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Die Qual der Wahl?

  • Paidia Redaktion (Hg.): »I’ll remember this«. Funktion, Inszenierung und Wandel von Entscheidung im Computerspiel. (Game Studies) Glückstadt: Verlag Werner Hülsbusch vwh 6/2016. 364 S. zahlr., teilw. farb. Abb. Hardcover. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-86488-098-8.
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Beim Videospiel handelt es sich um ein eigenes Medium, das sich von anderen Medien, die auf anderen Informationsträgern beruhen, abgrenzt. Das zeigt sich auch an der Art seiner Untersuchung, genauer gesagt: am Aufkommen der Game Studies. Doch wo genau liegt diese Grenze, was unterscheidet beispielsweise das Medium Film vom Medium des Spiels? Eine mögliche Antwort ließe sich in der Interaktivität finden, die konstitutiv für das Videospiel zu sein scheint. Denkt man dies konsequent weiter, so ist der Vorgang des Spielens auch immer ein Vorgang des Entscheidens. Das wirft eine Frage auf: Wenn Entscheidungen so grundlegend für Videospiele sind, warum sind sie dann in der Untersuchung bisher weitgehend ausgespart worden? Die Redaktion PAIDIA schließt nun diese Lücke, indem sie sich entschieden hat, dem Komplex einen eigenen Sammelband zu widmen.

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Would you rather...

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Zentral für den Sammelband steht der Begriff Decision Turn. Dieser bezeichnet, verkürzt ausgedrückt, eine Beobachtung der Herausgebenden, derzufolge in Computerspielen ein zunehmendes Gewicht auf Entscheidungssituationen erkennbar ist. Wenn dies zunächst auch irritieren mag – bezeichnet der Begriff Turn doch eigentlich eine Veränderung der Perspektive in der Rezeption – wird im einleitenden Teil »Wovon wir sprechen, wenn wir vom Decision Turn sprechen« (S. 15) jedoch sogleich geklärt: Die Verfasser argumentieren so, dass eine Veränderung des Untersuchungsobjektes stets auch eine Veränderung der Betrachtung nach sich zieht. Sie sehen die Entwicklungen nicht getrennt, sondern lassen sie »Hand in Hand gehen« (S. 27), um so »die Spiele des Decision Turns unter multiplen Blickwinkeln in Augenschein zu nehmen« (S. 27).

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Die Untersuchung der Entscheidungsprozesse baut dabei lose auf der von Niklas Luhmann in Organisation und Entscheidung beobachteten Einteilung in Vorher und Nachher auf, wobei noch die zusätzliche Phase des Moments eingefügt wird. Das Vorher bezieht sich hierbei auf den Bereich der Entscheidungsprämissen, eine entscheidungsbestimmende Instanz auf subjektiver und diskursiver Ebene. Der Moment der Entscheidung an sich ist somit nur noch die Bestätigung dieser Ansichten. Das Nachher wird weitgehend ausgespart, mit der Begründung, dass »Entscheidungssituationen in Spielen im Normalfall sehr klar als solche inszeniert und gekennzeichnet sind, des Nachhers als Moment des Erkennens der eigenen Entscheidung also nicht bedürfen.« (S. 17)

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Auf diesem Verständnis von Entscheidungsprozessen aufbauend werden mindestens vier – die Herausgebenden räumen hier die Möglichkeit der Existenz weiterer ein – Dimensionen des Decision Turns aufgezählt. Der wichtigste Punkt hierbei ist die anfänglich erwähnte Beobachtung, dass Entscheidungen in Spielen immer mehr in den Vordergrund rücken und sogar einen eigenen Spieltyp charakterisieren. Die zweite Dimension bezieht sich auf die Entscheidungsstrategien, an denen sich Spielende orientieren können. Hier wird diachron eine Veränderung weg von ökonomischen Strategien, bei denen eine vermeintlich ›richtige‹ Entscheidung existiert, die den größten Outcome ermöglicht, hin zu undurchsichtigen moralischen Grauzonen erkannt. Der nachfolgende Punkt erkennt eine Veränderung von Entscheidungssituationen »sowohl in ihrer Reichweite als auch in ihrem Gewicht«. (S. 19) Schlussendlich wird noch die Beobachtung deutlich gemacht, dass »[d]ie Inszenierung von Entscheidungen […] als Moment der Entscheidungen deutlich verändert [wurde].« (S. 19)

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Gemeinsam denken

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Zu erwähnen ist, dass es sich bei den Herausgebenden nicht um einen losen Zusammenschluss aus ForscherInnen mit gemeinsamem Untersuchungsschwerpunkt handelt, sondern, wie im Vorwort des Bandes erwähnt, um Mitglieder des »Münchner Kolloquiums Game Studies und Kulturwissenschaften«. Dass das Thema Entscheidungsfindung im Computerspiel hier bereits seit längerer Zeit tiefgehend betrachtet wurde, zeigen auch die zahlreichen Erwähnungen der bereits im Vorfeld auf der eng mit dem Kolloquium verbundenen Onlinezeitschrift PAIDIA veröffentlichten Artikel, die sich ebenfalls bereits mit dem Thema auseinandersetzten. Ob dies nun einen positiven Effekt für den Sammelband darstellt, lässt sich wohl nur schwer belegen, dennoch lässt sich hier wohl eine mögliche Begründung für die vielseitige Auseinandersetzung mit dem komplexen Thema finden, die über den gesamten Band hinweg erkennbar ist.

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Ordnung ist das halbe Leben

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Ein mögliches Problem bei der Herausgabe eines Sammelbandes besteht in der Heterogenität der versammelten Aufsätze sowie ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen. Das kann leicht zu mangelnder Kohärenz führen, im Ernstfall sogar dazu, dass das übergeordnete Thema des Bandes die einzelnen Beiträge nicht mehr zusammenhalten kann. Im Falle von I’ll remember this ist die Vielfalt Programm, was durchweg positiv zu bewerten ist, da nur so die verschiedenen Dimensionen des vermuteten Decision Turns erschlossen werden können.

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Blickt man auf die Ordnung der Beiträge, so überzeugt die Aufteilung in drei Phasen. Diese wird kongruent und somit stimmig (jedoch nicht vollkommen bedeutungsgleich!) zur Dreiteilung des Entscheidungsprozesses in Vorher, Moment und Nachher vollzogen. Im Teil »Vorher« sind Beiträge zu finden, die sich mit Spielen beschäftigen, die als Vorläufer dessen angesehen werden können, was als Decision Turn verhandelt wird, oder aber auch »Ansätze, die [die] Entwicklung historisieren und kontextualisieren« (S. 11). Aufsätze, in denen Entscheidungen genauer betrachtet werden, etwa nach Inszenierung und Darstellung, finden sich im Abschnitt »Moment« (vgl. S. 12). Schlussendlich folgt noch das »Nachher«, das sich mit der Reflexion befasst. Entweder in Form der kritischen Hinterfragung des Decision Turns oder auch durch die Untersuchung von »Spielen, die bereits die beschriebene Wandlung selbst wieder reflektieren und damit vielleicht schon wieder einen Schritt weiter gehen« (S. 13).

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Vorher 1

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Den Anfang der Einzelbeiträge macht Franziska Ascher mit ihrem Aufsatz »Preis der Neutralität«. Sie geht dabei der Frage nach, ob die Witcher-Reihe repräsentativ für den Decision Turn stehen kann. Um sich dem anzunähern, wird nicht nur die Spiele-Trilogie untersucht und die Entwicklung in drei Phasen gegliedert, sondern auch der Bezug zu anderen entscheidungsbasierten Spielen hergestellt. Chronologisch begleitet der Beitrag so die einzelnen Teile der Reihe und stellt in jedem ein Element des Decision Turns fest, das auch auf eines der im Einführungsartikel herausgestellten Merkmale bezogen werden kann. Der Aufsatz belässt es allerdings auch nicht dabei, nur die Entwicklungslinien nachzuzeichnen. Im nachfolgenden, dem dritten Teil der Witcher-Reihe gewidmeten Abschnitt, der sich mit der Inszenierung von Entscheidungen beschäftigt, führt die Beiträgerin den Begriff der prolongierten Kausalität ein. Gemeint ist damit »das gezielte Hinauszögern der mit einer Entscheidung verbundenen Konsequenzen« (S. 46), wodurch eine Irreversibilität des Handelns geschaffen wird. Durch die beispielhafte Historisierung des Decision Turns und das damit einhergehende Auffüllen der abstrakten Kategorien des Einführungsartikels mit nachvollziehbaren Beispielen leistet der Aufsatz einerseits einen wichtigen Beitrag zum Verständnis, steht aber andererseits auch für sich alleine.

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Eine ähnliche Herangehensweise lässt sich durch die ebenfalls diachrone Untersuchung in Raphael Stübes Beitrag »I can’t change the past« erkennen. Dieser Aufsatz befasst sich zentral mit dem Zusammenhang von Zeit und Entscheidungen und analysiert diesen anhand der Adventures Day of the Tentacle, The Wolf Among Us und Life Is Strange. Er zielt ab auf die Überlegung, dass das Genre Adventure mit Blick auf Entscheidungen einen »Hang zur Entschleunigung« (S. 79) besitzt.

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Mit Deus Ex untersucht Matteo Riatti »einen Prototyp für Videospiele […], die dem Spieler bedeutsame Entscheidungen ohne eine unmittelbare Wertung abverlangen und ihm die Folgen der Handlung erst nachträglich vor Augen führen.« (S. 84) In seiner Analyse der narrativen Strukturen als Hypertext zeigt sich, wie fruchtbar auch literaturwissenschaftliche Strategien in den Game Studies sein können.

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Carsten Lange untersucht Entscheidungen in seinem Aufsatz »Der Freie hat die Wahl, der Sklave gehorcht« anhand von BioShock, indem er die Frage nach Entscheidungsfreiheit und Determinismus stellt. Durch seine Beobachtungen auf spielerischer als auch narrativer Ebene, identifiziert er die Reihe als äußerst selbstreflexiv.

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In seinem Beitrag »And now you got this little girl to take care of...« geht Andreas Schöffmann einen ähnlichen Weg wie Franziska Ascher, indem er die Beobachtungen aus dem Einführungsartikel am Beispiel von Baldur’s Gate 2, der Mass Effect-Reihe sowie The Walking Dead plausibilisiert. Er bezieht sich dabei besonders auf die simulierte soziale Interaktion in Entscheidungsmomenten und erkennt eine Zunahme von Entscheidungen, die »das Feld von Zwischenmenschlichkeit und Gesellschaft betreffen.« (S. 140)

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Moment

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Martin Henning betrachtet in seinem Aufsatz »This game series adapts to the choices you make« Entscheidungssituationen in Episodenspielen mithilfe der Raumsemantik Juri M. Lotmans sowie mit »der Unterscheidung zwischen paradigmatisch und syntagmatisch wirksamen Entscheidungssituationen.« (S. 146) Zunächst werden hierfür die theoretischen Konstrukte auf den Bereich der Game Studies übersetzt, wobei die paradigmatische Ebene in Spielen »etwa die Bildschirmelemente eines Levels«, die syntagmatische »deren Beziehung untereinander« (S. 146) bezeichnet. Aus der Raumsemantik Lotmans wird vor allem der Begriff der sujethaften Ereignisse entliehen. An Beispielen aus Game of ThronesA Telltale Series und The Walking Dead gliedert der Autor nun Entscheidungen in solche von paradigmatischer und von syntagmatischer Natur, wobei paradigmatische Entscheidungen noch die Unterteilung in redundant und valide erfahren. Diese sind in aufsteigender Reihung nach dem Umfang der Konsequenzen gegliedert. So stehen die paradigmatisch redundanten Entscheidungen am Anfang, da kein »Einfluss auf den weiteren Ereignisverlauf« (S. 150) besteht: Die Entscheidungen münden demnach in derselben Konsequenz. Syntagmatische Entscheidungen hingegen zeichnen sich durch einen etwas größeren Bedeutungsumfang aus. Der Autor stellt diesen am Beispiel der für Telltale-Spiele typischen Wahlmöglichkeiten zwischen Leben und Tod zweier Protagonisten fest. Dabei werden »signifikante Veränderungen auf der paradigmatischen Ebene« simuliert, obwohl »lediglich syntagmatische Variationen des Erzählverlaufs« vorliegen. (S. 151) Paradigmatisch valide Entscheidungen bilden die Form, die die vorerst stärksten Konsequenzen mit sich bringen. Sie charakterisieren sich durch »tatsächliche[...] narrative[...] Verzweigungen im Sinne der Hervorbringung unterschiedlicher semantischer Raumordnungen« (S. 152), was sich offenbar vor allem am Staffelende anbietet. Martin Hennig erkennt hierbei jedoch auch ein Problem für das Anknüpfen an dieses Ende und prophezeit für die dritte Staffel von The Walking Dead – und mittlerweile kann das auch verifiziert werden – einen Zeitsprung.

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Anschließend geht Hennig auf paradigmatisch valide Metaereignisse ein, die sich durch eine Neustrukturierung der raumsemantischen Ordnung auszeichnen und daher »in nicht-abgeschlossenen episodischen Produktionen kaum realisierbar« (S. 153) und selbst bei nicht-episodischen Videospielen vor allem am Serienende zu erwarten sind. (vgl. S. 160)

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Abschließend erkennt Hennig mehrere Zusammenhänge zwischen dem episodenhaften Erzählformat und dem Entscheidungs-Gameplay der Telltale-Spiele und leitet daraus eine »Aufwertung des autonomen Spielersubjekts im Kontext populärer und kanonisierter Erzähluniversen« (S. 163) ab. Er argumentiert unter anderem, dass gar »nicht so sehr die Tatsache wie man sich entschieden hat, sondern lediglich, dass man sich entschieden hat, akzentuiert« (S. 162 f.) wird.

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Im Beitrag »Der Spieler als Marionette?« nähern sich Hiloko Kato und René Bauer dem Decision Turn aus einer rezeptionsorientierten Perspektive. Anhand von Transcripts zahlreicher Let’s Plays befassen sie sich mit der Frage, ob man als RezipientIn, trotz der scheinbaren Möglichkeit der Beeinflussung des Spielverlaufs, dennoch nur getäuscht wird, »da im Computerspiel sämtliche Wege bereits vorgezeichnet sind«. (S. 167)

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Nina Köberer, Patrick Maisenhölder und Matthias Rath befassen sich in »Der homo narrans und ethisch-moralische Entscheidungen in digitalen Spielen« mit Fragen nach Werten und Moral. Ihrer Untersuchung liegt das Verständnis von Narration als »kommunikative[r] Dimension des Ethischen« (S. 194) zugrunde. Über eine Analyse der Wertangebote in Spielen als auch ihrer Rezeption kommen die BeiträgerInnen zum Schluss, dass Spiele die Reflexion der Entscheidungen der Spielenden anregen können und somit über Verfestigung oder Verunsicherung eine Möglichkeit zur Wertevermittlung darstellen können. (vgl. S. 209 f.) Abschließend an die Untersuchung wird noch auf die didaktische Nutzbarkeit verwiesen.

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Der Aufsatz »Moral in der Apokalypse?« von Maria Kutscherow befasst sich ebenfalls mit Fragen nach Ethik und Moral, hier bezogen auf Spiele mit (post-)apokalyptischem Setting. Dass diese Szenarien eine erhöhte Disposition für die Auseinandersetzung mit moralischen Dilemmata mitbringen, sieht die Autorin in der Kontextualisierung in besonders schwerwiegenden Entscheidungssituationen begründet. Sie erkennt zudem, dass moralische Entscheidungen in Spielen »gezielt bereits – unter anderem durch andere Computerspiele – angelernte Verhaltensweisen« (S. 231) hinterfragen.

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Der Beitrag »The (In)visible Hand« von Tobias Eder widmet sich einem Genre, das, wie im Aufsatz selbst erwähnt, »bisher scheinbar nicht im Fokus der Computerspielforschung stand [...]«, (S. 236) dem Strategiespiel. Die Untersuchung blickt dabei vor allem auf neuere Spiele, wobei diese »explizite Entscheidungsmomente in ihr Gameplay [integrieren], die wiederum das ökonomische Prinzip klassischer Strategiespiele durchbrechen«. (S. 250) Aus dieser Entwicklung wird abgeleitet, wie »zentral die Spielerentscheidung in den Diskurs von Videospielen gerückt ist.« (S. 250)

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Robert Baumgartners Beitrag »Alles was Sie von nun an tun, kann und wird gegen Sie verwendet werden« untersucht eine Form von in Spielen realisierten Entscheidungen, die bis dahin noch wenig Beachtung erfuhr: Bei Spielen mit substruktureller oder auch prozeduraler Entscheidungslogik werden Handlungen der Spielenden, die über den gesamten Spielverlauf getätigt werden, vermerkt und können so zu unterschiedlichen Ereignissen oder Enden führen. Der Autor erkennt dabei, dass diese Art der Entscheidungsfindung »einer gesellschaftlich konventionalisierten Wahrnehmung des Computerspiels als Instrument befriedigender Selbstermächtigung diametral gegenüber[steht].« (S. 270)

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Nachher

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Julian Reidy nähert sich der Entscheidung in »There are so many choices!« aus narratologischer Perspektive und zeigt dabei, dass sich der Spielmechanismus »nahtlos in ein narratologisches Modell des Computerspiels integrieren lässt, welches das Medium als ›semiotisch heißes‹ Erzählspiel im Sinne Koschorkes konzeptualisiert.« (S. 288) Dabei werden Entscheidungsmomente als Erzeuger semiotischer Hitze gesehen, »sozusagen als narrative Brandbeschleuniger« (S. 288).

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In seinem Beitrag »I’ll decide.« bezieht sich Markus Engelns nicht nur auf narrative Entscheidungen, sondern erkennt im »Wunsch nach der Selbstwirksamkeit des Spielers« (S. 298) eine Reaktion auf den interaktiven Aufbau von Spielen. Aus ökonomischer Perspektive wird die Entwicklung der Interaktion nachgezeichnet und die These somit bestätigt. Reflektiert stellt der Autor auch die Frage, inwieweit sich Entscheidungssituationen auch als Marketingstrategie sehen lassen.

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Marcel Schellong befasst sich im Beitrag »Sorry, but you’re in my story now« mit dem autoreflexiven Spiel The Stanley Parable, das er als »Metaspiel über das Entscheiden« (S. 312) bezeichnet. Der Beitrag erkennt im Spiel eine Inszenierung der paradoxen Konstruiertheit von Entscheidungen. (vgl. S. 330 f.) Die Untersuchung, die sich den Verhandlungen von Entscheidung in The Stanley Parable aus multiplen Blickwinkeln stellt, geht auch auf Fragen von Macht und der Lust an der Subversion ein, die sich durch zwei rivalisierende Entscheidungsinstanzen ergeben.

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Der letzte Beitrag des Sammelbandes, »If only I could turn back time« von Tobias Unterhuber, befasst sich mit dem Zusammenhang von Zeitreisen und Coming of Age-Erzählungen. Eingangs erkennt der Autor in der Gesellschaft »ein seltsames Drängen […], zurückzugehen zu dem, was vergangen ist«. (S. 336) Dieser Hang zur Nostalgie lässt sich unter anderem in zwei Elementen erkennen, die sich beide in Life Is Strange finden lassen, einerseits ist das die Zeitreise, andererseits die Verhandlung von Jugend und Coming of Age.

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In Zeitreise-Erzählungen erkennt der Autor »Versuche, das Begehrte zu erlangen, indem zum Beispiel die Vergangenheit so verändert wird, dass sich eine bessere Gegenwart einstellt«, (S. 338) wie auch in Life Is Strange. Hier schließt sich jedoch der Einwand an, die Fähigkeiten der Protagonistin seien »in erster Linie eine Form der Zeitmanipulation« (S. 339) im Sinne von Time-Loop-Erzählungen. Die Lösung liegt dabei hierin, das Spiel »als eine Kombination von Time-Loop-Erzählung, vor allem auf der Sub- und Mikrostruktur, und Forking-Path-Erzählung, vor allem auf der Mikro- und Makro-Ebene, zu verstehen.« (S. 340) Darüber hinaus seien Computerspielen immer schon durch Laden und Speichern die Möglichkeit des Wiederholens und damit der Zeitreise eingeschrieben. In Life Is Strange wird dies nun in die Diegese verlagert. Währenddessen sieht der Autor in der Verhandlung von Jugendthemen keine Ausrichtung auf ein besonders junges Zielpublikum, sondern auf Personen, die ihre Jugend bereits verloren haben und deren Faszination an der Erzählung vor allem durch Nostalgie und Sehnsucht bestimmt ist. (vgl. S. 341 f.) Jugend stellt dabei auch immer »die Phase der Formatierung des Subjekts« (S. 343) und damit eine Identitätssuche dar. Hier lässt sich nun die Verbindung der beiden Elemente ansetzen: »Life Is Strange gibt uns die Möglichkeit, Dinge zu ändern, Dinge ungeschehen zu machen, sie zu wiederholen und auch wieder zu holen.« (S. 343) Doch auch ohne Zeitreise tun wir dies täglich durch die Rezeption von Medien.

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Diesem Punkt geht Tobias Unterhuber am Beispiel des für Life Is Strange zentralen Mediums Fotografie nach. Fotografien halten einen Moment fest und eröffnen damit die Möglichkeit, diesen wieder herzuholen. Max’ Kräfte sind somit »eine Fleischwerdung der Macht der Fotografie.« (S. 347) Hier verbinden sich Fotografie, Coming of Age und Zeitreise bzw. Zeitmanipulation. Der Autor sieht hierbei in Life Is Strange die reale Umsetzung der Rückbesinnung und Erinnerung, die wir nur in Form der Re-Interpretation durch Medien realisieren können. Das Spiel kann so als »Reflexion auf Medientechnologien und -logiken des Erinnerns unserer Kultur begriffen werden«. (S. 350) Aus dieser Perspektive ist auch die letzte zu treffende Entscheidung in Life Is Strange eine Entscheidung, »welche Macht wir Medien zusprechen wollen.« (S. 350)

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Im Laufe des Beitrags werden gleich mehrere Konzepte miteinander in Einklang gebracht, deren Verbindung so nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, was so den Blick auf eine außergewöhnliche Reflexion eines Spiels auf Entscheidungen und das Erzählen im Allgemeinen öffnet.

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Fazit

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Der vorliegende Sammelband zeigt in seiner vielschichtigen Auseinandersetzung mit Entscheidungssituationen in Computerspielen, dass gerade jenseits überkommener Positionen, wie der narratologischen oder der ludologischen Herangehensweise, eine ertragreiche Arbeit in der Computerspielforschung möglich ist. Wenn die Game Studies nach ihrer Anfangskrise nun in etwas wie eine – zugegebenermaßen späte – Orientierungsphase eingetreten sind, dann sind Forschungsbeiträge wie eben der vorliegende Band ein produktiver Impuls zur zukünftigen Ausrichtung einer kulturwissenschaftlichen Gamesforschung. Vielleicht ist der Band sogar ein Indiz dafür, dass es sich bei den Game Studies durchaus nicht um ein ewig in der Selbstfindungsphase befindliches Feld handeln muss, sondern dass diese womöglich schon abgeschlossen ist.

 
 

Anmerkungen

Bei der folgenden Würdigung der Einzelbeiträge werden jene genauer behandelt, die die Prämisse des jeweiligen Kapitels am deutlichsten herausstellen. Für alle anderen Aufsätze erfolgt ein kurzer Abriss des Inhalts.   zurück