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Dramen der Männlichkeit

Thomas Boyken über 'Männlichkeitsimaginationen' bei Schiller

  • Thomas Boyken: »So will ich dir ein männlich Beispiel geben«. Männlichkeitsimaginationen im dramatischen Werk Friedrich Schillers. (Film - Medium - Diskurs 50) Würzburg: Königshausen & Neumann 2014. 444 S. Paperback. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 978-3-8260-5296-5.
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In seiner an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg angenommenen Dissertation widmet sich Thomas Boyken dem Konzept von Männlichkeit in Friedrich Schillers dramatischem Werk. Die Monographie, die alle vollendeten Dramen in den Blick nimmt, versteht sich dezidiert als »Beitrag zur Schillerforschung« (S. 22) und gründet in dem »Befund, dass für das dramatische Gesamtwerk Schillers bisher noch keine Studie explizit die Männerfiguren in ihrer wechselseitigen Bedingtheit untersucht hat.« (S. 23) In genauen Lektüren gelingen Boyken – so viel sei vorweg genommen – nicht nur eine geschlechtertheoretisch fundierte Analyse und eine Typologie der Schiller’schen Dramenfiguren, von denen so manche in neuem Licht erscheint; er kann außerdem aufzeigen, »dass ›Männlichkeit‹ den jeweiligen dramatischen Konflikt in Schillers Dramen strukturiert.« (S. 15) Im Durchgang durch das umfangreiche Material wird ›Männlichkeit‹ als ein Zugang zu den Dramen Schillers nutzbar gemacht und ermöglicht innovative Lektüren der kanonischen Texte. Männlichkeit, so zeigt Boyken auf, steht nie allein für ›das Männliche‹ ein, sondern dient der literarischen Darstellung ebenso wie der Kritik ideologischer Positionen und institutionalisierter Machtverhältnisse.

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Männlichkeit(en) methodisch

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Boyken versteht Männlichkeit »als eine historisch wandelbare Kategorie, die durch gesellschaftliche und kulturelle Handlungen, Zeichen und Symbole entsteht« (S. 15) und mit gewissen »Handlungsnormen verbunden ist« (S. 17). Dadurch, dass Männlichkeit dergestalt »als Ergebnis eines Konstruktionsprozesses« und als »Position im sozialen Raum« (S. 17) gefasst wird, kann Boyken auch die in Schillers Dramen prominenten weiblichen Figuren berücksichtigen. Nach einem Durchgang durch philosophische, anthropologische, historische und literaturwissenschaftliche Perspektiven der allgemeinen Geschlechterforschung auf das Feld der Männlichkeit – insbesondere Gilmore, Theweleit, Bovenschen, Connell – einerseits und andererseits den gendertheoretischen Arbeiten zu Schillers Dramen, wobei sich insbesondere Walter Erharts Studie zur Männlichkeit als zweitem Geschlecht 1 sowie Nikolas Immers Arbeit zum inszenierten Helden bei Schiller 2 als wichtige Bezugspunkte erweisen, gelangt Boyken zu einer eigenen Typologie, die seine Lektüren der Dramen anleitet: 1) männlicher Habitus, 2) Männlichkeitskonzept und 3) Männlichkeitsimagination (vgl. S. 92).

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Die Habitustheorie, die Boyken den Arbeiten Pierre Bourdieus entlehnt, bietet als Analyseinstrument den Vorteil, »dass entgegen einer bloßen Charakterisierung dezidiert das Körperliche und die sozialen Strukturen, in denen die Figur handelt, kenntlich gemacht und das Wechselverhältnis, in dem sie stehen, thematisiert werden können.« (S. 88) Boyken verwendet den Begriff des Habitus also unter der Prämisse eines lesbaren Körpers: »Männlichkeit ist in den Körper eingeschrieben. Insofern lässt sich die (soziale) Männlichkeit vom Körper und aus den Handlungen ableiten.« (S. 20) Gerade im Drama sei die Betrachtung des Körpers von großer Bedeutung, denn das »Drama bringt die fiktiven, literarischen Figuren fassbar auf die Bühne und gibt ihnen einen Körper. In den Dramen Schillers wird überdies durch einen ausführlichen Nebentext das Körperliche betont« (S. 20). Auch wenn Boyken hier den medialen Status des Dramas zwischen schriftlichem Text und Bühnenereignis nicht kritisch reflektiert, so führt die – gegenüber dem Sprechtext häufig vernachlässigte, von Boyken aber zurecht als unverzichtbar behandelte – Berücksichtigung des Nebentextes im Verlauf der Arbeit zu interessanten Re-Lektüren der Schiller’schen Dramen.

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Dabei genügt es Boyken nicht, den Habitusbegriff Bourdieus als Instrument der Figurenanalyse zu verwenden, sondern er legitimiert diese methodische Entscheidung historisch mit Blick auf Schillers medizinische und ästhetische Schriften, in denen sich Ähnlichkeiten zu Bourdieus Konzept zeigen: »Wie bei Bourdieu kommt dem Körper auch in Schillers Auffassung vom Menschen eine wesentliche Bedeutung zu. Der Modus der Inkorporation wird von Schiller quasi avant la lettre im Sinn Bourdieus beschrieben.« (S. 85)

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Komplementär zum Habitus meint Boyken mit Männlichkeitskonzepten die (ideellen) männlichen Handlungsvorbilder der Figuren. Sie stehen »für einen abstrakten Entwurf geschlechtlichen Handelns, der binnenfiktional von den Figuren als vorbildlich (oder abschätzig) apostrophiert wird.« (S. 91) Beide, Habitus und Konzepte, treten in ein Wechsel- und mitunter auch Spannungsverhältnis und sind vor dem Hintergrund des um 1800 vorherrschenden Konzepts des ganzen Menschen 3 gleichermaßen bedeutsam. Die Männlichkeitskonzepte »verweisen auf zeitgenössische Auffassungen eines normativen Männerbildes« (S. 18), wobei sich diese im Falle des Geschichtsdramas zumeist mit historischen Männerbildern überblenden.

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Mit der titelgebenden Kategorie der Männlichkeitsimagination verlässt Boyken die Ebene der Figuren und betritt jene des Gesamttextes, von der aus die auf Figurenebene entfalteten Männlichkeiten bestätigt, kritisiert oder verworfen werden. Anders als der etwas unglückliche Begriff nahelegt, bezeichnet Männlichkeitsimagination kein psychologisches Konzept im eigentlichen Sinn, also etwa »die Vorstellung von Männlichkeit, die von Friedrich Schiller als richtige Männlichkeit verstanden wurde, sondern eine Vorstellung, die sich im jeweiligen dramatischen Text manifestiert.« (S. 91) Dabei stehen die normativen Männlichkeitsimaginationen zumeist im Gegensatz zu dem »binnenfiktional als vorbildlich apostrophierten Männlichkeitskonzept« (S. 92).

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Boyken nutzt mit dieser Typologie die modalen Besonderheiten der dramatischen Gattung für sein Erkenntnisinteresse in musterhafter Weise: Indem er nämlich die Deutung und Wertung der jeweiligen Darstellung von Männlichkeit aus dem Kontrast bzw. der Übereinstimmung von Figurenebene und Gesamttextstruktur ableitet, wendet er das dramatische Gattungsmerkmal der doppelten Perspektivität ins Methodische. Das weitgehend ungebundene Nebeneinander von innerem und äußerem Kommunikationssystem, so kann im Anschluss an Manfred Pfister formuliert werden, 4 ermöglicht eine implizite wechselseitige Kommentierung der beiden Ebenen. Boyken liest Schillers Dramen also in luzider Verquickung von Gender und Genre.

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Maskerade, Inszenierung, hybrider Habitus

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Auf der Grundlage dieser insgesamt überzeugenden Systematik ordnet Boyken seine zehn je gut strukturierten, ca. 30-seitigen Analysekapitel von den Räubern bis Wilhelm Tell chronologisch an. Neben den jeweiligen Hauptfiguren werden auch die Nebenfiguren und die komplexen Figurenkonstellationen berücksichtigt. Die Stärke des Habitusbegriffs offenbart sich sogleich im Kapitel zu den Räubern. Hier zeigt Boyken nicht nur auf, dass sich die vermeintlich ungleichen Brüder durchaus »einem vergleichbaren Habitus zuordnen« lassen (S. 111), sondern er weist auch darauf hin, dass die so oft ins Feld geführte äußerliche Differenz von Franz und Karl von Moor insofern infrage steht, als sich Franz die hässliche Erscheinung selbst zuschreibt, während der Nebentext darüber keine Auskunft gibt. Dabei sollte man nach Boyken die Frage, »ob Franz die physiognomischen Charakteristika aufweist, die er sich selbst gibt«, durchaus unentschieden lassen, denn diese Stelle illustriert gerade den Zusammenhang des Sozialen und des Körpers: »Das Gefühl, sozial und körperlich benachteiligt zu sein, ist von ihm inkorporiert und bestimmt seine Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata.« (S. 114)

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Fiesko wiederum erzeugt, so zeigt Boyken ferner, »sein Handeln durch unterschiedliche Handlungsmodi des Männlichen« (S. 133). Erscheint er zunächst als »liebestoller Hedonist« und am Ende des dritten Akts als »überzeugter Republikaner«, so nimmt er am Schluss »die Rolle des Usurpators ein, der das entstandene Machtvakuum nutzen will, um selbst an die Macht zu gelangen.« (S. 130) Auch hier lässt Boyken die Frage, bei welcher ›Rolle‹ es sich um den ›authentischen‹ Lebensentwurf handelt, ungelöst und verortet Männlichkeit gerade im Spiel der Maskeraden. Zwar erscheint der Lebensentwurf »des Usurpators zunächst als der ›authentische‹ […], weil es die letzte ›Rolle‹ ist, die Fiesko performativ einnimmt« (S. 153); da sich aber auch diese Rolle nicht allein durch Handlungen, »sondern durch die sprachlich-narrative Überformung der Handlungen« (S. 153) herstellt, steht der authentische Charakter auch dieses männlichen Lebensentwurfs infrage.

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Schillers bürgerliches Trauerspiel Kabale und Liebe zeigt einen Helden, der zwischen einer höfischen Herkunft und einer »literarisch vermittelten schwärmerischen« (S. 183) und durchaus bürgerlichen Liebeskonzeption steht und sich somit als Vertreter eines hybriden männlichen Habitus ausweist. Obwohl er »sein Handeln nach bürgerlichen Maßstäben ausrichtet, bleiben seine Denk- und Wahrnehmungsmuster nach höfischen Kriterien organisiert«, die er auch »in seiner Handlungspraxis« reproduziert (S. 161); etwa, indem er qua Stand Anspruch auf die Bürgerstochter erhebt oder bereits »vor der Briefintrige« mutmaßt, »dass sie ihn hintergehen könnte.« (S. 161) Dadurch wird das »Männlichkeitskonzept, das Ferdinand als vorbildlich erachtet, auf der Ebene des Textes als nicht vorbildhafte Männlichkeitsimagination dargestellt.« (S. 158)

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Das Tableau der Männlichkeit in Don Karlos entfaltet sich vor allem an der Kontrastrelation der Figuren Posa und Don Karlos. Während Karlos »eine deutliche Tathemmung« und eine »empfindsame[] Männlichkeit« (S. 215) kennzeichnet, weist sich Posa als Vertreter des Heroismus aus. Die hierarchische Beziehung, in der Königssohn und Gefährte stehen, verkehrt somit die eigentliche Standeshierarchie. Dass das Schauspiel auf Textebene jedoch auch Posas Männlichkeitskonzept »nicht als ausschließlich positive Männlichkeitsimagination ausstellt, resultiert aus dem Kontrast der Narrationen über Posa mit seinem konkreten Handeln« (S. 215). Auch führt sein vermeintliches Selbstopfer »nicht zu einer Situationsveränderung, sondern zur Bestätigung der bestehenden Ordnung.« (S. 209) Karlos wiederum erfährt im Verlauf der Handlung »einen Erziehungsprozess zu einem auf Figurenebene anerkannten Männlichkeitskonzept.« (S. 215)

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Männlichkeit erzählen

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Männlichkeit entsteht in Schillers Dramen dominant über Narrationen, womit Boyken zu Recht Figurenerzählungen zu den genuin dramatischen Darstellungsmitteln zählt. Speisen sich Karl von Moors und Ferdinand von Walters Männlichkeitskonzepte aus der »Lektüre (größtenteils) fiktionale[r] Literatur« (S. 98, vgl. S. 169), so zeigt sich in Fieskos Maskeraden, dass Männlichkeit inszeniert wird und dass es dafür einer Öffentlichkeit bedarf, »die sowohl das Handeln als auch die Deutung des Handelns als männlich anerkennt.« (S. 153)

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Die Wallenstein-Trilogie stellt diesen Zusammenhang von Männlichkeit und Narration selbst aus, indem in den die Hauptfigur einführenden Erzählungen der Soldaten »Wallensteins Handeln […] nicht nur als vorbildlich, sondern auch als männlich ausgewiesen wird.« Insbesondere »die dreifache Vaterschaft, die Verherrlichung des sozialen Aufsteigers und die Wallenstein zugeschriebene Schöpferkraft« (S. 222) sind dabei von Bedeutung. Bevor der Feldherr zum ersten Mal selbst auftritt, wird in Wallensteins Lager bereits der »Mythos Wallenstein, der sich aus der Polyphonie der dramatis personae zusammensetzt« (S. 229), entfaltet. Dieser Mythos erfindet Wallenstein nicht nur als eine die Soldaten einigende Vaterfigur; vielmehr bedient sich Wallenstein selbst narrativer Muster, um sich Männlichkeit anzueignen und sich performativ als Figur im Kontext der Tragödie auszuweisen: »Wallensteins Handeln lässt sich als Versuch lesen, sich den Erzählungen, die über ihn kursieren, anzupassen. Um ein Mann zu sein, muss er ein männlich-heroische[s] Erzählmuster erfüllen.« Auf der Ebene der Textes, also der Männlichkeitsimagination, wird »das von Wallenstein repräsentierte Männlichkeitskonzept allerdings desavouriert: Der tatkräftige Krieger stirbt keinen heroischen Tod, sondern wird – hinter der Bühne – in seinem Schlafgemach, also im privaten Raum, ermordet.« (S. 245)

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Auch im Kapitel zu Wilhelm Tell zeigt Boyken auf, dass das Handeln der Hauptfigur »von den Eidgenossen sowohl politisch als auch sozial verklärt wird.« (S. 359) Vertritt Tell zu Beginn des Schauspiels selbst das »Männlichkeitskonzept des autonomen Mannes« (S. 365), so erhält er am Schluss des Dramas das Bild »des besonnenen Mannes, der für Gemeinschaft und Nation streitet.« (S. 389) Dem »Verdrängen Tells in den Hintergrund der Szene samt seiner Passivität« (S. 389) korrespondiert somit, wie Boyken einleuchtend aufzeigt, seine Verklärung zum Helden.

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Männliche Frauen

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In Schillers klassischen Dramen rücken verstärkt die weiblichen Figuren in den Mittelpunkt. Während Maria Stuart dabei als eine »doppelte Doppeltragödie« lesbar wird, indem nicht nur die beiden Königinnen, sondern ebenso die männlichen Figuren Mortimer und Leicester »an der Verhandlung und Annahme normativer Männlichkeitskonzepte scheitern« (S. 289), wird Johanna in Die Jungfrau von Orleans durch ihre Aneignung von Kriegsrequisiten »als ein ›Mischwesen‹ dargestellt, das weder männlich noch weiblich ist.« (S. 302) Durch diese Störung der Ordnung (der Geschlechter) werden, so Boyken, die männlichen Figuren »effeminiert, was zu Strategien führt, die auf die Entmachtung Johannas zielen. Entweder muss Johanna verheiratet oder gefangen genommen (und getötet) werden. Johannas Tod restituiert damit letztlich die patriarchalische Ordnung des Dramas.« (S. 328)

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Von Vätern und Söhnen

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Innerhalb der Studie kehren immer wieder die Vaterfiguren und vor allem die Vater-Sohn-Beziehungen wieder. Die Vaterfiguren sind entweder empfindsam und effeminiert (Maximilian von Moor), zärtlich-grausam (Musikus Miller, Thibaut d‘Arc) oder hart und tyrannisch (Verrina, Philipp, Octavio), während die Mutterposition zumeist unbesetzt bleibt oder von geringer Bedeutung für den dramatischen Konflikt ist. Insbesondere die Analyse der Vaterfigur in der Braut von Messina ist dabei zu beachten. In dieser »zweiten Gestaltung des Motivs der feindlichen Brüder« nach den Räubern stärke Schiller »die Figur des Vaters. Dies ist erstaunlich, da dieser als Figur in der Braut von Messina gar nicht auftritt. Er bleibt ohne Namen und wird so auf seine soziale Rolle (Vater und Fürst) fixiert.« (S. 339) Boyken kann aufzeigen, dass gerade die Abwesenheit des Vaters seine machtvolle Wirkung begründet: »Die figurale Leerstelle befördert die Konzeptionalisierung und Idealisierung zu einem abstrakten Männlichkeitsbild, das für die Söhne handlungsleitend wird und somit mehr Macht ausübt als der präsente aber schwache Vater Moor.« (S. 339) Die Braut von Messina stellt somit, wie Boyken besonders überzeugend zeigt, die Generierung und Verselbständigung von Männlichkeitskonzepten aus, die sich von der vorbildhaften Figur lösen und somit grundsätzlich unerreichbar werden. Das Männlichkeitskonzept selbst geht »auf die Idealisierung und das Sprechen über den verstorbenen Vater« (S. 354) zurück und wird somit einmal mehr an Narration gebunden.

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Fazit

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Thomas Boyken ist mit seiner umfangreichen Dissertation ein wichtiger Beitrag zur Schiller-Forschung gelungen, der zudem das Geschlechterverhältnis um 1800 exemplarisch in detaillierten Lektüren näher ausleuchtet. Männlichkeit, so fasst Boyken zusammen, ist an der Schwelle zur Moderne »ein fragiles und nicht endgültig fixiertes Konzept. Es steht im Spannungsverhältnis einer naturalisierenden Auffassung vom Mann-Sein und dem Beweis der Männlichkeit im sozialen Handeln.« (S. 398) Diese Spannung wird in den Dramen fruchtbar gemacht als Kontrast zwischen der Figurenperspektive und dem Gesamttext: »Während die Männerfiguren ihr physisches und biologisches Mann-Sein als Kern von Männlichkeit verstehen, entwirft der literarische Text Männlichkeit vor allem als soziale Praxis und unterläuft damit die Figurensicht.« (S. 398) Boyken zeigt, wie sehr die konkreten Handlungen der Männerfiguren von den vorbildlichen Männlichkeitskonzepten abweichen und somit auch die zeitgenössischen Männlichkeitsideale infrage stellen.

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Ebenso wie mit dem komplexen dramatischen Gesamtwerk Schillers geht Boyken auch mit der Menge an Sekundärtexten an jeder Stelle souverän um. Allerdings ist seine Studie immer dort besonders gelungen, wo sie sich von der enormen Schiller-Forschung ein wenig befreien kann und tatsächlich zu einer Neubewertung der Texte gelangt, wie insbesondere in dem Kapitel zur Braut von Messina oder dem Exkurs zum Achilles-Mythos in der Jungfrau von Orleans. Boyken verwendet eine höchst klare und verständliche Sprache und hält seine Arbeit durch eine Zwischenfazit-Struktur stets gut lesbar. Seine genauen Beobachtungen bleiben nah am Text und zugleich stets der übergeordneten Forschungsfrage verpflichtet. So sind die einzelnen Kapitel auch für jene äußerst lesenswert, die sich mit Schillers Dramen nicht unbedingt unter einer geschlechtertheoretischen Perspektive beschäftigen.

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Boykens Arbeit zeigt, wie die Dramen Schillers ein komplexes Netz aus Konzepten, Handlungsweisen und Bewertungen von Männlichkeit entfalten. Während die frühen Dramen dabei insbesondere Ideologiekritik betreiben, indem sie auf Männlichkeitsideale verweisen, die im Verlauf der Handlung verabschiedet werden, zeigen die späteren Dramen vermehrt auf, unter welchen medialen und sozialen Bedingungen Männlichkeit überhaupt konstituiert und handlungswirksam wird.

 
 

Anmerkungen

Walter Erhart: Das zweite Geschlecht. Männlichkeit, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30 (2005), S. 156–232.   zurück
Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008.   zurück
Vgl. Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion. Stuttgart, Weimar 1994.   zurück
Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. 11. Auflage. München 2001, S. 20 f.   zurück