IASLonline

Neue Maßstäbe: das Referenzwerk zu den früh- und hochmittelalterlichen Würzburger Handschriften im Bestand der Bodleian Library Oxford

  • Daniela Mairhofer: Medieval Manuscripts from Würzburg in the Bodleian Library. A descriptive catalogue. Oxford: Turpin Distribution Ltd Bodleian Library 2014. 855 S. zahlr. Abb. Gebunden. GBP 200,00.
    ISBN: 978-1-85124-419-5.
[1] 

Im Folgenden sei auf eine monumentale, bereits vor einigen Jahren erschienene Publikation aufmerksam gemacht, die für die Erforschung der in Würzburg geschriebenen oder aus Würzburger Bibliotheken stammenden mittelalterlichen Handschriften, namentlich aus dem 9. Jahrhundert, aber auch darüber hinaus bis in das 14. Jahrhundert reichend, von eminenter Bedeutung ist. Sie hat aber bislang die ihr gebührende Beachtung durch ein einschlägig interessiertes Publikum noch nicht hinreichend erfahren.

[2] 

Der Untersuchungsgegenstand des Beschreibenden Katalogs

[3] 

Gegenstand des mit 855 Seiten umfassenden Bandes ist ein hoch bedeutender Bestand von zumeist in Würzburger Skriptorien geschriebenen oder aus den Bibliotheken des Würzburger Domstifts und anderer örtlicher Klöster und Stifte stammenden Handschriften (»the medieval manuscripts associated with the city of Würzburg«, S. 37), die sich im Handschriftenbestand der Bodleian Library Oxford erhalten haben. Zusammen mit weiteren ebenfalls aus Würzburg stammenden Handschriften des 16. und 17. Jahrhunderts bilden sie den umfangreichsten geschlossenen Bestand an Würzburger Handschriften außerhalb der in der Universitätsbibliothek Würzburg aufbewahrten Codices. Als erklärtes Ziel der vorliegenden Publikation formuliert Richard Ovenden, Bodley’s Librarian, in seinem Vorwort: »the need for a new catalogue, to describe the manuscripts in detail and to take account of the enormous growth in our knowledge of medieval texts, scripts, and illumination since the mid-19th century« (S. 7). Das Ziel des Katalogs bestehe darin, diese Handschriften und ihre Inhalte besser bekanntzumachen, »not to say the last word about them, but to open them up so that they can play their full part in future scholarship and wider historical understanding« (ebd.).

[4] 

Soweit diese Codices, insgesamt 54, noch im frühen und hohen Mittelalter, aber längstens bis ins 14. Jahrhundert entstanden sind, bilden sie den Untersuchungsgegenstand des vorliegenden Beschreibenden Katalogs (»A Descriptive Catalogue«). Die späteren Würzburger Handschriften der Bodleiana sind einem weiteren Katalogband zugewiesen, dessen Publikation – ebenfalls durch Daniela Mairhofer – noch bevorsteht.

[5] 

Ein wissenschaftlicher Bestandskatalog als Ausgangspunkt für die weitere Erforschung der frühen Buchkultur in Würzburg

[6] 

Spätestens seit der bahnbrechenden Publikation von Bernhard Bischoff und Josef Hofmann, Libri Sancti Kyliani. Die Würzburger Schreibschule und die Dombibliothek im VIII. und IX. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg Bd. VI), Würzburg 1952, wurde die außergewöhnliche Bedeutung der deutsch-insularen Schulen wie des Bibliotheksstandorts Würzburg unter paläographischen, codicologischen, text- und überlieferungsgeschichtlichen Gesichtspunkten nachhaltig dargelegt, wobei auch der in Oxford aufbewahrte Handschriftenbestand zumindest teilweise herangezogen wurde. Seither hat sich die Forschung in zahlreichen Einzeluntersuchungen und übergreifenden Darstellungen intensiv mit den Würzburger Handschriften befasst und dabei in besonderer Weise auch die Codices der Bodleian Library herangezogen. Ein dringendes Desiderat der Forschung blieb aber weiterhin eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Gesamtbestand der nach Oxford gelangten Würzburger Handschriften in Gestalt eines umfassenden wissenschaftlichen Bestandskatalogs. Dieser liegt nun endlich akribisch genau und wissenschaftlich fundiert in Daniela Mairhofers Medieval Manuscripts from Würzburg in the Bodleian Library vor und wird in Zukunft für jede weitere Erforschung der aus Würzburg nach Oxford gelangten mittelalterlichen Handschriften neue Maßstäbe setzen.

[7] 

Erzbischof Lauds Stiftung des Würzburger Handschriftenbestands

[8] 

Der Band wird durch eine umfassende Einleitung (S. 9-36) eröffnet, in der zunächst auf die Geschichte der Sammlungen eingegangen wird, aus denen die einzelnen Würzburger Codices nach Oxford gelangt sind, insbesondere die Sammlung des Erzbischofs und Kanzlers der Universität Oxford, William Laud (1573-1645), die die Bodleian Library im Rahmen von vier verschiedenen Bücherstiftungen zwischen 1635 bis 1640 erhielt. Daraus werden insgesamt 51 Codices der Signaturgruppen MS. Laud Gr. [1], MS. Laud Lat. [17] und MS. Laud Misc. [33] besprochen; die übrigen Codices gehören zu den Signaturgruppen MS. Douce [2] und MS. Rawl. G. [1].

[9] 

Der folgende Abschnitt (S. 14-20) widmet sich näherhin dem Zustandekommen der dritten Bücherstiftung, die Erzbischof Laud am 28. Juni 1639 an die Bodleiana überwies. Wie die Sammlung im Einzelnen zustande kam, ist noch immer nicht restlos geklärt. Die Handschriften wurden überwiegend 1636 entweder über Verhandlungen, durch Agenten des Erzbischofs Laud, über Vermittlung durch Thomas Howard, 14th Earl of Arundel, oder durch Laud persönlich zum Zeitpunkt der Schwedischen Besatzung von Würzburg (1631-1634) gezielt ausgewählt, in situ erworben und zwischen 1637 und 1639 in London einheitlich gebunden und jeweils mit Lauds vergoldetem Supralibros versehen. Zu bedauern ist, dass diese typischen Laud-Einbände im Katalog zwar beschrieben (S. 19-20) sind, aber kein Beispiel davon auch abgebildet wurde.

[10] 

Einblicke in die Frühgeschichte der Stadt und des Bistums Würzburg: Würzburger Skriptorien und Bibliotheken in irischer und angelsächsischer Tradition

[11] 

Im Folgenden wendet sich die Autorin in knappen Zügen der Frühgeschichte der Stadt und des Bistums Würzburg sowie der einzelnen kirchlichen Institutionen der Stadt zu, denen die beschriebenen Handschriften zugeordnet werden können. Naturgemäß steht dabei das Domstift an erster Stelle. Aus dessen besonders für seine bedeutenden frühmittelalterlichen Texthandschriften bekannten Bibliothek stammt die überwiegende Mehrzahl der in den Traditionen der irischen und angelsächsischen Buchproduktion entstandenen Codices. Die vergleichsweise günstige Überlieferungslage der Bibliothek des Domstifts erlaubt insbesondere im Zusammenhang mit der Auswertung überlieferter Buchlisten aus der Zeit um 800 und um 1000 fundierte Rückschlüsse auf das Alter und die Zusammensetzung der Dombibliothek in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens, wobei sich insbesondere das 9. Jahrhundert als »the most productive period of the Würzburg scriptorium« (S. 27) erweist. Daraus erklärt sich, dass Mairhofer sich nach der Erörterung der wesentlichen Eigenheiten der »Libri sancti Kyliani« – Besitzvermerke, Titelinschriften, Signaturen und charakteristische Einbandgestaltung, wobei letztere wegen der Neubindung des Oxforder Bestandes durch Erzbischof Laud nur noch die Handschriften der Universitätsbibliothek Würzburg charakterisiert (S. 22-26) – schwerpunktmäßig den im Oxforder Bestand erhaltenen Codices zuwendet, die unter den Würzburger Bischöfen Wolfgar (810-832), Hunbert (833-842) und Gozbald (842-855) in Würzburg geschrieben oder aus auswärtigen Skriptorien erworben wurden. Anschließend werden jene geistlichen Institutionen der Stadt Würzburg vorgestellt, aus denen in geringer Anzahl weitere Handschriften nach Oxford gelangt sind: die Kollegiatstifte Neumünster und Haug, die Klöster der Benediktiner, Dominikaner und Franziskaner sowie die »Bibliotheca Academica Godefriediana« als eigentliche Vorläuferin der Universitätsbibliothek Würzburg.

[12] 

Zur Anlage des Katalogs

[13] 

Überlegungen über die inhaltliche Zusammensetzung der nahezu ausschließlich lateinischen Codices Würzburger Provenienz – eine Ausnahme bildet das schon um 600 in Sardinien oder Rom (?) entstandene MS. Laud Gr. 35, die berühmten ›Laudian Acts‹ mit Texten in griechischer und lateinischer Sprache (katalogisiert S. 120-136 mit 3 Abb.) – werden in der Einleitung nicht berücksichtigt, aber bei den einzelnen Katalogisaten intensiv erörtert. Um diese ausgedehnten, manchmal schwer zu überblickenden Beschreibungen in der Abfolge der einzelnen Textabschnitte innerhalb jeder Katalogaufnahme leichter zu erfassen, lässt Mairhofer einen Abschnitt mit Angaben zu den »Editorial Conventions« (S. 37-43) folgen, deren Kenntnis für eine sinnvolle Benutzung des Katalogs unerlässlich ist. Es schließen sich die »Bibliographical Abbreviations« (S. 45-74), sodann ein allgemeines Abkürzungsverzeichnis an (S. 75-80). Die folgende, alphabetisch nach Signaturen angeordnete »List of Manuscripts« kann freilich nur Verwirrung stiften, zumal die einzelnen Katalogbeschreibungen nicht durchnummeriert sind und auch keine Seitenzahlen angegeben werden, nach denen der Beginn eines jeden Katalogisats aufgefunden werden könnte. Es hilft also nur, auf Verdacht 634 Seiten des eigentlichen Katalogs zu durchforsten. Ähnliches gilt auch für das Verzeichnis der 115 Abbildungen und 8 Farbtafeln, das zwar die Signatur und die Folioangabe der entsprechenden Abbildung liefert, aber wiederum nicht nachweist, wo genau die entsprechende Abbildung im Band aufzufinden ist.

[14] 

Die Gliederung der einzelnen Katalogeintragungen

[15] 

Der von außerordentlicher Sachkenntnis und akribischer Gründlichkeit der einzelnen Beschreibungen geprägte Katalogteil spiegelt den aktuellen Forschungsstand wider und lässt kaum einen Benutzerwunsch offen. Auf die Schlagzeilen mit den notwendigen Angaben zu Signatur, Inhalt, Entstehungsort und -zeit, Angaben von Maßen, Blattzahl und Provenienz folgt jeweils eine bis in die kleinsten Besonderheiten verfolgte Auflistung aller Textbestandteile (»contents«) mit Nachweisen der besten verfügbaren gedruckten Edition(en). Daran schließen sich Ausführungen zu Rubriken, Zusätzen, Marginalien und vielem mehr an. Im Abschnitt »decoration« folgt, soweit im Codex vorhanden, eine Beschreibung der einzelnen Ausstattungselemente der jeweiligen Handschrift. Besonderes Augenmerk verdient schließlich die erst auf die inhaltliche Beschreibung folgende codicologische Beschreibung (»physical description«), die erschöpfende Angaben zu Material, Maßen, Umfang, Foliierung, Lagenschema, Gliederung des Schriftspiegels, Schrift mit ausführlichen Bemerkungen zur Paläographie sowie Rubrizierung bereit hält. Zumeist wenig aussagekräftig sind hingegen die Angaben zum Bucheinband, zumal es sich fast ausschließlich um weitgehend gleichartige Laud-Einbände handelt. Den Abschluss eines jeden Katalogisats bilden komplette, kommentierte Provenienzangaben und eine häufig vollständige, bei den besonders ›prominenten‹ Stücken auch ausgewählte Bibliographie. Als Beispiel für die Fülle an Informationen, die die Katalogeinträge bereithalten, sei etwa auf die beiden weitgehend identischen Psalterien mit dem Bischof Bruno von Würzburg zugeschriebenen Kommentar (MS. Laud Lat. 96 [S. 219-239] und MS. Rawl. G. 163 [S. 715-722]) hingewiesen.

[16] 

Die Beschreibung des Buchschmucks in einzelnen Katalogisaten und die Bildausstattung des Bandes

[17] 

Es liegt in der Natur eines derartigen Katalogisierungsprojektes, dass das Gestaltungskonzept von der herausgebenden Institution vorgegeben wird bzw. uniformen ›Hausregeln‹ unterworfen ist – somit nicht im Benehmen des jeweiligen Bearbeiters liegen kann. Damit kann nicht jeder vonseiten der Benutzer erwarteten Fragestellung Rechnung getragen werden. Angesichts der Tatsache, dass der Würzburger Handschriftenbestand der Bodleiana doch nicht selten bemerkenswerten Buchschmuck enthält, hätte eine nähere Auseinandersetzung mit dem Dekor der Codices wohl Erkenntnisse bringen können, die weit über die rudimentären Aussagen in Otto Pächt and J. J. G. Alexander, Illuminated Manuscripts in the Bodleian Library Oxford. 1: German, Dutch, Flemish, French and Spanish Schools, Oxford 1966, hätten hinausgehen und wohl auch unsere Kenntnis der Würzburger Buchmalerei im frühen und hohen Mittelalter hätten erweitern können. Die den Katalogisaten angefügten 115 Halbton- und 8 Farbabbildungen sind eher zur Demonstration paläographischer Besonderheiten ausgewählt, aber nahezu durchgängig zu kontrastarm und unscharf, um eine angemessene Vorstellung erlangen zu können.

[18] 

Indices und Register

[19] 

Auf den ersten Blick beeindruckend präsentieren sich die von S. 722-855 reichenden Indices. Ein für die Benutzung des monumentalen Handschriftenkatalogs unverzichtbares Register stellt dabei nicht zuletzt der »Index of Initia« (S. 725-811) dar, der akribisch genau und vollständig alle Initien der im Band besprochenen Handschriften erfasst und mit Handschriftensignatur und Fundstelle im Band nachweist, nicht aber die jeweilige Seitenzahl im Katalog verzeichnet, was mitunter eine ausgedehnte Suche in der entsprechenden, häufig sehr ausgedehnten Beschreibung bedingt. Das trifft nicht zuletzt auch auf die Einträge im »General Index«, dem Namens-, Orts- und Sachverzeichnis (S. 813-855), zu. So sind dort Personen als (mutmaßliche) Verfasser einzelner Codices wie etwa »Bruno, bp. of Würzburg (1034-1045)« allein über die Signaturen auffindbar, doch wird beispielsweise die allgemeine Erwähnung eines Namens innerhalb eines Katalogisats wie etwa »Burchard († 753), bp. of Würzburg« lediglich durch den Hinweis auf die Signatur eines Codex mühselig. Denn die weitere Suche gestaltet sich durch den Verzicht auf Seitenzahlen höchst umständlich. Zunächst ist auf S. 81 die »List of Manuscripts« zu konsultieren, wo zwar die Signaturen in der behandelten Reihenfolge (nach Fonds geordnet) verzeichnet sind, aber wieder Seitenzahlen (oder Katalognummern) fehlen. So ist durch Blättern zunächst das Katalogisat zur genannten Handschrift aufzusuchen und sodann der gesamte Katalogtext auf die Nennung des »Burchard« durchzusehen. Im Fall des MS. Laud Gr. 35 (S. 120-135) ist Burchard auf S. 129 auffindbar. Die zweite Erwähnung findet sich in MS. Laud Misc. 126, der auf S. 401-417 besprochen wird; erst auf S. 409 findet sich dort schließlich der Name Burchard. Ortsnamen/Klöster wie z. B. »Jouarre« oder »Chelles« sind im »General Index« überhaupt nicht ausgeworfen, auch im Text erwähnte Namen wie etwa Georg Reyser (S. 220) fehlen gänzlich. Alle in der Einleitung erwähnten Namen wie etwa Michael de Leone, Julius Echter oder Gottfried von Aschhausen bleiben im Register unberücksichtigt. Schmerzlich vermisst wird schließlich ein Verzeichnis der zum Vergleich herangezogenen Handschriften, aus dem z.B. hervorgehen könnte, welche der heute in der Universitätsbibliothek Würzburg aufbewahrten Handschriften auch mit dem Oxforder Bestand in Beziehung zu bringen sind.

[20] 

Fazit

[21] 

Insgesamt erfordert die Beschäftigung mit dem äußerst verdienstvollen Katalogisierungsunternehmen, das künftig als Referenzwerk unser Wissen um die Würzburger Handschriften namentlich der Bibliothek des Domstifts entscheidend erweitern wird, eine gehörige Portion Geduld, Durchhaltevermögen und Kombinationsgabe des Benutzers. Trotz des nicht unbeträchtlichen Preises wird der Band künftig eine entscheidende Rolle in der Beurteilung der herausragenden Rolle Würzburgs als kulturellem Zentrum des frühen Mittelalters einnehmen können und ist schon deshalb mit Nachdruck zu begrüßen.