abschnitt über Callenbach im Darstellungsteil (II/S. 87-92). Beginnend mit der speziellen Diasporasituation der praktisch einzig aus Callenbach bestehenden Jesuitenniederlassung in Wetzlar rekonstruiert Scheitler deren Theaterbetrieb, reflektiert auch hier die Funktion gedruckter Periochen bzw. Aufführungstexte und arbeitet aus enormer Kenntnis der zeitgenössischen Dramatik Callenbachs dramaturgische Spezifika heraus: das Fehlen der Intermedien und Allegorien, den »Reihenspielcharakter der Aufführungen« (II/S. 89) und ihren Revuecharakter. Dies resultiert aus den Zwängen der Situation, den wenigen Schülern als Akteuren, den beschränkten Mitteln. Die Zuweisung chorischer Teile ans Lateinische und der solistischen Textpartien ans Deutsche korreliert mit musikalischen Notwendigkeiten und Praktiken (II/S. 89 f.), was als Hintergrund der hier leicht verunklarenden Einrichtung der Originaldrucke höchst plausibel rekonstruiert wird. Scheitler betont die parodistischen, burlesken und grotesken Züge auch der musikalischen Einrichtung und gelangt zum pointierten Urteil: »In ihrer Skurrilität und satirischen Kraft übertreffen die Callenbachschen Texte alle zeitgenössischen Schauspiele. […] Einen wesentlichen Anteil an der Satire hat die Musik, nicht nur durch ihre Gesangstexte, sondern auch durch die Parodie von Gattungen.« (II/S. 92) Somit wird Callenbachs Dramenschaffen insgesamt, das in den Nachschlagewerken zu Unrecht das verstetigte Etikett als »Lesedramen« trägt (vgl. dazu II/S. 89, Anm. 122 sowie II/S. 92), in einer sehr spezifischen Entstehungs- und Wirkungssituation überzeugend sichtbar. 8

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Ein beeindruckendes Standardwerk

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Von Reichhaltigkeit, Meilenstein, immensem Erkenntnisgewinn und Standardwerk sprachen bereits die Rezensionen des Materialbands. Die durchgängig hohe Informationsdichte macht es schwer, Einzelnes als besonders gelungen hervorzuheben. Exemplarisch genannt seien drei bedeutsame Forschungsimpulse:

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1. Scheitlers Buch dokumentiert die Mobilität der Stoffe und der Formen, oder, postaristotelisch geschärft, die Spannweite des Kommunikationssystems Theater quer durch historische, institutionelle und poetologische Formationen, auch über die Konfessionsgrenzen hinweg. Die Praktiken theatralischer Repräsentation in den Institutionen Schule, Stadt und Hof sowie die Klassifikationsmuster von Drama und Oper bedürfen für die Frühe Neuzeit einer kulturwissenschaftlichen Differenzierung und Neuordnung.

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2. Deutlich wird die außerordentliche Präsenz der Musik als Ausdruck der Aufführung, Multimedialität und Performativität barocker Dramatik, die Verquickung medialer Systeme im Dienste der Publikumswirkung im städtischen, schulischen und höfischen Bereich. Vom Begriff des barocken »Lesedramas« wird nur mehr unter besonderer Vorsicht und genauer Nachschau zu reden sein.

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3. Die Auswertung des Materials hebt dieses Werk weit über eine reine Faktensammlung oder eine Enzyklopädie musikalischer Formen hinaus, sondern zeichnet ein neu akzentuiertes, faszinierendes Epochenbild der Frühen Neuzeit.

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Hochpräzise aufbereitetes Wissen, vorzügliche Benutzbarkeit, exzellente Kommentierung und umfassende, aber unaufdringliche Auseinandersetzung mit der Forschung nicht nur im Darstellungsband, sondern auch im Kleingedruckten des Dokumentationsbandes (vgl. z.B. zu Nr. 776, I/S. 582) zeichnen das Werk aus, sowie nicht zu vergessen der souveräne, bisweilen wohlgelaunte Darstellungsstil, etwa zur Semantik des Tanzes in Jos Murers Belägerung der Statt Babylon (Zürich 1560, Nr. 713): »Dass im Gespräch über Instrumente […] sich die Zuhörer zum Tanzen animiert fühlen, kann im strengen Zürich nichts Gutes bedeuten […]. Nach dem Essen wird schon wieder getanzt (S. 241). Man sieht: Die Babylonier leben in gottlosem Saus und Braus, doch steht ihr Unheil unmittelbar bevor« (II/S. 518). Omne tulit punctum auch hier. Irmgard Scheitler hat ihre Leistung zu bescheiden bezeichnet. Was sie »Schauspielmusik« nennt, ist ein umfassendes Kompendium frühneuzeitlicher Theaterkultur, an dem für die kulturwissenschaftlich orientierten Fächer kein Weg mehr vorbeiführt.

 
 

Anmerkungen

Die Nummern beziehen sich auf den Materialteil, die Seitennachweise in der Regel auf den Darstellungsband. Wenn zur Unterscheidung erforderlich, steht zusätzlich die römische Bandziffer.   zurück
Sakramentale Repräsentation. Substanz, Zeichen und Präsenz in der Frühen Neuzeit, hg. v. Stefanie Ertz, Heike Schlie u. Daniel Weidner. München: Fink 2012.   zurück
Dass im Zuge der langen Bearbeitung die Verweisziffern durcheinander geraten können, verwundert nicht (vgl. die beiden letzten Verweise II/517; der Verweis II/608 auf Nr. 774 wohl besser »774–776«), erstaunlich ist im Gegenteil die überaus präzise Verwaltung eines so verweisdichten Kompendiums.   zurück
Die Druckgeschichte ist, wie der Forschung bekannt, trotz Dünnhaupts bahnbrechendem, weil ausschließlich auf Autopsie beruhendem Eintrag ganz unentwirrt, sodass die Klage über dieses Faktum jede Arbeit über Callenbach begleitet, vgl. etwa Dieter Breuer: Satirische Kritik am »Consumptions-Staat«. Franz Callenbach SJ und sein Almanach (1714). In: Spee-Jahrbuch 21/22 (2014/2015), Trier 2016, S. 255-270, hier S. 260. Zu Callenbachs Werk Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verb. u. wesentlich erw. Aufl. des Bibliographischen Handbuchs der Barockliteratur. Bd 2: Breckling-Francisci, Stuttgart: Hiersemann 1990, S. 949-968, zur Wurmsatire Nr. 3, S. 950-953.   zurück
Verglichen wird hier das Digitalisat der von Scheitler Nr. 194 verwendeten Ausgabe mit 128 S. (BStB München P.o.germ. 1645), nach Kollation und angegebener Satzvariante auf S. 66 als Druck Dünnhaupt 3.7 identifizierbar, mit dem Digitalisat der BStB München P.o.germ. 1644, 144 S., nach Zeilenfall und Kennzeichen Dünnhaupt 3.10.   zurück
Hier ein ebenfalls hübscher Druckfehler: Aus dem Schlusswort des Dialogs »Basta cʾest la mode« (D 3.7, 89) wird in der erweiterten Ausgabe »Bestia, es ist die Mode.« (D 3.10, 108) …   zurück
Quasi Vero, in Saturnalia Dramate exhibitum ab Uno Patrum Societ. Jesu Wetzlariae. Wetzlar 1712. »Bruchstückhaftes hs. Regiebuch, enthält nur Teile von Akt I. Der Text endet mit Inductio, das ist Szene 5.« (Nr. 201, I/133). Wenig präzise Breuer 2016, S. 260: »Ein handschriftlicher Spieltext ist nur vom ›Quasi‹-Stück erhalten geblieben.«   zurück
Noch ohne Rückgriff auf Scheitler, die nun einen Gesamtüberblick erlaubt, hat Dieter Breuer (wie Anm. 5) diesen Befund mit Dammert (1903) und Behrens (1981) für eine überzeugende Einzelinterpretation fruchtbar gemacht.    zurück