IASLonline

Formenexperimente und poetologische Programme - zur Edition von Hofmannsthals aphoristischen Werken, autobiographischen Entwürfen und frühen Romanplänen

  • Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Band XXXVII: Aphoristisches, Autobiographisches, Frühe Romanpläne. Hrsg. von Ellen Ritter. Frankfurt am Main: S. Fischer 2015. 567 S. EUR (D) 184,00.
    ISBN: 978-3-10-731536-9.
[1] 

Hofmannsthal spricht von »Formlosigkeit in einem Kunstwerk / Man weiss nicht was man damit anfangen soll« (S. 100). Zugleich gesteht er: »Künstler lieben vollendete Kunstwerke nicht so sehr wie Fragmente, Skizzen, Entwürfe und Studien, weil sie aus solchen am meisten fürs Handwerk lernen können«. 1 Hofmannsthal zufolge verstehen sich die Künstler untereinander als Handwerker: »Am Tempel der Kunst trägt die Aussenseite des Portals die mystischen Zeichen der Schöpfung und Begeisterung, die Innenseite Winkelmass, [1] Mikroscop, [2] Brille, Zirkel und Lineal«. 2 Die Doppeldeutigkeit der Form ist ihm bewusst: »Die Formen beleben und töten.« (S. 37)

[2] 

In diesem Sinn betrachten wir den neuen Band der kritischen Gesamtausgabe, welcher den Sammeltitel Aphoristisches. Autobiographisches. Frühe Romanpläne trägt. Wir sehen, wie sich in diesen Fragmenten schöpferische Prozesse offenbaren und ahnen die Größe all dieser Entwürfe, die wie die von Hofmannsthal bewunderten »halbfestgehaltene[n] Gestalt[en]« 3 Rodins noch im Marmor steckengeblieben, aber doch voller Spannung und Schönheit sind. Viele erscheinen wie »angehauene Blöcke«. 4 Die stichwortartigen Notizen über Figuren und Schicksale weisen jedoch auf »finstere Möglichkeiten, ungeheuere gegen einander wüthende Welten« 5 hin. Sie regen die Einbildungskraft an, lassen Möglichkeiten der weiteren Gestaltung offen und fordern die kreativen Leser heraus. Solche Sprüche und fragmentarischen Texte geben nicht nur Hinweise auf Hofmannsthals vollendete Schriften, sondern regen die Literaturwissenschaftler schon lange dazu an, das Universum Hofmannsthals nicht nur in seinen abgeschlossenen Werken zu erfassen, vergleichbar dem sichtbaren Teil des Eisbergs auf der Oberfläche des schöpferischen Ozeans, sondern auch seine Werkstatt-Schöpfungen zu würdigen, in denen sich seine vielschichtige Gestalt verbirgt.

[3] 

In ihrem fragmentarischen Kosmos liegt nicht zuletzt die heterogene, vieldimensionale, brüchige Modernität Hofmannsthals begründet. »Form hinterlässt Harmonie, Befriedigung, wie Trostrede, gelöstes Problem, giebt eine Ahnung der kosmischen Harmonie, befriedigt kosmogonische Triebe (Semper)« (S. 100). In der »scheinbare[n] Formlosigkeit« (S. 100) bewundern wir den mächtigen Gehalt der Dichtung Hofmannsthals, die über alle konventionellen Formen hinausragt. Die fragmentarische Dichtung fordert die Ergänzung, aber nicht einem Torso gleich, sondern suggestiv wie die vielverzweigten Wege eines Dichtungsfelds, die in viele Richtungen führen.

[4] 

Der neue Band enthält die zu Hofmannsthals Lebzeiten gedruckten aphoristischen Sammlungen Worte (1915), Buch der Freunde (ab. ca. 1919), Tagebuchblatt (1923), Aus einem ungedruckten Buch (1925) sowie die Fragmente Roman vom Geben und Nehmen (1892–1895), Roman des inneren Lebens (1893–1894), Dialoge über die Kunst (1893–1894), Familienroman (1893–1895), Ad me ipsum (ab ca. 1916) und Selbstporträt (nach 1920) aus dem Nachlass.

[5] 

Folgen die früheren Editionen Hofmannsthals unabsichtlicher Anmut, werden nun – wohl der besseren Auffindbarkeit der wissenschaftlichen Zitathinweise wegen – erstmalig sämtliche Sprüche, Anekdoten und Aufzeichnungen im Buch der Freunde der Reihenfolge nach von 1 bis 547 nummeriert. Diese Vorgehensweise erinnert an diejenige von Max Hecker bei der Herausgabe von Goethes Maximen und Reflexionen. Während Hecker die ausgewählten Aphorismen aus Goethes Werken und Nachlässen durchgehend nummerierte, werden die überschaubaren kleinen von Hofmannsthal selbst zu Lebzeiten veröffentlichten Sammlungen in der vorliegenden Edition einzeln nummeriert, also Worte (nummeriert von 1 bis 10), Tagebuchblatt (von 1 bis 7) und Aus einem ungedruckten Buch (von 1 bis 6).

[6] 

Die maßgeblichen Kommentare von Ernst Zinn zum Buch der Freunde aus dem Jahre 1965 liegen den Erläuterungen zugrunde. Sie sind erweitert um 13 bei Zinn nicht auffindbare Quellen und mit ca. 50 Stellen neuer Kommentare angereichert, die auf aktuellen Forschungsergebnissen basieren. Vor allem werden Hofmannsthals Briefe und Nachlässe einbezogen, welche Zinn kaum berücksichtigt hat. Drei Kommentarstellen von Zinn werden hierbei berichtigt.

[7] 

Spannungsvoll sind die in diesem Band versammelten 55 Entstehungszeugnisse von 1919 bis 1924 zum Buch der Freunde. Sie dokumentieren nicht nur die Entstehungsgeschichte dieser Sammlung, sondern auch die experimentellen Versuche Hofmannsthals vom »scheinbaren Verzichten auf das eitel festgehaltene Persönliche« (S. 295) bis hin zum Entsagen der Anordnung nach eigener Vorstellung zugunsten einer nicht durch sein starkes Formgefühl geprägten thematischen Gruppierung der Sprüche, um »Alles im Durcheinander stehen zu lassen« (S. 297). Nicht von ungefähr schrieb Hofmannsthal an Katharina Kippenberg, der er die letzte Anordnung anvertraute: »Sie können ohne Feder, nur mit einer Schere absolvieren, die einzelnen Sprüche entzweigeschnitten hinter einander anordnen« (S. 298). Durch diese Sammlung, in der unter den »wohlgeformte[n] Aphorismen […] über Gegenstände aller Art: Herz, Geist, Gesellschaft, Politik, Nation, Sprache  […] kleine aber köstliche Auszüge aus fremden Autoren auch knapp erzählte Anekdoten und dergleichen« (S. 297) gemischt sind, beabsichtigte Hofmannsthal sich nicht allein neben Goethe, Novalis und Lichtenberg zu behaupten. Er eignete sich damit auch eine im Orient beliebte Form im Sinne einer west-östlichen Synthese an. Mit Recht hat Rudolf Pannwitz dieses Werk Hofmannsthals als »etwas einziges in unsrer Zeit und ein[en] triumf über unsre Zeit« (S. 295) bezeichnet.

[8] 

Hofmannsthals Selbstdeutung Ad me ipsum, welche die bisherige Forschung über Hofmannsthal maßgeblich geprägt hat, wird in diesem Band gegenüber der Steiner- und Schoeller-Ausgabe um die 1916 entstandenen, für Max Mell bestimmten Notizen sowie die bis 1928 reichenden zahlreichen Aufzeichnungen aus dem Nachlass ergänzt und erweitert. 12 Jahre lang versuchte Hofmannsthal mit immer wiederkehrenden Schlüsselbegriffen das poetologische Programm seines Werkes zu umreißen und lieferte der Nachwelt eine Terminologie zum Verständnis seiner Schöpfung. Bei genauerem Hinsehen fällt dem Leser unschwer auf, dass dieses ästhetische Programm des Selbstentwurfes überwiegend die bereits von ihm selbst veröffentlichten Werke betrifft. Die sich in seinen umfangreichen Fragmenten offenbarende Botschaft führt zu einer diesen Selbstentwurf überschreitenden geistigen Landschaft, auf deren überragende Bedeutung bereits Steiner hingewiesen hat.

[9] 

Romanpläne zwischen Autobiographie und Entwurf einer neuen Poetik

[10] 

Das Konvolut der Handschriften, das die älteren Bände der kritischen Ausgabe und die bisherige Forschung wegen ihres inneren Bezugs zueinander als zusammengehörende Romanpläne, also Roman des inneren Lebens, betrachten, wird in dieser neuen Ausgabe in Gestalt von vier eigenständigen Werkentwürfen ediert und erstmals vollständig gedruckt. Es handelt sich um den Roman vom Geben und Nehmen (4 Notizen 1892–1895), den Roman des inneren Lebens (29 Notizen 1893–1894), die Dialoge über die Kunst (12 Notizen 1893–1894) und den Familienroman (14 Notizen 1893–1895).

[11] 

Die Formulierung des Titels »Geben und Nehmen« wurde in Hofmannsthals Brief an Marie von Gomperz vom 7. Juli 1892 erstmals erwähnt. Die Reflexion über die Wechselbeziehung von »Geben und Nehmen« als Lebensphänomen findet sich außerdem im Brief an Georg von Franckenstein zum Beginn von dessen diplomatischer Laufbahn im Frühjahr 1903, im Aufsatz Raoul Richter und im lyrischen Drama Der Tor und der Tod. Die Titelgebung »Geben und Nehmen / Ein Roman über den Sinn des Lebens« (S. 69) kennzeichnet diesen Romanentwurf als Versinnbildlichung einer Idee und ein Tieferwerden im Erfassen eines Phänomens: »Was sind einem die M(enschen) bin ich den andern? Was sind sie mir? / Das eigentümlich traumhaft Verschleierte im Actio und Passio, das Eingewobensein in große Wellen« (S. 69). Als Hauptfigur dieses Romans ist ein »grosser Maler (Leonardo)« vorgesehen. In dem nur vier Notizen umfassenden Fragment scheint Hofmannsthal die Atmosphäre der Liebestragödie, in welcher sich alle Figuren des Romans bewegen, darstellen zu wollen. Die Frage, inwiefern man »aus der Liebe das Leben begreifen« (S. 69) kann, beschäftigt ihn anhand dieser »Kreuzwege« (S. 69) menschlicher Schicksale.

[12] 

Den Titel Roman des inneren Lebens entnahm Hofmannsthal einer Formulierung von Maurice Barrés Roman de la vie intérieure. Die Notizen zum ersten und zweiten Kapitel sowie dem letzten Kapitel konkretisieren Hofmannsthals Plan über den Anfang und das Ende dieses Romans. Vor allem die in fünf Fassungen skizzierten Fragmente zum ersten Kapitel sind vor dem Hintergrund einer regnerischen Juninacht von sozialen Gegensätzen geprägt: »grosses prunkendes Ballet / Stiergefecht / Adeliges Wesen Tradition, Macht, grosse Formen, ungeheure Clique, Gewirr von Namen Macht wollen«, dahingegen »die Marktleute im Graben gelagert« »Marktwagen, halbreifes rothariges Mädchen, Pülcher, dicke alte Frau « (S. 83). Von daher ist es kein Zufall, dass Hofmannsthal die Notizen zum Roman des inneren Lebens und zu dem Fragment Revolutionsstück auf mehreren Handschriftenblättern gleichzeitig niedergeschrieben hat. Auch das Fragment des auf die Französische Revolution bezogenen Revolutionsdramas steht in diesem Zusammenhang. 6

[13] 

In den skizzenhaften Fragmenten sehen wir nicht die abgerundete, in sich vollendete Ausführung, nicht das Gleichgewicht der Gegensätze, sondern die scharfkantige Gebrochenheit, die nebeneinanderstehenden, auseinanderreißenden Gegensätze. Wir sehen den mächtigen Gehalt der Dichtung, die blitzartige Offenbarung der Ideen, die nicht gangbaren Wege, faszinierende formsuchende Stoffe, die offengelegt werden und unvollendet bleiben müssen. Die ungemein einprägsamen Ausdrücke stehen vereinzelt und sprunghaft da wie zum Beispiel »Virtuosität der Eifersucht« (S. 76), »Ahnung des ewigen Versäumnisses« (S. 76), »Reiz […] der mystischen Dämmerung« (S. 77), »die rätselhaften Klänge der Nacht« (S. 77). Sie weisen auf die Grundatmosphäre der frühen Werke Hofmannsthals hin.

[14] 

In einer mit der Überschrift »Lebensroman (Gedanken während der Cameliendame der Duse, 24. November 1893)« versehenen Handschrift wird der Aufbruch in die Moderne angekündigt: »keine Ganzheit, kein Zweck und Sinn, kein grosser Flug« (S. 81). Solche rebellischen Worte leuchten vielsagend im Fragment auf. Als konservativer Revolutionär plante Hofmannsthal jedoch, »2 unmittelbar aufeinander folgende Capitel mit diesem Inhalt« zu entwerfen: »1.) Held begegnet sehr vielen Menschen, schmiegt sich ihrem Wesen bewundernswürdig an, bemächtigt sich der Form ihres Denkens, antwortet immer instruktiv mit den richtigen Vorurtheilen, verliert sich selbst vollständig 2.) Fängt an nachzudenken oder wird durch einen andern darauf gebracht«. (S. 72)

[15] 

Hofmannsthal hat diesen Romanentwurf in einigen Notizen als Roman des Lebens bezeichnet, in dem »ein Streben nach Individualität, ein anderes nach unwahrem Angleichen an aufgefangene Worte, Ausfüllenwollen aller Formeln, Schemen« (S. 79) dargestellt wird. Die fehlenden Handlungen lassen sich in Hofmannsthals biographischem Lebenskontext ergänzen. Obwohl es sich um die Figuren seiner eigenen Lebenswelt handelte, gab er, wie ein Erkennender und Zuschauender nicht ohne sozialkritisches Bewusstsein und distanzierte Ironie, »ein Grundmotiv« (S. 79) dieses Romans vor:

[16] 
»die Menschen, die durch einen Schutz von dem unmittelbaren Kampf ums Dasein abgehalten werden und, von der Brücke dem Ringen zusehend, gleichsam nur ein halbes Leben mit Scheinproblemen, Schattenconflicten und Reproductivempfindungen durchmachen« (S. 79).
[17] 
»Reich der Kritik: die Virtuosität im Anfühlen, ausfühlen der Gefühle, die andere nur angedeutet haben; vibrieren bei erzählten Schmerzen (Ideal: sterben an vorgestellter Wunde« (S. 78).
[18] 

Kontrapunktisch zu diesen »Marionetten für alle möglichen Gefühle die unendlich viel suggerieren, statt der abstract nackten Gefühle« (S. 74) schrieb er:

[19] 
»das künstliche Leben geht aus der Resignation des Strebens zur Beherrschung und Erkenntniss hervor.
Der Wille zur Macht.
überall Kampf sehen, das Heranfluthen der nächsten Ereignisse éternelle débâcle. Überwindung des Lebens als Durchleben, Durchmachen, Durcharbeiten, Durchschauen, Austasten, Durchzweifeln« (S. 74).
[20] 

»An mir rächen sich alle meine Paradoxen« (S. 72), schrieb Hofmannsthal und erkannte:

[21] 
»all diese Paradoxen sind aus einer Art Angst vor dem Leben entstanden, aus Misstrauen, um sich keine Blösse zu geben
[22] 
mein ganzes Leben ist das Zerreissen dieses Lügennetzes, Zerbrechen dieser falschen Lebensbedingungen, wobei alle Menschen verletzt werden« (S. 73).
[23] 

In diesen Romanplänen hat Hofmannsthal nicht zuletzt das poetologische Programm entworfen, das er lebenslang verfolgt hat.

[24] 

Die ersten vier Kapitel und das letzte Kapitel des Familienromans, bei dessen Ausführung Hofmannsthal das Vorbild der antiken Tragödie vor Augen hatte, wurden auch schon umrissen. Die ausführlichen Erläuterungen über Namen, Begebenheiten und Ereignisse zu diesen in der Forschung noch kaum in ihrer Eigenart gewürdigten frühen Romanplänen legen nahe, auf welche Weise und wie sehr der junge Hofmannsthal versuchte, das unmittelbare Erleben als Dichtung zu gestalten. Viele Notizen beziehen sich auf seinen Umgang im Kreis Josefine von Wertheimsteins, vor allem die genealogische Tabelle der Familie Todesco im Entwurf des Familienromans und die Schilderung der Schwestern Gomperz, des weiteren Alice Morrison, Lili von Hopfen, Josef Unger, Alfred Freiherr von Berger, Ferdinand von Saar, Josef Löwenthal, Heinrich Jacques, Ernst von Plener, Wolfgang Reichlé, Felix Oppenheimer, Eduard Wessel, Moritz von Schwind, Franz von Lenbach, Marie Bülow und weiterer dazugehöriger Persönlichkeiten. Den gleichen Ursprung hat auch die Lokalität des vorgesehenen zweiten Kapitels des Romans des inneren Lebens, der Döblinger Park, der zur Villa Josephine von Wertheimsteins gehört.

[25] 

Die Worte Oscar Wildes »das Leben als Kunstwerk, das Kunstwerk als lebendiges geniessen« notierte Hofmannsthal als »Maxime« im Roman des inneren Lebens (S. 76). Hofmannsthal hat nicht nur am Prolog und Epilog, sondern auch durch den eigenen Auftritt – der Darstellung einer Figur in einem Bild – bei der Aufführung der lebenden Bilder im Palais Todesco mitgewirkt und setzte sich mit dem Leben als solchem in diesem Kreis auseinander:

[26] 
»Alles durch künstl. Interpretation verklären: das Zucken der erlöschenden Lampe (Maeterlinck) die Rubens- und Poussin- und Böcklinwolken; praeraphaelitische Bäume, Sommernachtstraumstimmung; fiebernde Teiche der Bénénice; Bauern von Turgenjew; Kate-Greenaway-Kinder« (S. 76).
[27] 

Es ist bedeutsam, dass Marie von Gomperz Hofmannsthal im Jahre 1907 bei der Planung eines Erinnerungsbuches an die Villa Wertheimstein, ihre Bewohner und Gäste konsultierte. Auch die Notizen über Felix Salten, Hermann Bahr, Georg von Franckenstein, Leopold von Andrian, Edgar Karg von Bebenburg, Stephan George, Gerty sowie viele andere Freunde, Bekannte und Verwandte Hofmannsthals lässt das Konzept des autobiographischen Romans erahnen. Inmitten des Gedanken- und Ideenreichtums dieser Entwürfe leuchten die Sätze auf:

[28] 
»Der Held des Romans bin ich selbst« (S. 108);
[29] 
»ich kann die Jugend entbehren
ich glaube nicht an die grosse Liebe, an alles was wie überirdische Offenbarung über einen kommt
ich kann einen Beruf haben, der mich innerlich nicht ausfüllt.« (S. 72 f.)
[30] 

Parallel dazu lesen wir »das grosse Gespenst, das dumpfes Grauen über sein ganzes Leben wirft, ist die Unfähigkeit sich einen Lebenszweck als befriedigend zu denken.« (S. 72) Für die Konstruktion des Romans des inneren Lebens wollte Hofmannsthal »die Phasen der Entwicklung reinlich gliedern und ihnen am äußeren Leben eine Stange zum Aufranken geben« (S. 80). Neben »Construktion der Stimmung«, »Stilisieren des Augenblicks« und Behandeln der »culturhistorischen Details« scheint Hofmannsthals Äußerungen zu Maurice Barrès, »aufzugehen im Geist der Epoche« und »mitzuschwingen im Rhythmus des Universum«, 7 um so die »Totalität alles Erkannten« 8 zum Ausdruck zu bringen, ebenfalls für seinen eigenen Romanentwurf zu gelten. Seine Auffassung: »Meine ganze jetzige Arbeit Zusammenziehen und Harmonisieren« (S. 86) steht neben »Geister, die uns compliciert sehen machen und das problematische und incommensurable in uns rege machen« (S. 74).

[31] 

Das »planetarische Spiel« (S. 151) seiner vielbezüglichen Auseinandersetzungen offenbart sich in der stichwortartigen Erwähnung von Walter Scotts Altertümler, Lenaus Briefen an Sophie Löwenthal (im Roman von Geben und Nehmen), Maurice Barrès’ Sous l´oeil des barbares, der Platonischen Dialoge, von Nietzsches Wille zur Macht, Shakespeares Hamlet, Turgenjews Memoiren eines Jägers, Henrik Ibsens Gespenstern, Spencer, Maeterlincks L´Intruse, Franz Grillparzers Sappho, Schnitzlers Anatol und Märchen, Robert Schumanns Requiem für Mignon, Tizian, Peter Paul Rubens Haupt der Medusa, Gustave Flauberts Salammbó, Byrons Don Juan, Kleists Kohlhaas, Zola, Paul Bourget, Balzacs Romanzyklus Comédie humaine, der Mystik, »christl. Martyrium«, Parzival und des Buddhismus (im Roman des inneren Lebens), der antiken Tragödie, Carlyle, Stendhal, Goethes Wilhelm Meister, Ernst Häckel, Henry Buckle, Montaigne, Pascal (im Familienroman). Die Notiz für den Roman des inneren Lebens: »cosmopolitische Erziehung / deutsche Dichter Faust / französische Cocotten Vie parisienne / italienische Comödianten Duse / engl. Aristokraten / Wiener Musik / spanische Etiquette« (S. 71) weist auf die weltumspannende Ambition Hofmannsthals hin. Ebenso aufschlussreich sind die suggestiven Stichworte, die bruchstückhaften Schilderungen wie »Die athenische Bohème im Plato«, »der universelle Dilettantismus«, »Musik, Reiten […] Declamieren Rhetorik« (S. 71), »schöne Frauen«, »Der Rauschfreund: er liegt halbe Tage im Bett, nichts lockt ihn; bis zufällig der Gedanke in einer Auslage ein bestimmtes Buch zu sehen, bestimmten Mondschein auf einer vorspringenden Ecke, welche Martyrien hat er bei der Wahl der Strasse, beim Nachhausgehen«, »Typus der Hülsenmenschen in 3 Abstufungen durchzuführen. 3 Brüder, polnische Juden, Rosenzweig; einer sehr kränklich, spielt Chopin; vielleicht auch eine Schwester«, »Menschen die ausserhalb dieses verworrenen europäischen Lebens stehen: einer auf einem eisernen Schiff über dem blauen Meer geschaukelt / einer in einer englischen Colonie, am Rand des Urwalds« (S. 72). In der Fülle und Vielfarbigkeit der Gedankenmosaike hat dieser Romanentwurf einen Hauch von Universalpoesie. »Eklecticismus und Originalität« (S. 100) vereinigen sich, genauso wie »Kunst und Kritik die ergänzenden Hälften des künstlerischen Lebens« (S. 100) bedeuten. Diese Disposition des poetologischen Programms hat Hofmannsthal vor allem im Fragment »Dialoge über die Kunst« neben Kunst als »Beschäftigung mit der Schönheit« (ebd.), als »Philosophische Rechtfertigung« (ebd.), als »Äußerung des Machtstrebens« (ebd.) und als »Hereindämmern einer anderen Weltanschauung« (S. 101) entworfen. »Roman müsste ein Compendium sein«, 9 schreibt Hofmannsthal 1927, mehr als drei Jahrzehnte später, im Fragment des Andreas.

[32] 

Edition und Interpretation

[33] 

Edition ist auch eine Art der Interpretation. Das offenbart sich vor allem bei den Fragmenten aus dem Nachlass. In den Handschriften-Konvoluten, deren Originale sich in der Houghton Library der Harvard University befinden, sind oft mehr als ein Werk enthalten. Außerdem hat Hofmannsthal auf einem Blatt oft verschiedene, scheinbar nicht zusammenhängende Texte notiert, so dass je nach Interpretation und Sichtweise der Editoren ganz verschiedene Zuordnungsweisen möglich sind. Es ist eine große Herausforderung, solche Texte zu edieren: Soll man die auf ein und demselben Blatt geschriebenen Entwürfe, die nicht durch den Titel eindeutig auf ein bestimmtes Werk hinweisen, je nach Thema, Motiv und Inhalt spezifisch zuordnen, oder soll man sie wie ein zusammenhängendes Dichtungsfeld lesen? Auch der vorliegende neue Band kommt an dieser Frage nicht vorbei. So werden etwa im Fall von N 9 des Fragments Familienroman die auf demselben Handschriftenblatt geschriebenen Notizen auseinandergenommen. Die Zeile »verwandte Grundstimmung. / Heine (insbesondere Florentinische Nächte) / Oscar Wilde« (Intentions) » 10 wird im Zusammenhang mit dem Romanentwurf nicht aufgenommen. Lediglich die Zeile „eine von Kunstwerken und den Eigenheiten künstlerischer Menschen, symbolischen Erlebens getränkte Phantasie eine bewußte Scheinwelt, die träumen will. / So das Haus der Frau von Wertheimstein stilisieren. (als Glied des Familienromanes)« (S. 112) wird dem Romanfragment zugeordnet. Diese beiden Notizen erhellen sich gegenseitig und verweisen aufeinander. Sie spiegeln auch eine häufig wiederkehrende Vorgehensweise im schöpferischen Prozess Hofmannsthals. Vor allem, wenn man diese Handschriften mit anderen seiner Fragmente vergleicht, welche er selbst mit einem Titel versah und so eindeutig einem konkret geplanten Werk zuordnete, sieht man, dass auch jene häufig durch die Nennung von Schriften, die mit den Motiven und Gedanken seines eigenen Werkes zusammenhingen, eingeleitet werden, jedoch klar dafür bestimmt waren, in ein konkretes Werk einzufließen. Hofmannsthal setzt sich in seiner eigenen Dichtung häufig mit seinen Vorgängern auseinander. Gerade die Erwähnung von Heines Florentinischen Nächten und Oscar Wildes Intentions ist ein wichtiger Hinweis darauf, welche weitere Gestaltungsmöglichkeit dieses Fragments Hofmannsthal vorschwebte und mit wem er sich in diesem Zusammenhang auseinandersetzte. Ein Argument dafür, den Inhalt des Handschriftenblattes vollständig im Aufzeichnungen-Band zu verorten und nicht hier, mag der in dem Handschriftblatt durchgezogene kurze Trennungsstrich sein, der als Gedankenpause oder thematischer Wechsel interpretiert werden könnte und je nach Sichtweise der Editoren die Werk-Zugehörigkeit entscheiden könnte. Ob das Herausnehmen der Textpassage von N 10 des Familienromans sinnvoll ist, bleibt ebenfalls offen. Die beiden Textpassagen, die eindeutig auf den Titel dieses Romans hinweisen, sind auf diesem Handschriftblatt nachträglich hinzugefügt worden. Sind sie Nebenarme des Gedankenflusses, die Hofmannsthal erst im Nachhinein eingefallen sind, oder sind sie als Blüten zu verstehen, die aus diesem Gedankenfeld hervorgehen? So entsteht der Spielraum, innerhalb dessen man die werkbezogenen Stellen aus dem Feld der Aufzeichnung ordnen und separieren kann. Das Gleiche gilt auch hinsichtlich N 37 des Fragments Roman des inneren Lebens, in dem die Aufzeichnung über Gerty unter Nr. 822 dem Band XXXVIII zugeordnet wird. Hier stellt sich die Frage, inwiefern das Autobiographische vom Werk zu trennen ist oder beides ineinanderfließt. Die ausführlichen Handschriftenbeschreibungen bieten den Lesern die Möglichkeit, die jetzige Zuordnung zu hinterfragen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

[34] 

Das Lesen der fragmentarischen Texte fordert den Leser heraus, da nicht nur die bruchstückhaften Notizen mithilfe der eigenen Einbildungskraft zu ergänzen sind, sondern auch ein kritischer Blick für das editorische Eingreifen in den Text gefragt ist. Die jetzige Gestalt ist nicht endgültig festgelegt, sondern in gewisser Hinsicht veränderlich und beweglich, je nachdem, welche Notizen man in die Pläne hineinnimmt und welche Textpassage man zu dem Konzept zulässt, wie man die Intention Hofmannsthals interpretiert und wie man die Textdynamik auffasst. 11

[35] 

In dem in diesen Band aufgenommenen Fragment Familienroman werden die im 1978 erschienenen Band XXIX der kritischen Ausgabe bereits als ein eigenständiges Fragment abgedruckten »Scenen vor dem Selbstmord des Helden« und das ebenfalls in SW XXIX als »Novelle« betitelte Fragment als zwei eigentlich diesem Romanplan zugehörige Entwürfe zurückgeholt – eine neue Erkenntnis nach 37 Jahren von derselben Herausgeberin, die ihr Leben der Edition von Hofmannsthals Werken gewidmet hat und vor ihrem Tod noch diese Jahrzehnte zurückliegende eigene Fehlinterpretation der Handschriften korrigiert hat. Diese beiden Texte Hofmannsthals können also wie die Novellen in Goethes Wanderjahren sowohl als einzelne eigenständige Geschichten als auch im großen Zusammenhang des Romans gelesen werden. Hierin zeigt sich nicht zuletzt, wie schwierig solch ein Fragmente-Nachlass zu edieren ist, zugleich aber auch, wie reizvoll man auf diesem Feld der Dichtung immer wieder etwas Neues entdecken kann.

 
 

Anmerkungen

Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke, kritische Ausgabe. Veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift. Hg. von Rudolf Hirsch u. a. Frankfurt a. Main (=SW), XXXVIII, S. 112.   zurück
Ria Schmujlow-Classen und Hugo von Hofmannsthal: Briefe, Aufsätze, Dokumente. Hg. von Claudia Albrecht, Marbach 1982, S. 60.   zurück
SW XVIII, S. 378.   zurück

Hofmannsthal hat auf einem Konvolutdeckblatt Revolutionsdrama und Roman des inneren Lebens gleichzeitig aufgezeichnet.

   zurück
SW XXX II, S. 37.   zurück
Ebd. S. 40.   zurück
SW XXX, S. 218.   zurück
10 
SW XXXVIII, S. 335.   zurück
11 

Die Editionsproblematik bei den Fragmenten behandelt Konrad Heumann: Nachlass/Editionen/Institutionen, in: Hofmannsthal-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Mathias Mayer / Julian Werlitz, Stuttgart 2016, S. 401–406, zu Editionsprinzipien S. 403 f.

   zurück