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Der literarisch-politische Komplex

  • Uwe Sonnenberg: Von Marx zum Maulwurf. Linker Buchhandel in Westdeutschland in den 1970er Jahren. (Geschichte der Gegenwart (Hg. von Frank Bösch und Martin Sabrow) Bd. 11) Göttingen: Wallstein 2016. 568 S. 37 Abb. Gebunden. EUR (D) 44,00.
    ISBN: 978-3-8353-1816-8.
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Wer wollte, konnte dem Autor mit seinem Thema schon 2012 im Deutschland-Archiv begegnen, danach folgte seine Dissertation, seit dem Sommer 2016 liegt nun dieses gewichtige Buch vor, inzwischen bereits in der zweiten Auflage. Fast 50 Jahre nach dem symbolischen Datum 1968 ist offensichtlich immer noch Entdeckungs- und Erkenntnisarbeit zu leisten Und während die Buchhandelsgeschichte im historischen Wissenschaftsbetrieb eher am Rande liegt, zeigt sich hier, was für ein aufschlussreiches und über sich selbst hinausweisendes Forschungsfeld sie sein kann.

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Nach einer gründlichen, die Materie, ihre bisherige Behandlung (oder Nichtbehandlung) in der Forschung sowie das Untersuchungsverfahren erläuternden Einleitung beginnt das erste Kapitel dieses Buches unter der Überschrift »Druckvorlagen für die Neue Linke«. Die Neue Linke: Das ist das undogmatische Spektrum jenseits von SPD und DKP einerseits, der K-Gruppen und des Terrorismus andererseits. Der Vorgeschichte eines linken Buchhandels in der klassischen Doppelbedeutung von »herstellendem« und »vertreibendem« Buchgewerbe folgt die Anfangsgeschichte einer entsprechenden Verlagsproduktion in der alten Bundesrepublik, die in den sechziger Jahren von neu gegründeten Richtungsverlagen, aber auch von etablierten Häusern wie der Europäischen Verlagsanstalt, von Rowohlt, Suhrkamp und Luchterhand betrieben wurde. Der weitere Prozess verläuft in zwei Stufen: Kapitel 2 beschreibt zuerst die konfliktbereite Demokratisierungs-Bewegung (»Literaturproduzenten«) in den literarischen Institutionen, öffentlich gemacht auf den Frankfurter Buchmessen von 1967 und 1968. Danach folgt im dritten Kapitel die Selbstorganisierung der »revolutionären Literaturproduktion« im Verband des linken Buchhandels mit dem Kürzel VLB (wie das branchenweit gebrauchte Verzeichnis lieferbarer Bücher), eine Mikrogeschichte erheblichen Umfangs und der eigentliche Kern der Studie. Das vierte Kapitel zeigt den Buchhandel im Zusammenhang mit der Kultur-und Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik zwischen 1973 und 1977: Neue soziale Bewegungen finden ihren Niederschlag in neuen Programmen und führen zu veränderten Arbeitsformen in Verlagen und Buchläden, wie Fallbeispiele zeigen. Raubdrucke, subversive Literatur und Zensur verweisen auf die Zuspitzung im kommenden ›Deutschen Herbst‹, der auch den linken Buchhandel in Widersprüche stürzt. Im fünften Kapitel lesen wir von neuen Formen alternativer Literaturarbeit in den späten siebziger und den achtziger Jahren und vom endlichen »Entschlafen des VLB«. Das kurze 20. Jahrhundert geht zu Ende.

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Der 50seitige dokumentarische Anhang des Buches ist eine hochdifferenzierte Arbeits- und Auskunftsquelle. Neben den erwartbaren Registern findet der Leser ein Register unterschiedlichster Archive, vom Raubdruck-Archiv in Düsseldorf über das »Trikont-Archiv« in München bis zu den Sammlungen des Frankfurter Instituts für Stadtgeschichte aus den ausgelagerten Beständen des Börsenvereins, eine Liste der befragten Zeitzeugen, darunter nicht wenige inzwischen verstorbene, ein umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis einschließlich der Grauen Literatur, ferner Online-Publikationen, Audiobeiträge, Musik- und Filmtitel zum Thema, schließlich ein langes Firmenregister von ABC-Buchladen bis Weismann Verlag, den titelgebenden Maulwurf Vertrieb aus Westberlin natürlich eingeschlossen. (Überlieferte Magnetband-Aufzeichnungen zu den Firmen harren noch der Sicherung.) Das Buch enthält im Übrigen 28 Abbildungen, oft von seltenster Provenienz.

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Drei Fenster nach draußen

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In drei Aspekten findet das Buch von Uwe Sonnenberg, weit über das Milieu linker Kleinbetriebe mit ihren Alltagssorgen und Richtungskämpfen hinaus, Anschluss an die Geschichte der Periode. Erstens: Was als detaillierte Geschichte des VLB begonnen wird, entpuppt sich bald als ein wichtiger Aspekt der Buchhandelsgeschichte im 20. Jahrhundert. Auch in kommerziellen Verlagen, auch in ›unpolitischen‹ Buchhandlungen wurde die Arbeitsorganisation in Frage gestellt und die Mitbestimmung diskutiert. Mit der Zirkulation der Bücher ging die Diffusion der Ideen einher. Wichtig ist dabei, dass die Produzenten hier mindestens ebenso stark unter dem intellektuellen Einfluss ihrer Produkte standen, wie die Konsumenten. Das wird in der kollektiven Arbeitsorganisation von Verlagen und Buchläden erkennbar, aber auch in innerbetrieblichen Konflikten, selbst unter Linken, wie bei Wagenbach, oder der sogenannten ›Statutenbewegung‹ in großen Verlagen (Kapitel 2.2.1), die wiederum nicht ohne Einfluss auf die Programme bleibt.

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Der VLB bündelte und unterstützte diese Aktivitäten, nachdem der Einfluss der ›Literaturproduzenten‹, immer wieder motiviert durch den theoriefesten Verlagslektor und promovierten Juristen Frank Benseler, um 1970 zum Erliegen gekommen war, später wird die Gewerkschaftsbewegung mit Hannes Schwenger in diese ideengebende Rolle eintreten. Ein andauernder Streitpunkt war dabei die Abgrenzung vom bestehenden, »bürgerlichen« Buchhandel, auf dessen Logistik ja auch die linken Läden angewiesen waren, und auf dessen Vertriebskapazität linke Verlage nicht verzichten mochten, etwa mit einem Boykott von Montanus Aktuell, der neuartigen Filialkette (S. 218–219). Bei allen Vorbehalten gegenüber der ›bürgerlichen‹ Justiz konnten auch linke Verlage der Verletzung von Verlagsrechten durch andere linke Verlage oder Raubdrucker nicht tatenlos zusehen (S. 165–168). So verbreitet sich die Einsicht, dass »auch ein von Genossen geführter Laden ein kapitalistischer Betrieb bleibe« (S. 222). Sollte also der VLB den revolutionären Auftrag in den Vordergrund stellen, oder eine fachgemäße Organisationsform finden? Die Frage führte schließlich zur Spaltung des Verbandes, die 1972 mit seiner Neuorganisation als losem Netzwerk (»in freier Kooperation«) ein Ende fand. Erst mit der Ernüchterung nach dem ›Deutschen Herbst‹ gab es eine linke Konsolidierung, als die »Zaungäste« der 68er Bewegung in den Alternativbewegungen eine neue Gründungswelle spezialisierter Buchläden, nicht zuletzt für Kinder und Frauen auslöste (Kap. 5.1).

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Eine solche Untersuchung des linken Buchhandels (einschließlich seiner Druckereien) fordert die der Gegenposition geradezu heraus. Buchhändler, Verleger und offizielle Mitarbeiter des Börsenvereins, schließlich auch der Staat traten dem linken Publikationswesen und seinen Akteuren offen entgegen. Die Kapitel 4.3.1 »Der Börsenverein und die Raubdruckfrage« (eine stellenweise absurde Kriminalgeschichte) und 4.3.2 » ›Maulkörbe‹ für den ›Schutz des Gemeinschaftsfriedens‹«(über die Auswirkungen der §§ 88a und 130a des StGB) führen solche Untersuchungen beispielhaft durch. Allerdings findet sich in der Einleitung auch ein Hinweis des Verfassers auf die mangelhafte Bereitwilligkeit der Sicherheitsbehörden, dazu Material bereit zu stellen. Die Aktivitäten des linken Buchhandels trafen auf einen Börsenverein, dessen symbolische Bedeutung durch die Teilung des deutschen Buchmarktes und die Lasten der NS-Zeit schon gemindert war, und der deshalb umso heftiger auf Angriffe reagierte. Die Phase konservativer Vorsteher des Börsenvereins zwischen 1965 und 1974 bot daher kaum Ansätze zu einer Annäherung der Konfliktparteien. Die von beiden Seiten kritisierte Doppelrolle des angesehenen Verlegers Siegfried Unseld als tätigem Verbandsmitglied einerseits und fortschrittlichem Verleger kritischer Literatur andererseits (siehe S. 106) zeigt das ganze Ausmaß des Dilemma.

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Zweitens: Mit der Untersuchung der Buchhandelsgeschichte öffnet sich der Blick auf die innere Geschichte der Bundesrepublik in der Epoche. Das Kapitel 4: »Der linke Buchhandel im alternativen Milieu (1973–1977)« wird so zu einer Rundumsicht auf die oft vernachlässigten äußeren Bedingungen von Branchengeschichte. Während eine allgemein konstatierte politische wie ökonomische Tendenzwende auch die Vorräte an linker Literatur zum Lagerproblem macht und linksliberale Verlage diesen Programmsektor ›zurückfahren‹, sieht Sonnenberg im veränderten VLB ein »rebellische Intelligenz« am Werk, die dann im Terrorismus des Herbstes 1977 vor neuen Herausforderungen stehen wird. Zunächst aber wirken neue soziale Bewegungen auf Buchproduktion und -distribution ein: Frauenbewegung, Kinderläden, Umweltschutz, aber auch eine neue Subjektivität führen zu einem Themenwechsel. Eindrucksvoll, in einer seltenen Kombination von interessierter Beobachtung und kritischer Reflexion, verfolgt Ulrich Sonnenberg dann die Auseinandersetzung innerhalb des linken Milieus, die um die Parolen und Aktionen des »bewaffneten Widerstandes« kreisen – ein Meisterstück objektivierender Geschichtsschreibung über Zeiten des Terrorismus. Auch hier fehlt es nicht an Beispielen brisanter Drucksachen und ihrer Verbreitung, sei es das heftig umstrittene Buch Peter Brückners Ulrike Marie Meinhof und die deutschen Verhältnisse bei Wagenbach, sei es der »Mescalero«-Artikel zum Mord an Siegfried Buback in den Göttinger Nachrichten, sei es das vieldiskutierte Kollektiv-Projekt einer Sammlung von Schriften der RAF, die dann 1977 als Texte der RAF in Lund/Schweden erschien.

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Drittens: Wenn es eines Nachweises bedürfte, dass Buchhandelsgeschichte zugleich materielle Literaturgeschichte sein kann, dann ist er hier geführt. Das betrifft die Belletristik allerdings nur am Rande. Immerhin: Bei Oberbaum wurden (übrigens unter sachkundiger Beratung von Theo Pinkus) Romane der nachrevolutionären russischen Literatur in zeitgenössischer Übersetzung nachgedruckt, neue Arbeiterliteratur aus dem Umfeld der Gruppe 61 erschien bei Fischer und Luchterhand, die staunenswerte Hölderlin-Ausgabe im Verlag Roter Stern eröffnete ab 1973 eine »neue deutsche Editionsphilologie« (S. 318), bei Rotbuch findet man später Autoren wie Herta Müller, Helga M. Novak, Peter Schneider, Thomas Brasch und Heiner Müller (S. 322 f). Trotz weitgehender ideologischer Differenzen wird die seit den sechziger Jahren importierte Literatur der DDR bei Suhrkamp und Luchterhand auch vom linken Buchhandel zur Kenntnis genommen (S. 216). Hier gibt es jedoch eine Interessen-Überschneidung: Die DDR selbst bemühte sich in Zusammenarbeit mit der westdeutschen DKP um die Einrichtung beziehungsweise Finanzierung eines Vertriebssystems für ihre Literatur in der Bundesrepublik, Buchhandels- und Verlagsunternehmen wie Pahl-Rugenstein, Röderberg oder der Brückenverlag entfalteten eine sichtbare Präsenz mit Läden und Büchern. (Zugleich führt der ›Republikflüchtling‹ Christian Boblenz den Roten Buchladen in Marburg). Eine weitaus größere Bedeutung aber als die fiktive Literatur gewann die Wiederentdeckung vergessener oder verdrängter theoretischer Schriften zu Marxismus und Revolution, Psychoanalyse und Erziehung (1.3 »Markt für Marx« und 4.1 »Tendenzwende auf dem Markt für Marx«). Adorno, Lukács, Bakunin, Wilhelm Reich, Ernst Bloch, Victor Serge, Marcuse, Karl Korsch, Erich Fromm, Blanqui – die Reihe der im Register des Buches mehrfach aufgeführten Autorennamen ist lang. Hier setzte denn auch die Raubdruck-Produktion an, die als »Vergesellschaftung geistigen Eigentums« verstanden wurde (S. 152), und deren Ausbreitung und Verfolgung zu immer neuen Diskussionen und Differenzen führte. Was die Neue Linke an theoretischem Rüstzeug und Lesestoff für sich entdeckt, wird wieder öffentlich gemacht, ein Prozess, der auch den bekenntnisfreien Diskurs belebte, die Lesebiographien damaliger Studenten prägte und den bibliographischen Horizont des Wissenschaftsbetriebes erweiterte.

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Das politische Interesse führt zudem auch zu einer Konjunktur der Übersetzungsliteratur. Bücher französischer Autoren wie Louis Althusser, Régis Debray, Roland Barthes oder Jean Baudrillard fanden so ihren Weg in die allgemeine Diskussion, der Merve Verlag vor allem bearbeitete hier Neuland (S. 319 ff), während Wagenbach sich der italienischen Literatur zuwandte und mit Pier Paolo Pasolinis Freibeuterschriften einen großen Erfolg erzielte (S. 322). Aus dem Ausland kamen neben den Büchern auch literaturkundige Unterstützer und Ratgeber, wie Theo Pinkus, die legendäre Gestalt aus Zürich, der mächtige italienische Verleger Giangiacomo Feltrinelli, der Chilene Gastón Salvatore, Tomas Kosta aus der CSSR oder der aus Frankreich exmittierte Daniel Cohn-Bendit – eine Internationalisierung der Szene, die in der Darstellung gebührende Beachtung findet.

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Bei all diesen Durchblicken bleibt die chronologische Ordnung und bleibt der organisationsgeschichtliche Rahmen des Ganzen immer bewahrt. Das Kapitel »Ausdifferenzierung der radikalen Linken« (3.1) folgt den Verästelungen und Antagonismen der fortschreitenden Organisationsgeschichte des linken Buchhandels bis ins Detail der theoretischen Begründungszusammenhänge und verhindert so jede unhistorische Verallgemeinerung der Begriffe. Im Exkurs »Agitprop auf dem Pfad des KBW« (3.3) erhebt sich die Frage, ob nicht umgekehrt Buchhandels-Projekte eine Programmdebatte beeinflussten, die »am 12. Juni 1973 in die KBW-Gründung mündete« (S. 242). Die umfangreiche Arbeit erfüllt so die Forderung nach unbefangenem Studium der Quellen wie die nach zeithistorischer Erkenntnis auf überzeugende Weise.

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Anmerkung zur Branchengeschichtsschreibung

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Von Marx zum Maulwurf erscheint in der Reihe Geschichte der Gegenwart, die von zwei Historikern am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung herausgegeben wird, das Buch erscheint also außerhalb der üblichen buchhandelsgeschichtlichen Wissenschaftsforen. Während die offiziöse, von der Historischen Kommission des Börsenvereins herausgegebene Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert fortschreitet (der Band »Bundesrepublik« ist in Arbeit), hat sich seit dem Anfang der neunziger Jahre eine Reihe von Sammelbänden und Monographien entwickelt, die ausdrücklich den Zusammenhang von Buchzirkulation und Politik in den Blick nehmen. 1 Uwe Sonnenberg verweist schon in der Einleitung auf diese neue Beziehung zwischen Buchhandelsgeschichte und Zeitgeschichte (S. 11 f.). Befreit von der üblichen Periodisierung und der Sparten-Gliederung in Sortiment, Verlag und Zwischenbuchhandel sowie ohne Bindung an Verbands-Gesichtspunkte untersuchen die Autoren die wechselseitigen Beziehungen von Innen- und Außenverhältnis im Buchbetrieb, und beobachten dabei aufmerksam dessen abweichende Formen: Seit Robert Darnton 1979 sein The Business of Enlightenment herausbrachte, hat das Interesse an subversiven und klandestinen Verfahren des Ideentransports nicht mehr nachgelassen. Das Buch von Uwe Sonnenberg nimmt jetzt in dieser Forschungs-Umgebung seinen Platz ein.

 
 

Anmerkungen

Siegfried Lokatis: Hanseatische Verlagsanstalt. Politisches Buchmarketing im »Dritten Reich« (1992); Ulrich Faure: Im Knotenpunkt des Weltverkehrs. Herzfelde, Heartfield, Grosz und der Malik-Verlag (1992); Bernd R. Gruschka: Der gelenkte Buchmarkt. Die amerikanische Kommunikationspolitik in Bayern und der Aufstieg des Verlages Kurt Desch 1945 bis 1950 (1995); Thomas Keiderling: Unternehmer im Nationalsozialismus. Machtkampf um den Konzern Koehler & Volckmar AG & Co (2003/2008); Die Politisierung des Buchmarkts – 1968 als Branchenereignis, hg. von Stephan Füssel (2007); Mark Lehmstedt: Die geheime Geschichte der Digedags. Die Publikations- und Zensurgeschichte des ›Mosaik‹ von Hannes Hegen (2010); Olaf Blascke: Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich (2010); Konstantin Ulmer: VEB Luchterhand? Ein Verlag im deutsch-deutschen literarischen Leben (2016).   zurück