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Vom Erwachsenwerden im Comic

  • Felix Giesa: Graphisches Erzählen von Adoleszenz. Deutschsprachige Autorencomics nach 2000 (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien). (Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien. Theorie - Geschichte - Didaktik 97) Frankfurt am Main u.a.: Peter Lang 2015. 405 S. 103 s/w, 24 farb. Abb. Hardcover. EUR (D) 74,95.
    ISBN: 978-3-631-66454-4.
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Dass der Comic erwachsen geworden ist, war zu Beginn des neuen Jahrtausends eine ebenso bestimmende wie umstrittene Aussage in der Auseinandersetzung mit diesem Medium. Dass zu dieser Zeit erschienene deutschsprachige Comics auch vielfach vom Erwachsenwerden handeln, war hingegen nur selten Gegenstand der Diskussion. Felix Giesa unternimmt mit Graphisches Erzählen von Adoleszenz einen ersten groß angelegten Versuch, dieses Desiderat zu beheben. Das Buch beeindruckt durch eine fundierte und detaillierte Aufarbeitung seines Gegenstandes, hätte aber von einer stringenteren und kohärenteren Argumentation sowie einer expliziten Auseinandersetzung mit einem seiner zentralen Begriffe, dem des Realismus, profitieren können.

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Im Mittelpunkt der Monographie stehen Werke einer Generation von um 1980 geborenen Zeichnerinnen und Zeichnern wie Mawil, Flix oder Aisha Franz. Ihnen allen ist gemein, dass sie ihre ersten Erfolge mit Comics feierten, die zumeist aus Abschlussarbeiten an Kunsthochschulen hervorgingen, und die, sofern sie keinen dezidiert autobiographischen Charakter besitzen, doch zumindest um das Leben adoleszenter und post-adoleszenter Figuren kreisen.

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Giesa möchte diese Arbeiten einerseits in den Kontext der Comicgeschichte einbetten und andererseits aufzeigen, dass in ihnen erzählerische Verfahren entwickelt werden, durch die ein differenziertes und realistisches Bild von Adoleszenz entsteht, das den gängigen öffentlichen Diskursen zumindest teilweise entgegenarbeitet. Für dieses Unterfangen entwirft er vier umfangreiche Kapitel. Die Studie beginnt mit Überlegungen zur Theorie und Analyse von Comics sowie zum Begriff der Adoleszenz, leitet dann über zu einem historischen Überblick zur Darstellung von Adoleszenz im amerikanischen, frankobelgischen und deutschsprachigen Comic, und führt schließlich zum Kern der Monographie, einer Analyse von sechs zeitgenössischen Adoleszenzcomics. Daneben umfasst das Buch eine knappe Einleitung und ein kurzes Fazit sowie einen Anhang mit über hundert Abbildungen.

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Das erste Kapitel setzt mit einer Diskussion des Comicbegriffs ein und geht Definitionsversuche der vergangenen Jahrzehnte von Will Eisner bis Lambert Wiesing durch. Dies wird durchaus sorgfältig gemacht, ist allerdings in diesem Ausmaß nicht unbedingt nötig für Giesas Vorhaben. Immerhin dürfte die Comicforschung inzwischen so weit fortgeschritten sein, dass nicht jede größere Studie ihren Gegenstand von Grund auf bestimmen muss. Zielführender sind dagegen die anschließenden Ausführungen zum Narrativen im Comic, versteht sich Graphisches Erzählen von Adoleszenz doch ausdrücklich als narratologische Untersuchung. Felix Giesa zieht eine Vielzahl rezenter Forschungsarbeiten heran, die größtenteils Erweiterungen oder Anpassungen strukturalistischer Modelle vornehmen. Neben den klassischen Genettschen Kategorien Stimme, Modus und Zeit finden sich im Werkzeugkasten des Verfassers somit auch Raum und Bewegung als für den Comic unerlässliche Kategorien. Insgesamt präsentiert dieses Kapitel somit ein stimmiges Analyseinstrumentarium, das freilich eher an Zweckmäßigkeit als Innovation ausgerichtet ist.

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Methodische Überlegungen bestimmen auch das folgende Kapitel, »Adoleszenz heute«. Giesa grenzt den von ihm gewählten Begriff der Adoleszenz gegenüber dem diffuseren und »überstrapazierten« (S. 60) Begriff ›Jugend‹ ab, um im Anschluss Altersstrukturen und Persönlichkeitsentwicklung dieser Lebensphase anhand der entsprechenden psychologischen und sozialwissenschaftlichen Literatur zu definieren. Daneben bietet der Verfasser − ausgehend von der bekannten Shell Jugendstudie − unter Schlagwörtern wie Sexualität, Identität, Jugendkulturen, Freunde, Freizeit und Medien(nutzung) einen Überblick über »Felder adoleszenten (Er-)Lebens« (S. 70) um die Jahrtausendwende. Während diese Ausführungen soweit überzeugend sind und relevante Materialien für den anstehenden Vergleich zwischen der vermeintlich faktischen adoleszenten Lebenswelt und ihrer Darstellung im Comic bereitstellen, fällt dieses Kapitel allerdings auch durch einige Inkonsistenzen auf. So stellt Felix Giesa auf mehreren Seiten Klaus Hurrelmanns Sozialisationstheorie ebenso wie Heinz Reinders’ Typologie von Jugendentwicklungsmöglichkeiten vor, auf beide wird jedoch im weiteren Verlauf des Buchs und gerade in den sechs Fallstudien nicht oder zumindest nicht direkt zurückgegriffen. Folglich stellt sich die Frage, welche Funktion sie erfüllen und ob man sie zugunsten einer geradlinigeren Argumentationsführung nicht hätte streichen können.

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»Adoleszenz in den Comics: Von 1900 bis 2000« lautet der weitgesteckte Titel von Kapitel 3. Wie der Verfasser umgehend erläutert, handelt es sich hierbei lediglich um einen Abriss, der sich über weite Strecken aus der bereits existierenden Sekundärliteratur speist. Dennoch bildet Giesa hier im Unterschied zu vorigen Kapiteln vermehrt eigene Thesen und liefert eine entscheidende Kontextualisierung seines Vorhabens ebenso wie der Werke, die er in den Blick nimmt. Die Entwicklung der Adoleszenzdarstellung im Comic steht, so der zentrale Gedanke, unter dem Zeichen einer zunehmenden Realitätsnähe, die zugleich eine Abwendung von überwiegend komischen Szenarien zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit Themen und Problemen dieser Lebensphase bedeutet. Im Fall amerikanischer Zeitungsstrips aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt der Verfasser, dass hier zwar eine Vielzahl von jugendlichen Figuren auftreten, diese jedoch ausschließlich die Vorstellungen der Erwachsenen widerspiegeln. Entweder fungieren die Teenager als typisierte Quelle von Humor oder sollen gerade adoleszenten Leserinnen zur Einübung bestimmter sozialer Rollen dienen. Eine entscheidende Wende macht Giesa mit dem Aufkommen der Underground Comix in den späten sechziger Jahren aus. Hier wird erstmals autobiographisch erzählt, während Jugendkulturen nun auch aus der Innenperspektive dargestellt werden. In den späteren Alternative Comics wird dies weiterentwickelt, wobei vor allem der Realismusgrad zunimmt.

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Den Verlauf, den der Verfasser für die amerikanische Geschichte herausarbeitet, ähnelt dem für den frankobelgischen wie auch für den deutschsprachigen Comic, wo die gleichen Einschnitte mit einer leichten zeitlichen Verzögerung beobachtet werden können. Felix Giesa hebt vor allem die Bedeutung des Zeichnerkollektivs und Verlagshauses L’Assocation hervor, deren Veröffentlichungen von deutschsprachigen Zeichnern um die Jahrtausendwende stark rezipiert wurden. Daneben geht er auf die deutsche Comic-Avantgarde der 90er ein, die ebenfalls wichtige Impulse für die im Mittelpunkt der Monographie stehende Zeichnergeneration lieferte. Etwas überraschend erscheint es, dass Giesa Japan nicht in seine historischen Überlegungen miteinbezieht, ist doch der Manga-Boom, den Deutschland seit zwei Jahrzehnten erlebt, mit den Themen Jugend und Jugendkulturen eng verbunden. Sicherlich ist ein solch umfassender Überblick in einer Studie wie dieser schwerlich zu leisten. Andererseits gibt es in zumindest einer der Fallstudien explizite Referenzen zum Manga, so dass der Einfluss der japanischen Comickultur auch nicht unerheblich scheint.

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Schwerer fällt allerdings ins Gewicht, dass die Privilegierung von realistischen Comics, die der Untersuchung zugrunde liegt, nie so recht hinterfragt wird und zu einer nicht nachvollziehbaren Einschränkung des Handlungsspielraums führt. Liest man das Kapitel, bekommt man leicht den Eindruck, dass eine ernstzunehmende Darstellung von Adoleszenz nur eine streng mimetische sein kann. Dort, wo fantastische oder Science-Fiction Elemente vorkommen, wie etwa in Jamiris Carpe Noctem, wird der entsprechende Comic schnell aussortiert mit dem Hinweis, dass es hier eigentlich um etwas Anderes als Adoleszenz gehe (S. 144). Offensichtlich allegorische Bearbeitungen des Themas wie Charles Burns’ Klassiker Black Hole nimmt der Verfasser zwar zur Kenntnis, misst ihren unrealistischen oder anti-realistischen Zügen aber keine besondere Bedeutung zu. Diese Ausgrenzung erscheint etwas vorschnell und man hätte sich gewünscht, dass sich die Monographie auch mit den Möglichkeiten des Comics auseinandersetzt, in Metaphern oder Allegorien etwas über Adoleszenz auszusagen. Immerhin sind auch mindestens drei der Comics, die Giesa im vierten Kapitel bespricht, keine durch und durch realistischen Erzählungen.

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In diesem letzten Kapitel, das rund die Hälfte des Buchs ausmacht, geht es also an ein close reading von sechs zwischen 2003 und 2011 erschienen Comics: Mawils Wir können ja Freunde bleiben, sag was von Flix, Kati Rickenbachs Jetzt kommt später, Naomi Fearns Dirt Girl, Arne Bellstorfs acht, neun, zehn sowie Alien von Aisha Franz. Bei den ersten drei handelt es sich um autobiographische Arbeiten, die anderen drei bezeichnet der Verfasser als ›freie‹ Adoleszenzcomics. Felix Giesa bespricht jedes Werk anhand der Kategorien und Themenschwerpunkte, die in den ersten beiden Kapiteln erarbeitet wurden. Es gibt also Unterkapitel zu den Stichpunkten: Inhalt, Paratext, Erzähltextanalyse (Stimme, Modus, Zeit, Raum, Bewegung), Freundschaft und Peergroup, coming of age/ (Sexuelle) Identität, Freizeit und Mediennutzung, Musik/ Subkultur, Intermedialität/ -textualität. Auch wenn Giesa betont, ein »starres Raster [bewusst] verm[ei]den« (S. 159) zu wollen, findet hier doch eine starke Kompartementalisierung der Analyse statt, die der Arbeit nicht unbedingt zum Vorteil gereicht.

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Die Erläuterungen zu den einzelnen Werken sind durchweg treffend und erhellend, allerdings nicht immer unmittelbar zielführend mit Blick auf die Darstellung von Adoleszenz. Dass zum Beispiel das Fahrrad in Mawils Wir können ja Freunde bleiben auch Gegenstand eines seiner Zeitungsstrips für den Tagesspiegel ist und somit hier eine intertextuelle Beziehung zwischen beiden vorliegt oder dieser Zeichner vielfach mit dem Berliner Dialekt arbeitet, scheint erstmal wenig mit dem eigentlichen Fokus der Monographie zu tun zu haben. Um diesem Kapitel einen roten Faden zu verleihen, wäre es sicherlich förderlich gewesen, die Analysen weniger als allgemeine Werkkommentare zu gestalten und stärker auf das Argument hinzuarbeiten. Daneben wären auch vermehrte Querverweise zwischen den einzelnen Beispielen hilfreich gewesen; erst in der zweiten Hälfte des Fazits werden die sechs Comics verglichen und auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede geprüft.

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Wie bereits angedeutet, setzt der Verfasser es als mehr oder weniger gegeben hin, dass es sich bei den Fallstudien um realitätsnahe Adoleszenzdarstellungen handelt. Allerdings ist in Alien die Begegnung mit einem Alien ein zentraler Teil der Handlung, bei sag was spaltet sich der Erzähler und Protagonist in diverse Alter Egos, und bei Dirt Girl handelt es sich um ein offenkundiges Pastiche aus popkulturellen Referenzen. Felix Giesa beachtet dies zwar alles und erläutert es auch, bezieht es aber nie explizit auf sein Interesse für die realistische Wiedergabe adoleszenten Erlebens zurück. Offensichtlich gehen die genannten Elemente über die Möglichkeiten mimetischer Alltagserzählungen hinaus und werden vielleicht gerade dazu genutzt, Aspekte der Adoleszenz zu verhandeln, die sich mit anderen Mitteln nicht darstellen lassen. Auch der zumindest bei Flix stark ausgeprägte Humor hätte vielleicht noch einmal Anlass geben können, in der Komik nicht nur eine Ausnutzung adoleszenter Figuren für Lacheffekte zu sehen, sondern ebenfalls eine Option, Erlebnisse dieser Lebensphase auf andere Art und Weise zu verarbeiten. Indem die Studie auch solche Strategien stärker berücksichtigt hätte, hätte sie noch einiges an Erklärungskraft dazugewinnen und ein umfassenderes Bild von Adoleszenzdarstellungen liefern können.

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Dies soll aber letztlich nicht von den durchaus achtenswerten Ergebnissen ablenken. Nach einer kurzen Zusammenfassung der ersten drei Kapitel schließt das Fazit mit einer Systematisierung der in Fallstudien gewonnenen Erkenntnisse. Nach Giesa sind die deutschsprachigen Adoleszenzcomics des neuen Jahrtausends durch komplexe Erzählverfahren gekennzeichnet, wie etwa elliptische und anachronologische Zeitstrukturen. Die autobiographischen Comics orientieren sich dabei in erster Linie an den L’Association-Zeichnern, bei den ›freien‹ Adoleszenzcomics dienen eher die amerikanischen Alternative Comics als Vorbilder. Wie der Verfasser betont, findet sich in den Arbeiten von Mawil, Flix & Co. aber eine durchaus eigenständige Bildsprache. In ihrem Umgang mit Adoleszenz bestätigen die Comics keineswegs die Vorstellung einer feier- und medienverliebten Generation, die die öffentliche Diskussion bestimmte. Stattdessen wird das »Bild einer selbstreflektierten und feinfühligen Generation Adoleszenter, die sich dennoch alle Freiheiten der Jugend nimmt« (S. 303) gezeichnet, wobei die Protagonisten der autobiographischen Werke hier wiederum eine »gefestigtere Identität« (S. 302) besitzen und konservativer auftreten als jene der ›freien‹ Comics. Hier hätte sich eventuell noch eine Bemerkung darüber gelohnt, dass sich die ausgewählten Zeichner fast durchgängig mit Heranwachsenden in ihrem eigenen, über alle Beispiele hinweg recht homogenen sozialen Umfeld beschäftigen und das Gesamtbild somit auch in eine bestimmte Richtung verzerren.

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Insgesamt leistet Graphisches Erzählen von Adoleszenz einen wertvollen Beitrag an der Schnittstelle zwischen Comic- und Jugendforschung, kann sein Anliegen auf Grund der erwähnten strukturellen und konzeptuellen Defizite allerdings nicht immer auf effiziente und überzeugende Weise präsentieren. Durch die Kürzung eher nebensächlicher Passagen hätte man die Argumentationslinie straffen können, und insbesondere der Analyseteil hätte einen organischeren Aufbau verdient, um den Eindruck eines bloßen Abarbeitens von Stichpunkten zu vermeiden. Darüber hinaus führt die Beschränkung auf mimetische Darstellungen bzw. die Engführung von Adoleszenzcomics und Realismus dazu, dass Felix Giesas Ansatz wohl nicht das gesamte Spektrum dessen zu erfassen vermag, was sich in der Comiclandschaft der letzten beiden Jahrzehnte mit Blick auf das Thema ereignet hat. Dank seiner soliden Gesamtdarstellung dürfte das Buch aber dennoch all jene ansprechen, die sich für zeitgenössische deutschsprachige Comics sowie für autobiographische Comics interessieren, und Anschluss für zukünftige Forschung bieten.