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Geschichtserzählung oder Nachschlagewerk?

Savonarola und die Schwierigkeit stoffgeschichtlicher Materialbewältigung

  • Oliver Bernhardt: Gestalt und Geschichte Savonarolas in der deutschsprachigen Literatur. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016. 469 S. Kartoniert. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 978-3-8260-5903-2.
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Der Florentiner Dominikanerpater Giovanni Savonarola (1452–1498) gehört seit je zu den besonders umstrittenen Gestalten der italienischen Geschichte. Als Bußprediger, Papst- und Kirchenkritiker, Politiker und vermeintlicher Sozialrevolutionär hat er schon zu Lebzeiten ganz unterschiedliche Wahrnehmungen provoziert, und es ist kein Wunder, dass er zumindest seit dem 16. Jahrhundert auch Eingang in die deutsche Literatur gefunden hat. Die Heidelberger Habilitationsschrift geht der Art und Weise nach, wie deutschsprachige Autoren von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart die Gestalt des Fraten gesehen und charakterisiert haben. Insgesamt kann sie dabei nicht weniger als 56 literarische Verarbeitungen namhaft machen; einige weitere Adaptionen sind heute bibliographisch nicht mehr zugänglich. Gegenüber früheren Versuchen, die Stoffgeschichte zu verfolgen und zu systematisieren (1903, 1937, 2008), konnte also ein deutlich breiteres Korpus berücksichtigt werden, das zumindest prinzipiell Vollständigkeit beansprucht.

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Ansatz und Vorgehen

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Am Anfang der Arbeit steht ein Faktenreferat der historischen Ereignisse (S. 25–61); die historiographische Literatur, die von den 1830er Jahren bis in die Gegenwart in deutscher Sprache erschienen ist, stellt dafür eine relativ reichhaltige Basis bereit. Sinnvoll ist die Rekapitulierung des Ereignissubstrats nicht nur deshalb, weil der heutige Leser mit den biographischen Fakten, kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Kontexten der historischen Figur meist nicht genauer vertraut ist. Sie erleichtert auch das Verständnis der später folgenden Textbeschreibungen, weil es eben diese Ereignisse und Entwicklungen sind, die immer wieder literarisch aufgegriffen und aktualisiert werden. Die Auswahl aus der zugrundeliegenden Faktenbasis und die Akzentuierung und Semantisierung der benutzten Motive machen das jeweils individuelle Gepräge der literarischen Bearbeitungen aus, bei denen die historische Figur zum Kristallisationspunkt bestimmter Zuschreibungen und somit zu einem Modell mit unterschiedlich semantisierten Merkmalen wird (S. 21).

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In seinem zweiten Kapitel (S. 62–102) geht der Verfasser dann den Savonarola-Bildern »[v]on der Frühen Neuzeit bis zur Weimarer Klassik (1556–1803)« nach. Sinnvollerweise wird in diesem Zusammenhang nicht grundsätzlich zwischen faktographischen und fiktionalen Zeugnissen unterschieden. Schließlich sind beide Darstellungsweisen gleichermaßen Quellen wie Katalysatoren einer kollektiven Erinnerungskultur, die zeit- und milieubedingt differente Einordnungs- und Bewertungsmodelle vertreten. Zudem lässt sich auf diese Weise im Gesichtsfeld behalten, dass sich die Wahrnehmungsmuster gegenseitig befruchten, Beeinflussungen also durchaus nicht nur einseitig wirken. Die Figur Savonarolas wurde im 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der deutschen Reformation von beiden Konfessionsparteien immer wieder thematisiert, und schon früh bildeten sich in Historiographie und Dichtung Konzepte wie das vom Präreformator oder vom ›hinterhältigen Hochstapler‹ heraus. Vom 17. bis zum späteren 18. Jahrhundert konzentrierte sich das Interesse an dem Florentiner Mönch augenscheinlich eher auf den kirchengeschichtlichen Diskurs und die damit zusamenhängende Editionstätigkeit – poetische Verarbeitung hat er damals offenbar nicht erfahren. Erst Johann Gottfried Herder hat Savonarola in einem kurzen Aufsatz 1777 als einen Kämpfer für die »Volksfreyheit« neu entdeckt und mit seiner Akzentuierung des Politischen einen wirkungsmächtigen Vorstellungsbereich in die kulturelle Wahrnehmung eingebracht. Auch eine beiläufige Indienstnahme für geschichtsphilosophische und ästhetische Überlegungen hatte der Frate im Umfeld der Weimarer Klassik über sich ergehen zu lassen.

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Eine tatsächlich primär literarisch ausgerichtete Rezeption Savonarolas lässt sich in der deutschen Literatur erst seit den späten 1830er Jahren verbuchen (S. 103–244). Es ist naheliegend, dieses Neuerwachen des Interesses mit dem Aufkommen früher historiographischer Arbeiten in Zusammenhang zu bringen, die sich mit dieser Phase der Florentiner Geschichte beschäftigten und neue Quellen zugänglich machten. Abgesehen von Nikolaus Lenau, der dem Florentiner 1838 ein Versepos widmete und ihn darin als idealisierten Reformator mit autor- und epochenspezifischem ›Weltschmerz‹ entwarf, sind die Autoren, die ihn als Gegenstand wählten, mittlerweile freilich weitestgehend aus dem Kanon gefallen. Thematisch wandte sich die Aufmerksamkeit nicht nur dem Religiosen zu, der als gescheiterter Vorläufer des erfolgreicheren Martin Luther ins Blickfeld geriet, sondern auch seiner politischen und sozialrevolutionären Potenz, die gerade im Kontext des Vormärz herausgestellt wurde. Aktualitätsbezogene Überlagerungen ergaben sich mit der Thematisierung von Patriotismus, Humanität und Meinungsfreiheit oder der Wahrnehmung jüdischer Einflüsse, späterhin dann auch im Zusammenhang mit Fragen nach Identität, Familienbindung und Rationalität, erneut aber auch mit eher ästhetischen und immer wieder mit religiösen Konzepten. Innerhalb ihrer wurde der Frate nun erstmals als überzeugter Vertreter der alten Kirche in Beschlag genommen.

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Ähnlich unübersichtlich nimmt sich die Indienststellung der historischen Figur in der Literatur um die Wende zum 20. Jahrhundert aus (S. 245–374). Der Frate diente neben den bereits eingeführten Bewertungsmustern nun auch dazu, Phänomene der Psychopathologie oder der ›Sinnlichkeit‹ zu exemplifizieren und Fragen nach Gehorsam und Widerstand zu stellen, die je nach Ausrichtung durchaus kontrovers interpretiert und bewertet wurden. Förderlich erwies sich für die Beliebtheit des Stoffes das Phänomen des Renaissancismus. Mit Verve wurden hierbei Genusssucht, Ästhetizismus, Affektivität und Machtwille des Protagonisten und seiner Umwelt in den Fokus gerückt – in Anknüpfung an Tendenzen der zeitgenössischen Philosophie angebliche Epochensignaturen einer Wendezeit, in der sich die Exponenten der literarischen Kultur damals auch selbst wähnten.

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Nicht minder wurde das Instrumentalisierungspotential des vielgesichtigen Florentiners in der Zeit vom Ersten bis nach dem Zweiten Weltkrieg aktualisiert (S. 375–436). Vorgestellt werden zunächst (vermeintlich) unpolitische Texte, die etwa kircheninterne Ereignisse zum Hintergrund hatten (und damit doch eigentlich sehr wohl politisch waren!), sowie solche, die für die Innere Mission Partei ergriffen oder psychoanalytische oder pädagogisch-didaktische Ansätze vertraten. Weiter verfolgt der Verfasser literarisierte Belege für die Weltanschauungskämpfe der 1920er und 1930er Jahre, die in Weimarer Republik, Austrofaschismus und Nationalsozialismus ausgefochten wurden. Auch sie bedienten sich Savonarolas immer wieder einmal als eines Gewährsmannes oder einer Kristallisationsfigur, mittels derer man die eigenen Konzepte auf passende Weise verbildlichen und exemplifizieren konnte. Allerdings endete die Konjunktur des Florentiners spätestens an der Wende zu den 1960er Jahren. Zaghafte Neuthematisierungen in den 1990er und 2000er Jahren sind eher randständig geblieben.

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Entwicklungsgeschichte oder Kaleidoskop?

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Trotz der Prozesshaftigkeit der Stoffgeschichte und der immer wieder festzustellenden Bezüge der behandelten Texte auf literaturinterne und literaturexterne Kontexte lassen sich anhand des ausgebreiteten Materials nur wenig konsistente Entwicklungslinien erkennen. Zu disparat sind die jeweiligen Ansätze, zu vielfältig die vertretenen autorspezifischen Interessen, um die Vielzahl der Dramen, Prosatexte und Gedichte wirklich sinnvoll gruppieren zu können. Auch die nach 430 Seiten der Darstellung nur zweiseitige Zusammenfassung hilft hier nicht weiter. Zu einem überrascht es den Leser wenig, dass »Dichtung über Savonarola immer auch das Schreiben über die eigene Epoche impliziert« (S. 437). Zum anderen können die vier Phasen kollektiver Wahrnehmung, die der Verfasser ausmacht, angesichts des ausgebreiteten Materials nicht vollends überzeugen. Bei den vorgestellten Texten lassen sich überwiegend keine wirklichen Dominanzen bestimmter Aussageabsichten erkennen, die für die gewählten Perioden charakteristisch wären. Auffällig ist vielmehr das Nebeneinander von Konzeptionen, die sich auf vielfältige Weise überlagern und für ganz unterschiedliche Ausdeutungen und Instrumentalisierungen nutzbar sind. So berechtigt der Vorwurf des Verfassers gegenüber der Arbeit eines älteren Forschers ist, die Vielgestaltigkeit und Komplexität der literarischen Ansätze unzulässig vereinfacht zu haben (S. 13), so wenig tut er sich einen Gefallen, eine derartige Zuschreibung am Ende selbst vorzunehmen, ohne dass sich das Ergebnis wirklich schlüssig aus seiner Darstellung ableiten ließe.

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Licht und Schatten

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Die Behandlung der einzelnen Texte bleibt schon angesichts der großen Zahl, die zu berücksichtigen war, meist knapp. Kurz geht der Verfasser auf die jeweiligen Autoren ein, sofern sich zu ihnen überhaupt Material finden ließ. 1 Die dabei gemachten Angaben erscheinen z.T. leider eher wie Fundstücke aus der Google-Recherche, wird ein argumentativer Zusammenhang zwischen Autor- und Werkdaten doch meist nicht hergestellt. An das Inhaltsreferat des Textes schließen sich dann Beobachtungen über die darstellerischen Mittel an, öfter auch der Versuch einer Einbettung in rezente Denkströmungen; exemplarische Analysen von Texten oder die intertextuelle Relationierung der Einzelbelege gelingen nur zum Teil – was freilich durchaus auch am disparaten Material liegen mag.

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Erfreulich an der Untersuchung ist der Umstand, dass hier nicht nur kanonische Autoren und Texte der Höhenkammliteratur verfolgt werden, sondern der Versuch eines Gesamtkonspekts zumindest deutschsprachiger Verarbeitungen vorliegt – fremdsprachige Adaptionen wurden nur ganz am Rande berücksichtigt; gewinnbringend ist auch der Ansatz, literarische und außerliterarische Kontexte immer wieder in Beziehung zueinander zu setzen und die Werke als Statements der Autoren in einem zeitgenössischen Diskursfeld zu verstehen. Auffällig sind auf der anderen Seite aber immer wieder inhaltliche Redundanzen und z.T. ungelenke Formulierungen, die eher journalistische Verwendung des historischen Präsens, Flüchtigkeitsfehler 2 und gelegentlich schludrige Zitate 3 oder Referenzen. 4 Dass in einer Habilitationsschrift ohne Zwang Wilperts ›Sachwörterbuch der Literatur‹ als Autorität bemüht wird (S. 254), verwundert zumindest; ebenso, wenn bei der Analyse eines Texts aus dem 15. Jahrhundert vom ›lyrischen Ich‹ die Rede ist (S. 29) oder an anderer Stelle psychologisierende Rückschlüsse vom Text auf den Gefühlshaushalt des Autors gezogen (S. 131) oder ein weiterer Text mit ziemlich schwachen Argumenten gar zur »chiffrierten Autobiographie« (S. 195) erklärt wird.

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Die chronologische Reihung der Belege, bei der sehr heterogene Ausrichtungen und Textsorten nebeneinander stehen, konterkariert leider eine stringente Argumentationslinie, die nur in Ansätzen erkennbar ist. Fragen nach eventuellen Gemeinsamkeiten der sozialen Verortung der Autoren insgesamt, nach deren weltanschaulichen, konfessionellen und regionalen Verteilungsrelationen, nach Erscheinungsformen und verlagsgeschichtlichen Rahmenbedingungen werden nicht gestellt. Unentschlossen erscheint nicht zuletzt der darstellerische Ansatz. Statt sich thematisch zu organisieren und die Entwicklung der Interpretationen und Einordnungen Savonarolas auf diese Weise deutlicher zu machen, ist die Arbeit letztlich doch eher zur chronologisch gereihten, räsonnierenden Dokumentation eines stofflich definierten Textkorpus geworden. Sie zeigt in erster Linie die Vielgestaltigkeit der Stoffrezeptionen auf und eignet sich auch nach Angaben des Verfassers als »Nachschlagewerk zu den deutschsprachigen Savonarola-Adaptionen« (S. 17 und Einbandtext).

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Ein »modellhafte[s] Epochenfanal des kulturellen Gedächtnisses«, wie am Anfang behauptet (S. 16), ist der Florentiner Frate für die deutschsprachige Literatur wohl kaum geworden – eine immer wieder literarisch erinnerte und weltanschaulich funktionalisierte Figur aber sehr wohl. Darüber geben die kurzen Abschnitte zu weithin kaum bekannten Texten und Autoren kompakte Auskünfte. Für ein ›Nachschlagewerk‹ ist der Verzicht auf ein erschließendes Register allerdings ein mehr als bedauerlicher Mangel.

 
 

Anmerkungen

Ergänzend zu S. 276 sei angemerkt, dass Ludwig Kelber (1824–1906) nach diversen Vikariaten Pfarrer in Untermerzbach, dann in Memmelsdorf und schließlich in Benk war und noch einige weitere theologische Werke verfasst hat; leicht zu ergänzen wären auch noch die Angaben zu Tanja Kinkel (*1969) und Barbara Goldstein (1966–2014) gewesen (S. 428–431 bzw. 435 f.).   zurück
Im Literaturverzeichnis ist (unter P) die alphabetische Reihung der Autoren nicht eingehalten.   zurück
S. 29, 88, 115.   zurück
Der Herausgeber des zitierten Ranke-Werks war entgegen den Angaben auf S. 103 und 462 der Historiker Willy Andreas (1884–1967). Warum ein für Nichtspezialisten ziemlich kryptisches Zitat über die Genese einer Edition einfach wörtlich übernommen statt aufgelöst und damit erst verständlich gemacht wird, ist schleierhaft (S. 37, Anm. 63).   zurück