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Faszination der Zahlen

Novalis und die Mathematik

  • Franziska Bomski: Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis. Zum Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800. (Deutsche Literatur Studien und Quellen) Berlin: Walter de Gruyter 2014. 238 S. Hardcover. EUR (D) 79,95.
    ISBN: 9783050063874.

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Gemeinhin gilt der frühromantische Schriftsteller Friedrich von Hardenberg (1772-1802), der sich den Künstlernamen Novalis gab, als Inbegriff eines gefühlsbetonten, melancholischen und schwärmerischen Poeten. Dass er sich außer seiner mystisch und anti-aufklärerisch anmutenden Dichtung auch mit Bergbaukunde, Chemie und Naturlehre auseinandersetzte, ist allerdings nur wenig bekannt. In ihrer jüngsten, auf ihrer Promotion aufbauenden Monographie, die ihren Beitrag zur Erforschung einer »Poetologie des Wissens« (Josef Vogl) leistet, versucht Franziska Bomski, die seit 2012 Forschungsreferentin für die Klassik Stiftung Weimar tätig ist, dieses Bild zu korrigieren.

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Aus einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektive heraus widmet sie sich in dieser Arbeit der Frage, welche Bedeutung die zeitgenössische Mathematik im literarischen Œuvre Novalis’ einnimmt. Methodisch geht die Autorin sowohl werkimmanent als auch -transzendent vor. In ihrer Studie analysiert und interpretiert sie Novalis' fragmentarische und stichwortartige Aphorismen-Sammlung Allgemeiner Brouillon sowie sein Romanfragment Heinrich von Ofterdingen, wobei sie den wissensgeschichtlichen Rahmen um 1800 nicht aus den Augen verliert.

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Einfluss auf Novalis: Kombinatorische Analysis und Fichte-Studien

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Systematisch habe sich Hardenberg mit der Mathematik, so hebt Franziska Bomski im einführenden Teil hervor, bereits während seiner Leipziger Studienzeit in den frühen 1790er Jahren auseinandergesetzt. An der Freiberger Bergakademie erlernte er Geometrie als praxisorientierte Disziplin für seine Ausbildung als Bergmann. Zudem habe Novalis, so mutmaßt die Verfasserin, die Vorlesungen des Philosophie-Professors Karl Friedrich von Hindenburg (1741-1808) besucht, dessen Gelehrtenname mit der kombinatorischen Analysis und der algebraischen Formalisierung geometrischer Phänomene verbunden wurde. Wie Franziska Bomski darlegt, erfuhr die Mathematik um 1800 einen grundlegenden Wandel, der ihrer These zufolge sich auch auf Novalis' Schaffen auswirkte. Zunehmend setzte sich die Algebra als »Fundamentaldisziplin der Mathematik« (S. 102) gegenüber der euklidischen Geometrie in den Studienplänen durch. Die von Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelte Infinitesimalrechnung – die heutige Differential- und Integralrechnung – löste die erkenntnistheoretische Frage nach der Bestimmung unendlich kleiner Größen aus. Doch nicht nur die akademische Infinitesimalrechnung und Geometrie beeinflussten Novalis' mathematisches Denken. Auch die formalisierte Logik in der Philosophie sowie Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (1781), derzufolge Gleichungen zu den synthetischen Urteilen gehören, beeinflussten sein Ideengebäude. Die Verfasserin vertritt sogar die zugespitzte These, dass Novalis die von Kant hervorgerufene epistemische Trennung zwischen Mathematik und Metaphysik in einem Projekt mit dem spielerischen Kunstnamen Enzyklopädistik revidieren wollte.

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Ars combinatoria: Die Mathematik in Novalis' Fragmenten

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Im zweiten Teil ihrer Monographie wendet Franziska Bomski die Ergebnisse ihrer wissenschaftshistorischen Studie auf die Werkexegese des Allgemeinen Brouillon an. Für das Verständnis von Novalis' Denken nimmt ihrer Auffassung nach das in ihm entworfene Enzyklopädistik-Projekt eine zentrale Rolle ein. Ein Ziel dieses Systems bestand darin, sämtliche Formen des Wissens – dem ordo-inversus-Gedanken gemäß - in einer neuen Ordnung zusammenzufügen. Stichwortartig vereinigte Novalis im Allgemeinen Brouillon – ganz im Sinn von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftslehre, in der er dialektisch entgegengesetzte Elemente bestimmte –, sämtliche Episteme in fragmentarischer Form. Dem frühromantischen Programm der »Universalpoesie« gemäß sollten in dieser elliptischen Anordnung sowohl der Gegenstand der Untersuchung als auch die Untersuchung als paradoxes Phänomen gleichermaßen berücksichtigt werden. In seiner Konsequenz lässt sich das Zusammenspiel von Wissen und die Selbstreflexion dieses Wissens bis in die Unendlichkeit potenzieren.

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Darauf aufbauend, legt Franziska Bomski dar, wie die Mathematik als »Wissenschaft und Kunst« in diesem System eine Schlüsselrolle einnimmt. Von dieser Disziplin habe Novalis die komplementären Verfahren der Analyse und Synthese entlehnt und sie auf sein Enzyklopädistik-Projekt übertragen. Diese Methodik, die sich bereits bis zu Euklid zurückverfolgen lässt, verortet Franziska Bomski im mathematikhistorischen Kontext des mit Condorcet und Laplace assoziierten Infinitesimalkalküls, das um 1800 auf dem Zusammenspiel von Differential- und Integralrechnung, von progressus und regressus, beruhte. Ihrer Auffassung nach stellte die Mathematik mit ihrer formalisiert-logischen Schreibweise für Novalis eine wichtige Inspiration zur Auflösung philosophischer Grundfragen dar. Mithilfe der unendlichen Reihe aus der Analysis habe er die poetische Selbstreflexivität in eine algebraische Formelsprache übertragen können. Zur mathematischen Modellierung in einem »Alphabet des Denkens« (S. 123) ließ sich Novalis zusätzlich von Leibniz' ars combinatoria zu einer »synthetische[n] Erfindungskunst« (S. 130) inspirieren. Anhand der analytischen Tafeln des Philosophie-Professors Hindenburg, die er höchstwahrscheinlich benutzte, konnte eine Gesetzmäßigkeit von Zahlenreihen erschlossen werden. Laut Franziska Bomski stellte die kombinatorische Analysis eine Inspiration für Novalis' spielerischen Umgang mit Begriffen dar. Nach einem logischen Schema fügte er Worte kompositorisch zu Neologismen zusammen. Zusätzlich ließ er sich von der Methodik des Logarithmierens und Potenzierens, die er aus der Analysis entlehnte, für sein Enzyklopädistik-Projekt inspirieren. Der Verfasserin zufolge steht dieses Verfahren sinnbildlich für den Versuch, das Wissen auf einen Grundbegriff zu reduzieren beziehungsweise es in einem epistemischen Gebäude zu produzieren. In Novalis' Fragmenten erfüllt die Mathematik den Zweck, so entnimmt man dies Franziska Bomski, den Anschein von Gesetzmäßigkeit in einer ironischen Weltordnung zu wecken.

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Poetologie der Kontingenz: Mathematik in Novalis' dichterischem Werk

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Auch auf das dichterische Werk lasse sich der zentralen These Franziska Bomskis zufolge das Interesse Novalis' an der kombinatorischen Analysis nachweisen. Seinem Erzählfragment Heinrich von Ofterdingen liege eine Poetologie der Kontingenz zugrunde. Wie auch bei den unendlichen Zahlenreihen stellt der Roman die Komposition zufälliger Ereignisse mit Anfang und Ende dar, die durch einen schöpferischen Akt einen Sinnzusammenhang ergeben. Anhand der sinnbildlichen Handlung des Klingsohr-Märchens, in dem die Fabel als allegorische Sinnfigur der Poesie eine gesetzmäßige Ordnung stiftet, zeigt sich der Einfluss der kombinatorischen Analysis, der durch Kartenspiel-Metaphern unterstrichen wird. Der Interpretation Franziska Bomskis zufolge, die am Ende ihrer Monographie die Relevanz der Astronomie für Novalis' Enzyklopädistik untersucht, stehen in dieser phantastischen Binnenerzählung die Himmelskörper für eine »Analogisierung von Weltall und Gemüt« (S. 183). Das Geschehen des Klingsohr-Märchens stelle sich für den Leser als theatrumastronomicum dar, auf dem die Figuren sowohl die Akteure als auch die Zuschauer ihres Handelns seien. In ihrer Schlussbetrachtung erklärt die Verfasserin am Ende ihrer Studie, wie die Fernrohr-Metapher bei Novalis für die perspektivische Gebundenheit der Wahrnehmung steht. Der romantischen Ironie gemäß drückt diese Figur sowohl die Poesie als auch die Reflexion über sie aus. Auch in Novalis' Dichtung, so die Pointe dieses Absatzes, erscheinen die Grenzen zwischen dem wunderbar Imaginären und dem natürlich' Gesetzmäßigen in einer ästhetischen Komposition als fließend.

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Fazit

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Mathematik und Dichtung, so lassen sich die Ergebnisse zusammenfassen, nehmen in Novalis' Œuvre einen ebenbürtigen Platz ein. Für ihn bieten die unendlichen Reihen aus der Analysis den Stoff für eine literarische Versuchsanordnung, die er in seinen enzyklopädistischen Fragmenten sowie dem Roman Heinrich von Ofterdingen erprobt. Darüber hinaus regt die Verfasserin an, weitere vertiefende Forschungsfragen zu stellen. Lässt sich die kombinatorische Analyse Hindenburgs auch als Lektüreschlüssel für Novalis' Hymnen an die Nacht oder die Erzählung Lehrlinge von Sais heranziehen? Stellte die Mathematik – über Hardenberg hinaus – ein konstitutives Moment auch für andere Autoren wie die Brüder Schlegel der Frühromantik dar? Inwieweit beeinflusste die Zahlenkunst die zeitgenössische Philosophie des 'Deutschen Idealismus', dessen Hauptvertreter Hegel an der Universität Jena Arithmetik lehrte? Mit ihren diskussionswürdigen Thesen und ihrer Auswertung relativ wenig erforschter Quellen zur Mathematikgeschichte um 1800 leistet Franziska Bomski einen bedeutsamen Auftakt zur Beantwortung dieser Fragen.