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Wie man die Fülle des Wissens beherrscht

Ein Sammelband über Medien und Strategien der Wissensspeicherung in der Frühen Neuzeit

  • Frank Grunert / Anette Syndikus (Hg.): Wissensspeicher der frühen Neuzeit. Formen und Funktionen. Berlin/Bosten: Walter de Gruyter 2015. 424 S. EUR (D) 79,95.
    ISBN: 978-3-05-004329-6.
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Literatur und Wissen – Wissen und Wissensspeicherung

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Aus genuin literaturwissenschaftlicher Perspektive löst das Auftauchen der Vokabel ›Wissen‹ im Titel einer Publikation bestimmte Theoriereflexe aus, ist doch die spannungsvolle Wechselbeziehung zwischen Literatur und Wissen seit einigen Jahren Gegenstand divergenter, eigentlich nur in loser Verbindung zueinander stehender Analyseansätze geworden. 1 Besondere Attraktivität beansprucht dabei das im deutschen Sprachraum vor allem durch Joseph Vogl propagierte Konzept einer ›Poetologie des Wissens‹, 2 womit Untersuchungsformen zusammengefasst werden, »welche die rhetorische, symbolische, literarische und mediale Verfasstheit analysieren, in der ein Wissen erscheint, dargestellt wird und in Umlauf kommt«, und zu deren Ansatzpunkten auch die Frage nach der »Speicherung und räumliche[n] Ordnung von Wissensbeständen« gehört. 3

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Der im Folgenden zu besprechende Sammelband zu den ›Wissensspeichern‹ der Frühen Neuzeit knüpft indessen nur sehr punktuell an diese Forschungsparadigmen an, und zwar nicht etwa deshalb, weil in der »Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit [...] Wissenschaft und Literatur nicht voneinander getrennt« 4 seien – was so auch gar nicht stimmt –, sondern weil die Beiträge des Bandes stärker auf die topische Organisation und pragmatische Funktion als auf die Literarizität der vorgeführten Speicherformate fokussiert sind, zumal es sich bei diesen kaum um genuin literarische, allenfalls paraliterarische Genres handelt.

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In dieser Hinsicht bildet der Aufsatz von Andreas B. Kilcher (»›Litteratur‹. Formen und Funktionen der Wissenskonstitution in der Literatur der Frühen Neuzeit«; S. 357–375) denn auch eine solitäre Erscheinung innerhalb des Bandes. Kilcher weist in einem kurzen Überblick auf aktuelle kulturwissenschaftliche Positionen hin, für die das »Wissen der Literatur«, als »genitivus subiectivus« verstanden, jenes Wissen bezeichnet, das »durch die spezifischen ästhetischen Verfahren und Formen der Literatur erzeugt und konstituiert, verhandelt und vermittelt wird« (S. 358). Am Beispiel des Epos (bzw. der Epostheorie) und des Romans – hier wurde ebenso überzeugend wie erwartbar Lohensteins Arminius gewählt – demonstriert Kilcher das Phänomen der enzyklopädischen Funktionalisierung literarischer Großformen in der Frühen Neuzeit, deren Nutzung als Wissensspeicher von den Zeitgenossen gerühmt, im Zuge der ästhetischen Transformationen des 18. Jahrhunderts dann aber bald kritisiert wurde (vgl. S. 373).

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Die Konzeption des Sammelbandes

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Doch blicken wir nun auf das Gesamtkonzept des Sammelbandes, dessen 14 Beiträge in drei Kategorien (»Politische Information – Politisches Wissen«; »Hilfsmittel der Gelehrsamkeit – Gelehrtes Wissen«; »Wissen der Praxis – Orientierungswissen«) präsentiert werden. Die Aufteilung ist im Ganzen sinnvoll, denn auch wenn unter den »Hilfsmitteln« ein sehr breites formales Spektrum von der Bibliographie bis zum Florilegium subsumiert wird, so lässt sich doch gerade an der Gegenüberstellung von letzterem mit dem Genre der ›Buntschriftstellerei‹ die Grenze zwischen produktionsorientiertem Arbeitsmittel und diskursiv zu bewältigendem Lesestoff ganz gut markieren.

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Die von den Herausgebern verfasste »Einleitung« (S. VII-XIX) klärt zunächst – im Anschluss an neuere, aber bereits geläufige Referenzwerke 5 – das im Band zugrunde gelegte Verständnis von ›Wissen‹. Der Begriff wird einerseits von der Rezeptionsseite her als »referenzialisierbare Aussagen [...], die während einer unbestimmten, d.h. längeren oder kürzeren Dauer erfolgreich kommuniziert werden« (S. IX), aufgefasst, zum anderen dadurch von der bloßen ›Information‹ abgegrenzt, dass das Wissen als geordnetes, aufbereitetes und systematisch abrufbares Set von ursprünglich isolierten Informationen verstanden wird. In der Frühen Neuzeit, als durch die radikalen Veränderungen im Bildungswesen und in der medialen Verbreitung von Erkenntnissen der Bedarf nach ebensolcher Ordnung und Verfügbarmachung von Informationen stark zunahm, entwickelten sich zwangsläufig vielfältige Arten von ›Wissensspeichern‹. Eine möglichst genaue Kenntnis von deren Strukturen und Anwendungsmöglichkeiten ist für den historischen Nachvollzug gelehrter Praktiken und anderer Nutzungsgepflogenheiten von erheblicher Relevanz. In einer knappen Übersicht stellen die Herausgeber einige Aspekte vor, unter denen die divergenten historischen Realisationsformen der Wissensspeicherung analysiert werden bzw. in der Zukunft noch zu analysieren wären.

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Historia literaria: ›litterärgeschichtliche‹ Kompendien

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Für die tägliche Praxis des Frühneuzeitforschers sind fraglos diejenigen Beiträge am gewichtigsten, die eine integrale Präsentation solcher zentralen Speicherformen versuchen, mit denen sich die Wissenschaftler als Benutzer hin und wieder konfrontiert sehen. Hier ist an erster Stelle der von Frank Grunert und Anette Syndikus gemeinsam erarbeitete umfangreiche Artikel über die ›litterärhistorischen‹ Kompendien zu nennen (»Historia literaria. Erschließung, Speicherung und Vermittlung von Wissen«; S. 243–293), zu welchem Thema vor einigen Jahren im selben Format bereits ein eigener Sammelband erschienen war. 6 Die Autoren geben dem Forscher eine quasi monographische Einführung an die Hand, mit deren Hilfe er ein Speichermedium zu erschließen lernt, in dem die ›Geschichte der Gelehrten und der Gelehrsamkeit‹ (als eine Art Vorform der Wissenschafts- bzw. Disziplinengeschichte), kurz gefasste Sachinformationen zu einzelnen Wissensbeständen und bibliographische Informationen (ggf. kritisch kommentiert) in wechselnder Gewichtung und methodisch-didaktischer Ausrichtung vorgeführt werden.

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Der Leser wird über die Entwicklung der Litterärhistorie von Frühformen im 16. Jahrhundert (Conrad Gesners Bibliotheca Universalis, 1545; vgl. S. 243–245) bis zu Transformationserscheinungen im späten 18. Jahrhundert ebenso informiert wie über programmatische Verlautbarungen von Francis Bacons einflussreicher Schrift De dignitate et augmentis scientiarum (1623; vgl. S. 253–255) an, nicht zuletzt aber auch über die konkreten Nutzungskonzepte, inhaltlichen Präferenzen, Darbietungs- (narrativ vs. expositorisch) und Strukturierungsmodelle der prominenten Litterärhistoriker wie Morhof, Reimmann, Gundling, Stolle, Heumann oder Fabricius. Abgesehen von grundlegenden Informationen, die den Weg durch das komplexe Terrain dieser Hybridform frühneuzeitlicher Wissensspeicherung zu weisen versuchen – schwierig, denn »die Gattung hat [...] keine verbindliche Binnenordnung hervorgebracht« (S. 280) –, liefert der Beitrag auch spannende Einsichten in die Strategien, mit denen die Gelehrten den sie zunehmend überfordernden Zuwachs des Wissens bewältigten. So habe Johann Georg Sulzer in seinem Kurzen Begriff aller Wissenschaften (1745) das aus der Menge des Materials resultierende »Orientierungsproblem« (S. 291) durch eine radikale Ausblendung der Geschichte der Gelehrsamkeit zugunsten einer synchron verfahrenden Darbietung des aktuellen Wissensstandes gelöst. Dieser Schritt ermöglichte die Ausdifferenzierung verschiedener Formen gelehrter Dokumentation, und die geschichtliche Perspektive konnte um die Wende zum 19. Jahrhundert in einer »an der Universalgeschichte orientierte[n] Geschichte des menschlichen Geistes und seiner Hervorbringungen« (S. 293) – etwa bei Johann Gottfried Eichhorn – durchaus auch ihren Platz finden.

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Wissensspeicher zweiter Ordnung: Bibliographien und ›Bibliotheken‹

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Teilweise überschnitten sich die Gegenstände der litterärhistorischen Handbücher mit denen von Bibliographien im weiteren Sinne, wie sie Merio Scattola (»Der ›Anweisende Bibliothecarius‹. Politische Bibliographien als Instrumente der Bewahrung und Vermittlung von Wissen«; S. 165–202) und Dirk Werle (»Die Bibliothek als Gattung. Zum Phänomen frühneuzeitlicher ›Bibliothecae‹ am Beispiel von Johann Jakob Fries und Paul Bolduan«; S. 139–163) vorstellen. In beiden Fällen gilt es sich zunächst klar zu machen, dass frühneuzeitliche Bibliographien etwas anderes sind als genaue, vollständige und unparteiliche Bücherlisten, vor allem gab es die unterschiedlichsten Formen kommentierender oder anleitender Bemerkungen zu den aufgeführten Buchtiteln. Die Grenzen zu benachbarten Wissensspeichern waren fließend, grundsätzlich ist es »schwierig, zwischen den Gattungen der Bibliographie und der propädeutischen Einführung zu unterscheiden« (S. 171).

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Während Scattola in seinem Beitrag besonders auf die Topik der Binnengliederung und auf die frühneuzeitliche Entwicklung hin zu einer ›reinen‹ Staatswissenschaft unter Ausgliederung der Historie abzielt, verfolgt Werle die interessante These, dass »im Verlauf der Geschichte dieser Textsorte [«Bibliotheca»] der Gattungsname recht bald nicht mehr metaphorisch, sondern begrifflich verstanden wird« (S. 140). Damit ist gemeint, dass diese »Bibliothecae« nicht einfach den Inhalt einer idealtypischen Bibliothek bibliographisch verzeichnen, sondern darüber hinaus auch allerlei didaktische Hinweise geben (vgl. S. 155), so dass generell nur eine »lockere Abgrenzung von anderen Textsorten« (S. 161) möglich ist, was wie im Falle der Litterärgeschichten eine Einweisung für den modernen Benutzer umso dringlicher erscheinen lässt.

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Florilegien und ›Buntschriftstellerei‹

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Die Beiträge von Gilbert Heß (»Florilegien. Genese, Wirkungsweise und Transformationen frühneuzeitlicher Kompilationsliteratur«; S. 97–138) und Wilhelm Kühlmann (»Polyhistorie jenseits der Systeme. Zur funktionellen Pragmatik und publizistischen Typologie frühneuzeitlicher ›Buntschriftstellerei‹«; S. 329–355) widmen sich, wie schon angedeutet, nur auf den ersten Blick verwandten Textsorten. Florilegien sind Hilfsmittel für die literarische Produktion in dem Sinne, dass in ihnen »Zitate christlicher oder heidnischer Provenienz vereinigt und in ein systematisches oder alphabetisches Ordnungssystem integriert« werden (S. 98), wodurch »ein schnelles Auffinden und die unkomplizierte Anwendung des Textmaterials in der rhetorisch-poetischen Praxis ermöglicht« wird (S. 99). Unter ›Buntschriftstellerei‹ versteht man hingegen »Präsentationsformen eklektischen Wissens, die [...] auf journalistisch-serielle Formen der Wissensvermittlung mit unterhaltsamem Anspruch zuliefen« (S. 331) und tatsächlich ja auch als Basis einer geselligen Gesprächskultur dienen sollten.

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Kühlmanns Beitrag enthält bemerkenswerte Hypothesen im Detail. So heißt es in der Auswertung von Martin Zeillers polyhistorischen Kompendien: »Die tendenzielle Abblendung von übergeordneten Sinnzusammenhängen, der Gestus ›unvorgreifflicher‹ Registrierung trägt Züge der Resignation gegenüber der nicht mehr zu systematisierenden Wirklichkeit« (S. 345). Sowohl Heß als auch Kühlmann stellen ihr Material unter Beigabe jeweils eines großzügigen Quellenverzeichnisses vor. Im Beitrag von Heß irritiert ein wenig, dass er immer wieder auf die – meines Erachtens gar nicht so nah verwandte – Speicherungsform der Enzyklopädie verweist, als deren »Untergruppe« (S. 108) er die Florilegien bezeichnet. Hier bedauert der Leser dann doch, dass die Herausgeber »schon hinreichend untersuchte Formen wie Lexika oder Enzyklopädien nicht berücksichtigt« haben (S. XIII). 7 Zum Zwecke des Vergleichs wäre eine möglichst vollständige, vielleicht sogar strukturell vereinheitlichte Präsentation der wichtigen, oftmals schwer voneinander zu unterscheidenden Speichermedien sinnvoll gewesen.

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›Wissenstheater‹ und Sammlungen von Disputationsdrucken

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Mit Blick auf die praktische Verwendung des Bandes ist weiterhin der Beitrag von Markus Friedrich (»Frühneuzeitliche Wissenstheater. Textcorpus und Wissensbegriff«; S. 297–327) herauszuheben, der die 462 von ihm erfassten Werke mit dem metaphorischen Buchtitel »Theatrum« (bzw. Komposita und entsprechende volkssprachliche Titel) natürlich nicht komplett ausgewertet hat, aber doch sehr souverän überblickt. Neben allerlei statistischen Befunden rücken die vier von Friedrich ermittelten großen Werkgruppen in den Mittelpunkt, »die dem historiographischen, landeskundlichen, ethisch-moralischen oder religiösen Bereich zuzuschreiben sind« (S. 314). Abschließend versucht Friedrich, den Einsatz der Metaphorik des ›Schauplatzes‹ einerseits mit einem »Zug zur Offenheit, Ergänzbarkeit und prinzipiellen Unabgeschlossenheit« (S. 322), anderseits mit einer postulierten »Signifikanz« (S. 325) der auf einem solchen ›Theater‹ vorgeführten Wissensbestände zu erklären, beides durchaus überzeugend. Man bedauert an diesem Beitrag allenfalls, dass die ›Klassiker‹ des Genres wie Theodor Zwingers Theatrum humanae vitae (1566 ff.), Caspar Dornaus Amphitheatrum sapientiae Socraticae ioco-seriae (1619) oder das Theatrum Europaeum (1633 ff.) bei dieser summarischen Übersicht nicht oder nur mit wenigen Worten erwähnt werden konnten.

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Außerhalb der Disputationenforschung 8 mag es überraschen, dass die oft unscheinbaren Thesendrucke, die als Grundlage zu akademischen Disputationen vorab publiziert wurden, als ›Wissensspeicher‹ eingestuft werden. Hanspeter Marti (»Die Disputationsschriften – Speicher logifizierten Wissens«; S. 203–241) kann jedoch zeigen, dass nicht nur die einzelnen Texte oftmals sehr dichte Dokumentationen eines extrem ausdifferenzierten disziplinären Spezialwissens boten, sondern dass Thesendrucke für andere Formen der Wissensspeicherung wie Litterärgeschichte und Lexika ausgewertet, aber auch von den Zeitgenossen systematisch gesammelt und in eigenen Katalogen verzeichnet wurden. Mit Sigmund Jakob Apins Unvorgreifflichen Gedancken/ wie man so wohl Alte als Neue Dissertationes Academicas mit Nutzen sammlen/ und einen guten Indicem darüber halten soll (1719; vgl. S. 217–220) liegt sogar eine systematische Anleitung für den Sammler vor, der mit dieser Hilfe »den einzelnen Disputationsschriften im ramistisch durchkonzipierten topologischen System der Disziplinen einen klar definierten Platz zuweisen« (S. 218) und sich so seinen persönlichen Wissensspeicher zusammenstellen konnte.

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Weitere Themen, Kritik, Fazit

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Als Wissensspeicher im weiteren Sinne, allerdings stark fokussiert auf öffentliche Verwendungsbereiche wie Verwaltung, Hof oder Militär, lassen sich Chroniken (Bernhard Jahn), historisch-politische Zeitschriften (Peter Brachwitz, Susanne Friedrich) oder Hof- und Staatskalender (Volker Bauer) auffassen, wenngleich im Falle des letzteren Mediums das einzelne Druckwerk vorzüglich der »Repräsentation von Herrschaft« dient (S. 78) und unter Wissensaspekten »der einzelne Amtsverzeichnisjahrgang lediglich atomisierte Information enthält und erst die Sekundärspeicherung mehrerer Ausgaben eine Datenverarbeitung zuläßt, die Wissen generiert, prozessiert und kontextualisiert« (S. 90). Gleiches gilt aufgrund der textsortenspezifischen Periodizität natürlich auch für die Zeitschriften, die ihrerseits höchst unterschiedliche Formen der Wissensvermittlung und -speicherung hervorgebracht haben. 9 Arndt Brendecke komplettiert mit seinem Beitrag über Informationsvergabe in Tabellenform die Rubrik der vier Beiträge zum »Politischen Wissen«. Ein wenig komplizierter gestaltet sich die Einbindung der Aufsätze zu den Moralischen Wochenschriften (Friedrich Vollhardt) und zu den Reiseberichten (Michael Maurer; vgl. hier explizit relativierend S. 407, 411) wie auch des schon referierten Beitrages von Andreas B. Kilcher in die Gesamtstruktur des Sammelbandes.

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Ansatzpunkte für eine Kritik des im Ganzen sehr ergiebigen Buches liegen daher zum einen in der meines Erachtens etwas zu breiten Fassung des Konzeptes von ›Wissensspeicher‹, zum anderen aber auch darin, dass die sehr spezifischen Darbietungsformen der einzelnen Speichermedien nur in ganz wenigen Fällen (Heß, Maurer) durch Faksimiles aussagekräftiger Seiten illustriert werden. Wie hilfreich wäre es für den uneingeweihten Leser, könnte er sich selbst ein Bild von den »spezielle[n] Visualisierungstechniken« (so explizit auch in der Einleitung; S. XVIII!) einiger Litterärgeschichten, Staatskalender oder ›(Amphi)theater‹ machen, statt sich mit der naturgemäß unzureichenden Beschreibung der (typo)graphischen und strukturellen Elemente zu begnügen. Das hier beklagte Defizit ist auch ein Grund dafür, dass der neu an den Gegenstand herantretende Forscher sich auf die praktische Arbeit mit den Kompendien nicht optimal vorbereitet fühlt. Die meisten Beiträge sind materialgesättigt, gut gegliedert und ohne detaillierte Vorkenntnisse gut zu verstehen. Sie zielen jedoch eher auf die Erfassung der allgemeinen wissensgeschichtlichen Konzeption der Speichermedien als auf deren konkrete Konsultation im Rahmen der Rekonstruktion frühneuzeitlicher gelehrter Praxis.

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Alles in allem erhält der Leser des Bandes freilich einen faszinierenden Einblick in die Auseinandersetzung der respublica literaria mit den Herausforderungen der frühneuzeitlichen Wissensexplosion. Die wegen ihrer Datenfülle auf den ersten Blick oft unübersichtlichen, doch explizit um Orientierung des zeitgenössischen Benutzers bemühten Kompendien – allen voran die ›Litterärgeschichten‹ – lassen bei genauer Analyse erkennen, »daß der Prozeß der Speicherung eine vergleichsweise aufwendige Transformation des aufgefundenen und sodann präsentierten Wissens darstellt, die sich etwa in Praktiken der Sammlung, der Reduktion und Selektion sowie der Kombination vollzieht. Diese Verarbeitungsprozesse führen dazu, daß durch andernorts generiertes Wissen [...] neues Wissen geschaffen wird, das wiederum neue Anschlüsse ermöglicht und die Basis für eine weitere Wissensproduktion abgeben kann« (S. XVIII).

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Diese produktive Seite der früher als ›geistloses Kompilieren‹ abgetanen Praxis der Gelehrten zwischen Späthumanismus und Frühaufklärung gilt es einerseits in ihrer Komplexität zu verstehen. Nicht weniger aufschlussreich wäre es freilich, den Umgang der Zeitgenossen mit dem solcherart zur Verfügung gestellten Wissen zu untersuchen, um zu verstehen, wie dessen Rezeption Denken, Schreiben und Handeln in der Vormoderne beeinflusste. 10

 
 

Anmerkungen

Tatsächlich würden »drei Varianten des Verhältnisses von Literatur und Wissen« schwerpunktmäßig in den Blick genommen: Zum einen wird »die Aufnahme und Transformation von Wissen in der Literatur« untersucht, zum anderen geht es um »die Analyse von literarischen Darstellungsweisen sowie die poetische Hervorbringung von Wissen«, schließlich geht man der Frage nach, »ob der Literatur ein Wissen sui generis zukommt«. Yvonne Wübben: Forschungsskizze: Literatur und Wissen nach 1945. In: Roland Borgards u.a. (Hg.): Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart 2013, S. 5–16, hier S.  5.   zurück
Vgl. etwa Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1999.   zurück
Armin Schäfer: Poetologie des Wissens. In: Literatur und Wissen (Anm. 1), S. 36–41, hier S. 39.   zurück
Roland Borgards u.a.: Vorwort. In: Literatur und Wissen (Anm. 1), S. 1 f., hier S. 1.   zurück
Peter Burke: Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft. Berlin 2001; Olaf Breidbach: Neue Wissensordnungen. Wie aus Informationen und Nachrichten kulturelles Wissen entsteht. Frankfurt am Main 2008.   zurück
Frank Grunert und Friedrich Vollhardt (Hg.): Historia literaria. Neuordnungen des Wissens im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2007. – Beide Bände gehen aus einem Projekt hervor, das im Rahmen des Gießener Sonderforschungsbereichs 434 ›Erinnerungskulturen‹ begonnen und im Münchner Sonderforschungsbereich 573 ›Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit‹ weitergeführt wurde.   zurück
An dieser Stelle (S. XII, Anm. 9) führen die Herausgeber eine Reihe von einschlägigen Sammelbänden zur Wissensgeschichte der Frühen Neuzeit auf. Entgangen ist ihnen dabei die inzwischen drei Bände umfassende Reihe »Diskursivierungen von Wissen in der Frühen Neuzeit«, aus der vor allem der zweite Band einige Berührungen mit der vorliegenden Publikation aufweist: Thorsten Burkard u.a. (Hg.): Natur – Religion – Medien. Transformationen frühneuzeitlichen Wissens. Berlin 2013.   zurück
Vgl. zuletzt den Sammelband von Marion Gindhart, Hanspeter Marti und Robert Seidel (Hg.): Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens. Köln u.a. 2016.   zurück
Nur mit dem Titel erwähnt (S. 26) werden in dem Sammelband David Fassmanns Gespräche in dem Reiche derer Todten, ein über zwei Jahrzehnte lang erscheinendes, sehr erfolgreiches Journal, das in der Form ausführlicher fiktiver Dialoge antagonistisch angeordneter Persönlichkeiten der Weltgeschichte historisches Wissen zum Zwecke von Bildung, Erbauung und Unterhaltung präsentierte. Der Verfasser wandte verschiedene Publikationsstrategien an, die seine Absicht, die Serie zum ›Wissensspeicher‹ zu machen, klar belegen. Vgl. jetzt Stephanie Dreyfürst: Stimmen aus dem Jenseits. David Fassmanns historisch-politisches Journal ›Gespräche in dem Reiche derer Todten‹ (1718–1740). Berlin/Boston 2014.   zurück
10 
Vgl. die Fallstudie des Rezensenten: Disputationsdrucke in der Medienkonkurrenz. Beobachtungen zur Pragmatik des akademischen Gelegenheitsschrifttums am Beispiel der frühneuzeitlichen Kulturvergleichsdebatte. In: Zoltán Szendi (Hg.): Wechselwirkungen I. Deutschsprachige Literatur und Kultur im regionalen und internationalen Kontext. Wien 2012, S. 45–65.   zurück