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Ausnahmezustand, Lektüren

  • Cristina Fossaluzza (Hg.): Literatur des Ausnahmezustands (1914-1945). 306 S. Broschiert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-8260-5314-6.
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Im Gefolge der Terroranschläge vom 11. September 2001 und des USA Patriot Act, der wesentliche Einschränkungen der amerikanischen Bürgerrechte vorsieht, hat der Begriff des Ausnahmezustands in der Diskussion um die aktuellen Verwerfungen des Staatsrechts abermals größte Aufmerksamkeit erfahren, desgleichen der Begriff der Souveränität, deren modus operandi, wie Schmitt in seiner PolitischenTheologie von 1922 dartut, der Ausnahmezustand, die partielle Suspension der geltenden Rechtsordnung, bildet. Giorgio Agambens gleichnamiger Essay (dt. Frankfurt 2005), der die Genealogie der Ausnahme auf das römische Recht zurückverfolgt, hat dieser Diskussion wesentliche Impulse vermittelt, und auf indirektem Wege nicht weniger Foucault, der, ohne ausdrücklich auf Schmitt zu verweisen, in Der Wille zur Wahrheit vom Souverän als der Instanz gesprochen hat, die über Leben und Tod der Untertanen gebietet. Indes hat Foucault die Figur des Souveräns gegen die moderne Biopolitik abgehoben, die – ihrer Maxime »leben machen und sterben lassen« gemäß – die institutionell geregelte Förderung des Lebens verfolgt. Ihr gegenüber erscheinen der Ausnahmezustand bzw. die Thanatopolitik – wie im Falle des staatlich verordneten Rassismus, der der Vernichtung von Populationen den ideologischen Vorwand liefert – eher als eine Art Supplement.

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Die in dem von den italienischen Germanisten Cristina Fossaluzza und Paolo Panizzo herausgegebenen Tagungsband Literatur des Ausnahmezustands (1914–1945) vereinten Aufsätze untersuchen, ob und in welcher Form diese zunächst eher juristische und politische Fragestellung in der deutschen Literatur zwischen den beiden Weltkriegen direkt oder indirekt gegenwärtig ist. Das Interesse an dieser übergreifenden Bedeutung des Themas ist nicht von der Hand zu weisen. Denn einerseits ist die Kriegs- und Zwischenkriegszeit die Zeit, die buchstäblich »aus den Fugen« ist. Und andererseits hat Schmitt den Ausnahmezustand in seiner politischen Theologie ziemlich unverblümt als säkularisierte Version der theologisch-dogmatischen Verbrämung des Wunders verstanden, mithin als einen zugleich – oder letztendlich? – metajuristischen Begriff. Benjamin hat denn auch wenig später in Ursprung des deutschen Trauerspiels bei Gelegenheit der Erörterung der barocken Doppelfigur von Souverän und Intrigant dessen Bedeutung für die Lektüre von literarischen Texten erkannt und herausgestellt.

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Der wie auch immer vorläufige Befund, den der Sammelband liefert, ist in vieler Hinsicht überraschend. Denn die Gemengelage Ausnahme-Regel, mit dem Souverän als Instanz, die leicht der mythischen Überhöhung anheimfällt, lässt nicht nur unterschiedliche Deutungen, sondern auch gegensätzliche Reaktionen zu. Sie ist zunächst Anzeige einer Bedrohung und einer Gefahr, der gegenüber der Ausnahmezustand als Rechtfertigung einer Maßnahme fungiert, die vielleicht nicht weniger bedrohlich ist als die Gefahr, die sie zu bannen und abzuwenden verspricht.

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Die Literatur, suggerieren zahlreiche Beiträge des Bandes, ist vor allem ein Seismograph dieser doppelten Gefahr. Hubert Thüring beobachtet an den Figuren der Prosa Robert Walsers – beispielhaft an der des Commis – den antiheroischen Versuch, sich vor den Schikanen der Ausnahme, aber auch dem stummen Zwang der Normalität gleichsam zu ducken oder zu verstecken, durch unendliche Nuancierung des Sprechens, Balance-Akte der Melancholie und des Humors, durch ein Unsichtbar- oder Unwahrnehmbar-Werden, wie man mit Deleuze sagen könnte, und sei es um den Preis des Ichverlusts. Eine vergleichbare, wenn auch ganz anders akzentuierte Strategie diagnostiziert Friederike Reents am Fall der Rönne-Figur, mit der Benn die Widrigkeiten seines geduldeten Überlebens in den 1930er und -40er Jahren aufarbeitet. Der nihilistisch gefärbte Intellektualismus, der seiner »Poetik des Kristalls« zugrunde liegt, ist unempfindlich gegenüber einer Geschichte, die nur mehr als ein regelloses Chaos von »Gummi- und Gefängniszellen, Betten und Särgen« erscheint und keinen anderen Affekt als den des Überdrusses zulässt. Und vielleicht kann man auch in so ungleichartigen Texten wie denen Bergengrüns oder den Marmorklippen Jüngers, wo Figurationen der Souveränität in der Tat auftreten, dem Vorschlag Gabriele Guerras folgend eine wie auch immer indirekte oder gar ohnmächtige Abwehr der Ausnahme entziffern. Anders gelagert ist, obschon mit ähnlicher Tendenz, zeigt Norbert Christian Wolf, das Vorhaben Hofmannsthals im Salzburger Großen Welttheater: Es bemüht sich, die Erschütterung, die durch den Weltkrieg und die russische Revolution ausgelöst wurde, durch den Rückgriff auf christliche Theologeme und korporative Vorbilder zu exorzieren, die dann freilich vom Austrofaschismus rasch in nationalsozialistische Bahnen geleitet werden. Carl Schmitt hätte diesen Versuchen gegenüber, die sich der Dramatisierung der Ausnahme widersetzen, wahrscheinlich von »Neutralisierung« gesprochen. Aber ist der Begriff gerechtfertigt, wenn es sich um große Prosa wie diejenige Robert Walsers oder Benns handelt?

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Unmittelbar an Schmitts Drängen auf die Unhintergehbarkeit des Ausnahmezustands rühren die Beiträge von Alexander Mionskowski und Michael Auer. Ersterer arbeitet mit philologischer Akribie heraus, wie Schmitt sich in seinem späten Essay Hamlet oder Hekuba von Benjamins Versuch distanziert, die Souveränitätstheorie in die barocke Heilsallegorie des Trauerspielbuchs zu inkorporieren, wohl nicht zuletzt deshalb, weil Benjamin selbst sich hierbei – was nicht allen Lesern des Traktats aufgefallen war – unmerklich von Schmitt distanziert. Auer dagegen zeigt, wie Ernst Jünger die totale Mobilmachung, deren historisches Vorbild die erfolgreiche angelsächsische Intervention im ersten Weltkrieg war, der eher nationalstaatlich-kontinentalen Logik der Ausnahme entgegensetzt und in seinem Roman Heliopolis (1949) das literarische Gegenbild einer gänzlich entgrenzten, mobilisierten Welt entfaltet.

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Die Literatur entwirft mögliche Welten, die zur faktischen, geschichtlichen Welt in Nähe und Distanz, in einem ebenso unleugbaren wie unauslotbaren Widerstreit stehen. Der Reiz der Beiträge des Sammelbands besteht darin, diesen am Beispiel eines der brisantesten politisch-juristischen Theoreme des 20. Jahrhunderts vorzuführen und durchzudeklinieren.