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Ambivalente Vorgänge, technische Gegenstände, literarische Schwellen

  • Wolfram Nitsch / Christian Wehr (Hg.): Artificios. Technik und Erfindungsgeist in der spanischen Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit. (Hispanistisches Kolloquium) Paderborn: Wilhelm Fink 2016. 379 S. 18 Abb. Kartoniert. EUR (D) 46,90.
    ISBN: 978-3-7705-6121-6.
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Mit Artificios. Technik und Erfindungsgeist in der spanischen Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit legen die Herausgeber Wolfram Nitsch und Christian Wehr einen Sammelband vor, der programmatisch zwei »Pole […], den erfinderischen Kunstgriff und die technische Erfindung« (S. 7) miteinander in Beziehung setzt. Ein solches Verfahren entspricht der Vielschichtigkeit des Begriffs artificio im Siglo de Oro, wie ihn die insgesamt neunzehn Beiträge – in vier Sektionen aufgeteilt: »Erfindungen in Theorie und Fiktion«; »Artifizien in der Schrift«; »Optische und nautische Apparaturen«; »Theatrale Techniken« – verhandeln. 1 Dabei bestehen die erste, dritte und vierte Sektion jeweils aus vier Artikeln, während die zweite Sektion, »Artifizien in der Schrift«, mit sieben Artikeln den ausführlichsten Teil des Bandes darstellt. Es handelt sich um ein zweisprachiges Buch; die meisten Beiträge sind auf Deutsch verfasst, vier auf Spanisch. Mehrere Artikel arbeiten mit Graphiken oder Bildern: Nachdrucken von Frontispizseiten, Druckerzeugnissen oder Darstellungen technischer Gerätschaften des frühen 16. Jahrhunderts. Zusammen erörtern diese unterschiedlichen Formate, was technische, handwerkliche und künstlerische Verfahren sowie kunstvolle, findige Denkweisen für die frühneuzeitliche spanische Literatur bedeuten, wie sie diese bedingen, mitbestimmen und umgekehrt selbst durch literarischen Erfindungsgeist definiert werden. Calderón, Quevedo, Lope de Vega, Tirso de Molina, Góngora, Gracián, Cervantes sind einige jener bedeutenden Namen und ihrer Werke, um die sich die Reflexionen drehen, daneben werden weniger kanonisierte Autoren (wie Alfonso de Toledo, José Penso de la Vega) sowie zeitgenössische transatlantische koloniale Koordinaten (um Cabeza de Vaca, José Acosta oder Díaz del Castillo) und philosophische Verbindungslinien in die literarische Antike (etwa zu Aristoteles, Vergil, Ovid) erörtert. Der Band geht kultureller Beschaffenheit nach, weist in (Imaginarien von) Maschinerien und Mechaniken ein, führt Erzähl- und Schiffahrtskunst eng, tüftelt über Hydraulik, Optik und Artillerie, berichtet von Theatermaschinen und Schriftapparaturen, von Raum- und Textkonstitution, von sprachlichen Kunstwerken. Dass solche Heterogenität sich nicht in unterschiedlichen Richtungen verläuft, sondern in der Kombination verschiedener Zugänge und Wissensgegenstände das breite Bedeutungsspektrum von artificio umso deutlicher präzisiert, erscheint als eine der herausragenden Stärken dieses Sammelbandes. Artificios eröffnet Einsichten in frühneuzeitliche Praktiken und künstlerische Prozesse in einer von technischer und epistemologischer Transformation geprägten Welt.

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Vernetzungen

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Die Herausgeber berufen sich in der doppelten Lesart von artificio als »Ingenieurskunst und künstlerischem Ingenium« (S. 8) über die historische Semantik hinausgehend explizit auch auf aktuelle Methodik wie jene der einleitend genannten Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT). »Halb Ingenieure, halb Philosophen« (Latour, S. 9), beschrieb ANT-Vorzeigegestalt Bruno Latour einst deren Theoretikerinnen und Theoretiker, und ihre Arbeiten, ein müheloses Gleiten zwischen Epistemologie, Sozialwissenschaften und Semiotik, als »unverständlich« (Latour, S. 10): »Sobald ein feines Weberschiffchen Himmel, Industrie, Texte, Seelen und moralisches Gesetz miteinander verwebt, wird es unheimlich, unvorstellbar, unstatthaft« (Latour, S. 12). Die Toleranzschwelle gegenüber ungewöhnlichen Vernetzungsmöglichkeiten setzt der Sammelband von Beginn hoch an, nicht nur in den Beziehungsvorgängen zwischen Technik und Text, sondern auch in der Anwendung vertrauter oder neuerster, auf jeden Fall unterschiedlicher Methoden der einzelnen Beiträge, um sich an die fraglichen textuellen und kontextuellen Dynamiken des Siglo de Oro anzunähern. Die ANT wird dabei nicht primär, aber doch ansatzweise verwendet, so von Co-Herausgeber Nitsch: er klassifiziert sowohl den literarischen Kunstgriff als auch die technische Errungenschaft als Erstaunen generierende »maravillosa máquina«, differenziert beide jedoch voneinander in der Qualität der literarischen Metaebene (S. 369–370). Seine Überlegungen verbindet Nitsch mit Latours Unterscheidung vom »Wesen der Fiktion« und dem »Wesen der Technik« (S. 370). Auf die ANT beruft sich auch Gloria Chicote in »La imprenta: una simbiosis poético-tecnológica en la literatura popular impresa del Sigo de Oro« (S. 100–110). Darin geht Chicote von »una [...] red de actores« mit »componentes técnicos y [...] componentes sociales que funcionan como totalidad« (S. 104) aus, um ein Druckerzeugnis aus Lima von 1701 zu besprechen. In der besprochenen Drucktechnik und den dadurch veröffentlichten Bildern und Sonetten sieht Chicote Latours Vorstellung von »ensamblaje socio-técnico« bestätigt (S. 108).

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Artificios schließt an die existente Forschung zur spanischen Siglo de Oro-Literatur an, welche Technik und Erneuerungen frühmodernen Denkens in den Mittelpunkt stellt, und erweitert und ergänzt diese durch die eingangs explizierte mehrfache Ausrichtung des Begriffs. Dabei werden frühere Untersuchungen immer wieder aufgegriffen, die zwar Vieldeutigkeit nicht per se ausschließen, sich jedoch oft schwerpunktmäßig in Richtung nur einer semantischen Linie orientieren. So dominieren in der Forschungsdiskussion der letzten Jahrzehnte größer angelegte Studien, Zusammenstellungen und punktuelle Einzelstudien, die entweder auf die textuellen und ikonischen Repräsentationen von Architektur, Verkehrswesen, Militär, Illusionstechniken und anderen technischen Erfindungen eingehen (vgl. García Tapia 1989a/1989b/1992, Whicker 2000, García Tapia/Carillo Castillo 2002) oder sich auf die innovativen Kunstgriffe der einzelnen Dichtungsgattungen und medialen Ausdrucksformen selbst beziehen (vgl. Terry 1993, Boyd/O’Reilly 2014). Hier fügt sich die erste Sektion von Artificios, »Erfindungen in Theorie und Fiktion«, geschmeidig ein, verdeutlicht sie doch auf kunst- und literaturtheoretischer Ebene, was den Band von Vorgängerstudien abhebt. »[D]em Begriff artificio [ist] die oppositive Beziehung zur Natur [...] bestimmendes Merkmal«, schreibt Wolfgang Matzat einleitend, wobei sich eine solche Opposition zugleich auch auflöse, da »auch der natürlichen Welt ein Werkcharakter zugeschrieben wurde« (S. 12). Ambivalenz und Vielschichtigkeit sind im Band leitende Gedanken; abstrakte und angewandte Herangehensweisen sind darin gleichermaßen vertreten und miteinander verwoben. Sabine Friedrichs Untersuchung »Die Inszenierung der Theatermaschine als theatrales Spektakel. Die Aufführung von Calderóns El Mayor encanto, amor« (S. 347–363) vollzieht die von spektakulären Theatereffekten geprägten Inszenierungspraktiken im madrilenischen Siglo de Oro nach; im Fokus auf Verkörperung und Performanz erläutert Friedrich die sich darin austragenden theoretischen Dispute. Ansprechend am Band ist die wissenschaftlich findige, theoretisch und sprachlich gewitzte Ausführung der einzelnen Studien, die selbstreflexiv dem Konzept, dem sie nachgehen, gerecht wird. Auch wird im Gegensatz zu manchen anderen Untersuchungen nicht strikt zwischen peninsularen und kolonialen Ausdrucksformen getrennt, sondern ihre vernetzte Differenz hervorgehoben. Georg Christoph Lichtenbergs Wort zur bösen Entdeckung jener, die Kolumbus zuerst sahen, weist über ein Querlesen einseitig verwendeter kolonialer Begrifflichkeit darauf hin, was Artificios implizit mitpostuliert. Erfinden, entdecken, erkennen, erschaffen ist ab sofort in sich expandierende transatlantische Dynamiken eingebunden, Standpunktabhängigkeit differenziert sich geopolitisch weiter aus, kann nicht eindimensional gedacht werden. Gerhard Penzkofers pointierter theoretischer Beitrag dazu in »Lazarillo bei den Thunfischen oder die amerikanische Erfindung der Perspektive« (S. 63–97) erhebt perspektivisches Denken, Handeln und Gestalten »zu den Grundlagen der europäischen Kulturen« (S. 63) und erläutert, warum »das koloniale Schrifttum zu den wichtigsten Ursprüngen des frühneuzeitlichen Perspektivismus gehört« (S. 69). Bezugspunkt sind dabei immer wieder frühere Studien von Robert Folger, dessen eigener Beitrag »De inventoribus: Alfonso de Toledos Invencionario (1467) und Alvar Núñez Cabeza de Vacas Naufragios (1542/1555)« (S. 39–62) die vermeintliche »Kluft« zwischen der »Buchgelehrtheit« des kastilischen Alfonso de Toledo und der »radikalen Empirie« des kolonialen Chronisten Cabeza de Vaca als komplementäre »Formen der Wissensproduktion in der Frühneuzeit« begreift (S. 60).

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Spielarten

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Den konzeptuellen Ton setzen die beiden eingangs platzierten Artikel, »Natura artifex: Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Natur im Siglo de Oro« (S. 11–24) von Wolfgang Matzat und »Die alten und die neuen Erfindungen. Zwischen Mythos, Lobesrhetorik und Ursachenforschung« (S. 25–37) von Christoph Strosetzki. Beide Beiträge bieten philosophisch fundierte literarische Diskussionen an, um grundlegende Konstanten frühneuzeitlichen Denkens um artifico zu erfassen. Matzat widmet sich einem zeitlos zentralen Schnittpunkt kulturwissenschaftlicher Debatten: dem Verhältnis von Kultur (in der speziellen Bedeutung von »Kunst«) und Natur und ihren Verknüpfungsmöglichkeiten. Schon in diesem ersten Kapitel erhebt sich artificio zu einem ausdifferenzierten Konzept, dessen historisch gewachsenen semantischen Schichten Matzat offen legt. Ihm geht es vornehmlich um die »Spielräume, die der Kunst eingeräumt werden können«, und zwar in einem raumzeitlichen Gefüge, in dem sich zwei Vorstellungswelten komplex überlagern: erstens jene von »Kunst [...] als Nachahmung der Natur« und zweitens jene der »Natur [...] als vorbildliche[r] Künstlerin« (S. 12). Matzats Argumentationsweise besticht, denn sie macht frühneuzeitliche ästhetische Relationen, ethische Ordnungen sowie verschiedene Interpretationswege dazu sichtbar. Innerhalb dieses gesetzten Rahmens wird künstlerisches Handeln auf unterschiedliche Weise wahrnehmbar, als ungezwungene oder reglementierte, beschwingte oder behäbige Option. Matzat rekonstruiert zunächst den Transfer antiker Vorstellungen ins Siglo de Oro, wo beides rezipiert wird und Bestand hat. Die Thesen der »Schöpfung [...] als Kunstwerk« und »Gott als unüberbietbare[m] Künstler« (S. 14) sowie »die Definition der Kunst als Nachahmung der Natur« (S. 15) belegt Matzat mit spanischen Texten des 17. Jahrhunderts zur Ästhetik von Vicente Carducho und Francisco Pacheco (S. 15–16). Um kunsttheoretische Prämissen gebührend auszuloten, bezieht sich Matzat auf unterschiedliche literarische und philosophische Texte. Er konstatiert im Illusionsstreben jene Spielräume, die »menschlicher Kunstfertigkeit auch dadurch eingeräumt« würden, dass selbst die Natur Fehler begehe (S. 22). Kunst setze sich allerdings immer »dem Verdacht aus, dem göttlichen Künstler ins Handwerk pfuschen zu wollen«, was wiederum geistreich ausgearbeitete Erklärungsmuster über die Daseinsberechtigung von Kunst hervorgebracht habe (S. 24).

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Ein Leitmotiv des Buches ist die Frage nach Neuem und Altem. Für Matzat diskutiert sich dies in barocker Kunsttheorie im »beliebten« Konzept der variedad (S. 14), das »für das Verhältnis von Kunst und Natur« (S. 17) und somit auch für artificios entscheidend sei. Strikte Vernunftorientierung im Sinne Thomas von Aquins oder Aristoteles stehe der »schon von Augustinus vertretene[n] und in der Renaissance häufig favorisierte[n] Konzeption einer stets Neues hervorbringenden, unendlichen göttlichen bzw. natürlichen Schöpfungskraft entgegen« (S. 17). Für Strosetzki sind »neue und alte Erfindungen« titelgebend; er formuliert »eine Geschichte der Anfänge« (S. 25). Strosetzki zeigt dabei auf, wie eine solche im spanischen Siglo de Oro und darüber hinausgehend mit anderen Ideen wie Originalität, Ursprungsdenken und mit Wertvorstellungen verbunden ist: »Im Spanien der frühen [sic!] Neuzeit gereichen die Erfinder zum Lob Spaniens« (S. 27). Strosetzkis Beitrag wird von immer neu auftauchenden Fragen getragen, wie jener, ob es »tatsächlich immer die Anfänge« seien, »die eine Erfindung besonders wertvoll machen, oder [...] nicht vielmehr ihre weitere Ausarbeitung und ständige Perfektionierung« (S. 35). Es erscheint kaum verwunderlich, wenn sich die im Band versammelten Beiträge implizit oder explizit dem »Kult des Neuen« (S. 25), wie Strosetzki es kritisch nennt, widmen. Diese Denkfigur ist einerseits in das Konzept artificio, andererseits in die Wissenskonfiguration der Frühen Neuzeit eingeschrieben. Niklas Luhmann hatte »das Neue« als philosophische Grundoperation der Neuzeit am Buchdruck festgemacht. Davor »hätte man gar nicht wissen können, welches Wissen […] neu ist. […] Erst die Publikation […] stell[t] ein eindeutiges Kriterium bereit. Als neu zählt, was erstmals publiziert ist« (Luhmann, S. 296). Artificios ergänzt diese medientheoretische Herangehensweise, wenn Strosetzki noch allgemeiner aufzeigt, wie Erfindungen »[d]ort, wo [sie] das Feld der Technik überschreite[n], [...] zu Kulturentstehungstheorien« und »[w]o sie das Feld der Artefakte, menschlicher Produkte also, überschreiten[n], [...] zu allgemeinen Entstehungstheorien [führen]« (S. 25). Der Anspruch, kulturphilosophische Entwürfe anhand der unterschiedlichen Spielarten des Konzepts artifico zu begreifen, findet sich im Buch immer wieder. Für Strosetzki ist die Auseinandersetzung mit Neuerung auch eine Frage nach dem Althergebrachten, und Erfindungsgeschichten schrieben die Genealogien von Traditionen (S. 25). Strosetzki schließt hier an gängige Prämissen der philologischen Innovationsforschung an, welche Neuerungsansprüchen eine »oxymorale Struktur« zuschreiben, wobei Neues das Alte ablöst, sich aber darauf bezieht, um überhaupt bemerkbar zu werden (Danneberg/Vollhardt, S. 50). Aus Sicht der Innovationsforschung erklärt sich die wissenschaftliche Leistung und die Attraktivität eines Sammelbandes wie Artificios noch einmal anders. In ihrer Zusammenstellung bieten die Artikel ein Panorama über die vielfältigen »Änderung[en] vorhandener Wissensstrukturen« (Luhmann, S. 217) im spanischen Siglo de Oro an.

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Fortsetzungen

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Aufschlussreich sind im Zusammenhang mit Erneuerung und ihrer situationsabhängigen Bewertung vor allem zwei Beiträge in Artificios, die die Notionen Original und Originalität differenziert betrachten: Gerhard Penzkofer und Hanno Ehrlicher befassen sich mit den Fortsetzungen von Lazarillo de Tormes und von Cervantes’ erstem Teil des Don Qujiote und reflektieren die traditionell eher geringschätzige Aufnahme dieser literarischen Folgefälle. Ehrlichers »Autorschaft, Artifizium und Theatralität bei Cervantes und Avellaneda« (S. 137–162) widmet sich Cervantes’ kunstfertigem zweiten Teil des Quijote von 1615 als »Fortsetzung der schon vorhandenen ersten Fortsetzung von Alonso Fernández de Avellaneda von 1614« (S. 138). Ehrlicher bespricht die Dynamiken, die die drei Versionen des Don Quijote gemeinsam generieren. Statt Urteilen der »›falschen‹ Fortsetzung« und des »zweiten ›Original[s]‹« rückt Ehrlicher »Ambivalenz« und »Beziehung zum Anderen« in den Vordergrund (S. 146–147).

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Der weiter oben erwähnte Artikel Penzkofers folgt den sich bis ins 20. Jahrhundert ziehenden Abwertungen zur Lazarillo-Fortsetzung: jenen von Menéndez Pelayo, der Fortsetzer habe das imitierte Original nicht verstanden, oder jenen von Martín de Riquer über die Absurdität der Forsetzung, »escrita por quien [...] era incapaz de imitar [...] la gran novelita« (de Ríquer, zitiert in Penzkofer, S. 85). Sowohl Ehrlicher als auch Penzkofer stellen sich den Fragen der Fortsetzungsästhetik. Penzkofer, ganz im Sinne eines aktualisierten Forschungsstandes und unbeeindruckt von Originalitäts- und Imitationsphantasien, stellt die Lazarillo-Fortsetzung, »um meinerseits mit einer Wertung zu beginnen«, als ein »äußerst gelungenes und interessantes Werk der Frühen Neuzeit« vor (S. 87). Er schließt an die ab den 1970er-Jahren im Zeichen der Intertextualität verhandelte Textrezeption an und sieht »das Verhältnis von Fortsetzung und Original als Transkription« (S. 86). Ehrlicher betrachtet das weniger brillante Erzählen Avellanedas nicht alleine als »ästhetischen Rückschritt«, sondern als produktiven Katalysator, der die zeitgenössische Literaturproduktion vorantreibt (S. 138). Einfache Zuschreibungen der Opposition Kunstlosigkeit/Kunstfertigkeit unterbrechen sich auf diese Weise. Zwar belegt Ehrlicher die sehr unterschiedlichen Grade an kunstvollem Schaffen von Cervantes’ und Avellanedas Ausgestaltung in »der Episode um Maese Pedro« (S. 151): bei Avellaneda diene diese »dem Verlachen des normativ Abweichenden und der […] Bestätigung der Normen«, während in Cervantes’ ungleich komplexerer Version die »klare Kontrastierung von positiver Norm und lächerlicher Normabweichung verloren« gehe (S. 152). Ehrlicher beurteilt die Dynamik zwischen den Werken Avellanedas und Cervantes’ insofern als literaturhistorisch folgenreich, als Cervantes’ kunstvoller zweiter Teil des Quijote sich auch in der Avellaneda’schen Fortsetzung begründe. Hier ansetzend weitet Ehrlicher die Frage um Autorschaftsquerelen langsam aus. Er macht die Verknüpfungspunkte zwischen den beiden Fortsetzungen des Don Quijote sichtbar, bindet sie in ein interrelationales Netz um Cervantes ein, das Lope de Vegas und Mateo Alemáns konkurrierendes Wirken ebenso berücksichtigt wie die sich bis ins 21. Jahrhundert ziehenden Interpretationsweisen dazu. Dabei distanziert sich Ehrlicher vom Bestreben der dominierenden Avellaneda-Forschung, dessen »wahre Identität« aufzudecken. Deren Methoden gelte es vorsichtig zu evaluieren (S. 142). Der online abrufbare CORDE-Korpus der RAE etwa könne nur scheinbar objektive Daten zur Identifizierung der Autorschaft Avellanedas liefern und sei auch nicht, wie öfter lanciert, einfach im Kreis des Lope de Vega anzusetzen (S. 139–140). Ehrlicher selbst verbindet Digital Humanities und Stilometrie mit Hermeneutik; diese innovative Methodenfusion unterstützt die vorgeschlagene Horizontverschiebung. Er erforscht vielmehr artificio und Autorschaft in allen drei Teilen des Quijote sowohl quantitativ als auch qualitativ: in der Häufigkeit und Art der Wortverwendung.

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Penzkofers Artikel widmet sich den Fortsetzungen des Lazarillo de Tormes, der 1555 erschienenen anonymen ersten Version und der 1620 von Juan de Luna publizierten Fortsetzung (S. 84–85), und präsentiert eine zweigeteilte Argumentation. Diese spürt eine »Erfindung der amerikanischen Perspektive« in den Schriften der kolonialen Chronisten, speziell in der »autobiographischen historiografía indiana« (S. 81) auf, die Penzkofer beschreibt und schließlich in »Perspektivenkonkurrenz« (der Darstellung eines Gegenstands oder Ereignisses durch mehrere Autorschaften) und »Anamorphose« (optische Verstreckungsmittel, die die perspektivische Relativität verdeutlichen) festsetzt (S. 81–82). Diesen kultur- und texttheoretischen Rahmen liest Penzkofer mit der Lazarillo-Fortsetzung von Juan de Luna quer, danach fragend, »ob und wieweit diese koloniale Perspektivenführung Widerhall in der gleichzeitigen spanischen Literatur findet« (S. 84). Hier erweisen sich Altes und Neues, Originales und Imitiertes als ebenso relative Größen wie das Erstellen von Perspektivik, das Penzkofer in frühneuzeitlichen Texten auslotet. Asymmetrie ist richtungweisend und bezieht sich auf kolonialgeschichtliche Parameter ebenso wie auf den Erfindungsreichtum der vermeintlichen Imitation. Ein Blick in die Lateinamerikaforschung der letzten Jahre zeigt, wie diese die Machtverhältnisse in kolonialen Beziehungen verstärkt beachtete. Gudrun Rath etwa hatte eine »unterwürfig[e] Haltung zum „so genannten ›Original‹« attestiert, welche von der »Kolonie als Duplikat des ›Mutterlandes‹ [...] ebenso wie von der Übersetzung« erwartet wurde (Rath, S. 8). Diese Kritik lässt sich mit Penzkofers Überlegungen konstruktiv verbinden, indem er die Logik des Original-Denkens doppelt unterläuft. Die Lazarillo-Fortsetzung beschreibt er als ein Werk zur »spanische[n] Amerika-Erfahrung«, das koloniale Perspektivik vielfach und keinesfalls zufällig einsetzt: in der Reise- und Seefahrtsmotivik, in der Entdeckung neuer Welten und auch in der Erzählform (S. 90–91). Die Fortsetzung erweist sich so als ein spanischer frühneuzeitlicher Text, der durch den Kontakt mit den Amerikas lebt und dessen künstlerische Kriterien sich abseits der Schiene Imitation/Original festlegen lassen.

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Mit artificio bezeichnet Penzkofer Erfindungsreichtum bezüglich Perspektivik. Darin verschmelzen unterschiedlich geprägte, geopolitisch und ästhetisch differenzierte Denkrichtungen. Ehrlicher wiederum bezieht den Begriff artificio auf Cervantes’ hohe literarische Kunstfertigkeit, welche durch die konkurrierende Version herausgefordert wurde. Linienvorgebend wird allerdings klar, dass Ehrlicher sich nicht auf diese alleinige Bedeutungsebene beschränkt. Das Verständnis, das er anregt, befreit artificio von »disziplinäre[n] Trennung[en]« und »methodische[n] Separierung[en]«, gesteht ihm seine »Mehrdimensionalität« akzentuierter zu als andere Beiträge (S. 137), welche sich später wieder auf Ehrlichers Definition beziehen (so etwa Wolfram Nitsch im selben Sammelband, S. 366). In diesem Sinne geht Ehrlicher in Bezug auf Cervantes und Avellaneda von einem mehrfach stattfindenden »artificio-Komplex« aus. Die Darstellung »technisch-mechanischer« und »theatralischer Dispositive« sei darin nicht von »erzählerisch inszenierte[r] Theatralik« und narratologischen Fragen zu trennen (S. 138). Diese unterschiedlichen, kunstfertig verflochtenen Komponenten lotet Ehrlicher durch seine semantische Analyse der Wortverwendung von artificio in den drei Versionen des Don Quijote aus. Sowohl in Penzkofers als auch in Ehrlichers Reflexionen werden Literaturproduktion und Genie als von mehreren Faktoren abhängige, beziehungsreiche Prozesse begreifbar, wobei Kunstfertigkeit und technische Konstanten multidirektional literarisch wirksam werden.

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Kosmologien

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In der Idee artificio, seinen Gegenständen und Literarisierungen, verdeutlichen sich auch epochale Umbrüche, historische Widersprüchlichkeiten und kulturelle Überlagerungen. Teils unmerklich, teils ausdrücklich situieren sich die versammelten Artikel entlang von Schwellen. Kirsten Kramer führt in »Artificio und ingenio. Schrifttechniken und nautische Wissenspraktiken als Kulturtechniken der Welterschließung in Góngoras Soledades« (S. 257–280) zwei liminale Zonen eng, die sich profilierende moderne Wissenskultur und die Textsorte Lyrik. Kramer geht den poetischen Ausformungen frühneuzeitlicher Verstehensmuster nach. Sie erforscht, wie darin »die überkommene[n] Erfahrungskategorien und Wirklichkeitskonzepte nachhaltig erschüttert« werden und sich »in allen Lebensbereichen veränderte theoretische Erklärungsmodelle« generieren. (S. 257). Eindrucksvoll ist hier jene von Kramer zitierte Textstelle aus Soledades, die den Magnetstein – den Kompass – kunstvoll poetisiert:

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Naútica industria investigó tal piedra,
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que, cual abraza yedra,
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escollo, el metal ella fulminante
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de que Marte se viste, y, lisonjera,
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solicita el que más brilla diamante
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en la nocturna capa de la esfera,
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estrella a nuestro Polo más vecina,
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y, con virtud no poca,
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distante la revoca,
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elevada la inclina
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ya la Aurora bella
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al rosado balcón, ya a la que sella
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cerúlea tumba fría
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las cenizas del día. (I, 379–392, zitiert in Kramer, S. 276).
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Die Entscheidung des ausführlichen Zitierens lässt Kramers Analyse atmen. Góngoras Zeilen sprechen für sich und belegen aus erster Hand, was Kramer meint: die »mathematische Präzision astronomischer Berechnungs- und Regulierungstechniken« kennzeichne auch die »zeichengestützte Schriftpraxis Góngoras«; die »Beschreibung des technischen Modells mit dem Rekurs auf den Fachterminus ›elevada‹« nehme auf die »von der Entfernung des Polarsterns abhängige Ausrichtung der Kompassnadel Bezug« (S. 277). Die Anspielung auf antike Gottheiten bringe zudem erotische und mythologische Vorstellungen ins Spiel; räumliche, technische und poetische Welterkundung fallen zusammen. Sehr einleuchtend erscheint in diesem Zusammenhang Kramers Überlegung, dass sich in Góngoras Soledades und in der Schichtung unterschiedlicher Komponenten die Konturen einer »Kosmologie der Moderne« abzeichnen – ein großer Denkansatz, der weiterführende Fragen aufwirft und die philosophische Transferierbarkeit der Thesen zu Soledades untersuchen müsste. Was würde die Darstellung einer solchen »Kosmologie der Moderne« beinhalten und was nicht? Wie ordnen sich Technik und Erfindergeist sowie standortabhängige und sich überlappende Welterklärungsversuche darin ein? Welches Verständnis über historische oder bis ins Heute nachwirkende Verstehensprozesse könnte dieser Ansatz generieren? Welche Rolle spielen die weit gefassten assoziativen Bedeutungswelten, die gerade die Textsorte Lyrik anbietet?

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»Vom Entdecken zum Erfinden. Inszenierungen der astronomischen Wende bei Saavedra Fajardo, Quevedo und Gracián« (S. 219–231) von Christan Wehr dreht sich um Schwellen. Ihm geht es weniger um eine lyrische als um eine generell epistemologische und literarische Erschließung einer sich verändernden Welt. Sinnvoll im Sammelband vor Kramers Artikel platziert, betrachtet Wehr das Siglo de Oro unter dem Gesichtspunkt der »Koexistenz zweier konkurrierender Kosmologien« (S. 219), dem anhaltend wichtigen geozentrischen Weltbild und dem Aufschwung der heliozentrischen Lehren. Einschneidende technische Veränderungen und epistemologische Prozesse sind miteinander verzahnt. Wehr setzt die entscheidende Umbruchsphase zwischen 1610 und 1640 an und argumentiert, wie die »Konkurrenz ungleichzeitiger Kosmologien« zwar in zeitgenössischen Schriften wenig explizit beachtet werde, sich jedoch in literarischen Texten manifestiere und so »zum anachronistischen Profil der Epoche« betrage (S. 219). Zentral formuliert und belegt Wehr seine »These, dass die barocke Poetik des konzeptistischen, scharfsinnigen Sprechens entscheidende Impulse aus einer Ästhetisierung erkenntnistheoretischer Ideen erhält« (S. 219), und zwar aus der »kopernikanischen Astronomie« (S. 220). Auch Kirsten Kramer war von der »Welterschließung und ingeniöser Konzeptistik bei Gracián« ausgegangen (S. 261). Die literarische Inszenierung neuer kosmologischer Ansichten und Attribute sowie die Taktiken der Verschleierung derselben (kontextualisiert mit konkret drohenden Indizierungs- und Inquisitionspraktiken) fächert Wehr in Folge im Schaffen Saavedra Fajardos, Quevedos und Graciáns auf.

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Die Unsicherheitszone, in der sich Schwellenforschung generell bewegt und in der sich akzeptierte Wahrheiten und fixe Zahlen, Daten, Fakten unversehens modifizieren, prägt auch Wehrs Artikel, der an jene Studien anschließt, die in der »Gleichstellung von helio- und geozentrischer Kosmologie im 17. Jahrhundert [...] die Auffassung eines rein mittelalterlich-restaurativen Barock im tridentinischen Spanien« kritisieren und stattdessen das »ambivalente epistemologische Profil« der Epoche hervorheben (S. 219). So liest Wehr »[h]inter der restaurativen Fassade« von Saavedra Fajardos Idea de un príncipe político cristiano, representada en cien empresas den »anachronistischen Versuch«, beide Kosmologien miteinander harmonieren zu lassen (S. 220). Die beiden aufeinanderprallenden, miteinander verhandelten Weltbilder betrachtet Wehr sodann vor allem im Artifizium des Fernrohrs bzw. in seiner literarischen Inszenierung, was sich als bedachter Argumentationsschritt in der Frage nach frühmodernen Kosmologien erweist. Das Fernrohr versinnbildlicht visuelles Identifizieren ebenso wie epistemologische Prozesse. Es steht sowohl für perspektivische Verzerrung als auch für das klassische Moment des Erkenntnisgewinns, des sichtbar werdenden Unsichtbaren, des plötzlich ins Bewusstseinsfeld tretenden und dieses transformierenden Wissens. An der Oberfläche augenscheinlich negativ besetzt, widersteht keine der drei von Wehr vorgestellten Textwelten der Faszination Fernrohr. Bei Saavedra Fajardo bezeichnet das Fernrohr allegorisch »den affektischen Kontrollverlust infolge verzerrter Wahrnehmung« und somit eine Ablehnung der neuen Lehren; in diese flechten sich aber Momente heliozentrischer Logik, die Affekte empiristisch begründen (S. 225).

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Auch Quevedos cuadros entwerfen ambivalente Vorstellungen zum Fernrohr, das der indigenen Bevölkerung von einer niederländischen Flotte vorgestellt wird. Lesarten, die in Quevedos literarischer Inszenierung antikoloniale Interventionen erkennen wollen, weist Wehr zu Recht zurück. Quevedo lege dem »indígena tridentinische Argumente in den Mund« und mache ihn somit »zum Parteigänger der spanischen Krone« (S. 226). Der Text sei nicht in seiner politischen Subversionskraft, sondern in seiner konzeptistischen Vielschichtigkeit bemerkenswert. In seiner Literarisierung wird das Fernrohr zunächst kritisiert, dann als entscheidender diskursiver Erkenntnisschlüssel für spanisches koloniales Taktieren eingesetzt. Gracián wiederum umschreibe das Fernrohr im dritten Teil des Criticón als ambivalente »caja de cristales« als »Wahrheits- und Wahrnehmungsmedium« (S. 228), wobei die Natur dem menschlichen Erfindungsgeist unterstellt werde (S. 230). Vor allem in dieser letzten Operation stellt Wehr nicht mehr nur die zwei sich widersprüchlich überschneidenden und Ambiguität erzeugenden Kosmovisionen vor, sondern auch den schon eingeleiteten und sich auch literarisch zuspitzenden Transformationsprozess, der die Weltsicht in Zukunft bestimmen wird.

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Resonanzen

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Artificios macht artificio zu einem Denkprozess: die verschiedenen Beiträge halten um seine frühneuzeitliche Sinngebung inne, verfeinern das Konzept weiter, runden es ab, unterbrechen dort, wo es angemessen scheint. Des Bandes letzter Beitrag, »Feuergehäuse. Artillerie und Pyrotechnik bei Quevedo« (S. 365–379), stammt von Wolfram Nitsch. Seine Reflexionen zu artificio und Literatur beanspruchen zunächst, das Zusammenspiel beider zu erfassen und zu beschreiben. Nitsch unterstreicht noch einmal die Bedeutsamkeit von artificios in der Frühen Neuzeit, lässt keinen Zweifel an ihrer Allgegenwart, bezieht sich auf die an unterschiedlichen Stellen des Sammelbandes offen gelegte, manchmal verborgen gebliebene Vielfalt an frühneuzeitlichen Texten zu Technik. Er klassifiziert und unterteilt sie in Spezialtraktate, Enzyklopädien, historisch-ethnographische Darstellungen und literarische Werke; er bespricht deren zeitgenössische Rezeption in und außerhalb Spaniens (S. 365). An vorangegangene Überlegungen zu gegenläufigen Kosmologien der Frühen Neuzeit anschließend, geht Nitsch von zwei philosophischen Grundoperationen aus, die das Denken um artificios in der frühneuzeitlichen Literatur prägen: einerseits die antike Vorstellung von Technik als trickreiche Überlistung der rücksichtslosen Natur durch den Menschen, und andererseits Technik als methodische Anwendung der Naturgesetze und somit selbst als »zweite« Natur (S. 366–367). Gewalt und List, aber auch Magie und Teufelswerk seien gängige Interpretationsformen von artificios (S. 368–369). Konkret geht es Nitsch sodann um »Feuerwerke« im zweifachen Sinn von Feuerwaffen und Illusionsspielen, die in frühneuzeitlichen Schriften immer wieder gemeinsam gelesen wurden, nicht aber bei Quevedo. In Quevedos Gedankenlyrik verortet Nitsch die Verurteilung von Artillerie sowie die Bewunderung des »Feuerwerk[s] als theatralisches Spiel mit der Schöpfung« (S. 365). Nitsch erinnert sodann an die Neigung der literarischen Texte über Technik, »deren Erfindungen in ihren eigenen rhetorischen und poetischen Kunstgriffen zu spiegeln« (S. 369). Diese These lässt vorangegangene Beiträge des Buches unterschwellig noch einmal mitsprechen, Hanno Ehrlichers Einsicht in die »hochgradig kunstvoll[e] und narratologisch komplex[e] Selbstinszenierung von Autorschaft im Werk Cervantes’« (S. 138) etwa. Auch Wolfram Aichingers Beitrag »›Casar imposibles‹. Las manos blancas no ofenden und das komische Artifizium Calderóns« (S. 321–346) hatte einige Kapitel zuvor den überwältigenden Reichtum findiger literarischer Kunst anhand von Calderóns titelgebender Komödie facettenreich belegt, des Autors »große Meisterschaft, [...] eine gute Komödie zu schaffen« (S. 324) besprochen, sowie die »Kunst und Kunstfertigkeit seiner Werke« (S. 325), die »kunstvolle Gestaltung und Neigung zu Symmetrie und Chiasmus« (S. 326) gelobt. Dabei hatte Aichinger bestätigt, was er zugleich kritisch erforschte, den treffenden Gemeinplatz nämlich, die Komödie Calderóns sei »genau konstruiertes Uhrwerk, Mathematik in höchster Präzision, ersonnen als Spiel« (S. 335). Ähnlich wie Nitsch hatte sich Aichinger dem artificio hinsichtlich Theatralität angenähert, sich aber mit Calderóns Komödienkunst auf die Gattung Theater konzentriert. Beide besprochenen Formen von Theatralisierung – bei Aichinger und bei Nitsch – suggerieren Synthesen und Divisionen. Divisionen, wo Nitsch Quevedos Zweiteilung der artificios de fuego als moralisch bewertete Aufspaltung in Findigkeit und Gewalt erklärt, wobei in seiner Argumentation jedoch Feuerwerk, Theatralität und Kunstfertigkeit synthetisch zusammenfallen. Synthesen wie in Calderóns dramatischer Perfektion, die Aichinger am Ende »an den geheimnisvollen Ort« ankommen lässt, »an dem Theater und Leben ineinander übergehen« als »Theaterstück im Theaterstück« (S. 345). Dies ist das »furiose Finale« (S. 345), ein Zusammenfügen, ein Widerhall des Vorangegangenen: ein weiteres Mal geht es bei Aichinger um die Division, »den Kontrast zwischen kosmischer Ordnung und kleiner Welt, zwischen Schöpfer und Schöpfung« (S. 346) und um deren Darstellbarkeit.

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In den letzten Beiträgen verdeutlicht sich erneut der gemeinsame Ton eines mehrspurig angelegten Sammelbandes. Überhaupt machen die Resonanzen der Artikel untereinander seine qualitative Komplexität und das sich mannigfach ergänzende Gesamtbild mit aus. Der kondensierte Blick, wie ihn Artificios. Technik und Erfindungsgeist in der spanischen Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit vorschlägt, mag zwar andere Kriterien und Komponenten, die literarische und kulturelle Prozesse dieser Epoche ausmachen, ausklammern oder hintanstellen. Auch handelt es sich bei der Reflexion zu technischen und erfinderischen Vorgängen um keine unterrepräsentierte Forschungslinie zur spanischen Frühen Neuzeit. Die vorgeschlagene Ambiguitätstoleranz jedoch ist erfrischend, sie bedeutet ein Würdigen der frühneuzeitlichen Relevanz des schillernden Ausdrucks artificio und ein Ausweiten des bisher nicht in gleicher Weise mehrdeutig verstandenen Feldes. Dass dies von ausgewiesenen Expertinnen und Experten der deutschsprachigen und internationalen Siglo de Oro-Forschung vorgenommen wird, spiegelt sich in argumentativem Tiefgang, akribischer Recherchearbeit und fein austarierten Gedankengängen. Artificios schafft es, abstrakte Sachverhalte und historisch Gegenständliches als Lebensfülle zu präsentieren.

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Bibliographie

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Anmerkungen

Ich spreche in meiner Rezension von Artificios, wenn ich mich auf den vorliegenden Sammelband beziehe, und von artificio(s), wo ich den darin vorgeschlagenen Begriff bzw. das Konzept der Kunstwerke/Kunstgriffe frühneuzeitlicher Prägung aufgreife.   zurück