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Homage an Christa Wolf

  • Carola Hilmes (Hg.): Christa Wolf-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. J. B. Metzler 2016. 406 S. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-476-05368-8.
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Das Gesamtwerk von Christa Wolf in und mit einem Handbuch darzubieten und aufzuarbeiten, war ein Desiderat, das der von Ilse Nagelschmidt und Carola Hilmes herausgegebene Band mit Bravour beseitigt. Der Band stellt das Lebenswerk einer der bedeutendsten Autorin der deutschen Nachkriegsliteratur von konkretem historischem, kulturellem und politischem Hintergrund gründlich und fachkundig vor.

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Das Buch, das den aktuellen Forschungsstand der Christa-Wolf-Studien ebenso konzise wie detailreich präsentiert, eröffnet zugleich weiterführende Interpretationsfelder und bietet somit nicht nur einen umfassenden Überblick zu Leben, Werk, Deutung und Wirkung der Autorin von den Anfängen ihres Schaffens bis zur Edition ihres Nachlasses, sondern geht auch auf wesentliche Fragestellungen, Richtungen und neue Perspektiven der Forschung ein. Poetologische Gesichtspunkte und Rezeptionsfragen werden ebenso triftig dargestellt, so wie auch intertextuelle und intermediale Aspekte, die das vielseitige Œuvre von Christa Wolf betreffen. Hinzu werden auch Reden und Interviews, ihre essayistischen Schriften, sowie ihre Korrespondenz mit bedeutenden Autoren der Zeit, wie etwa mit Anna Seghers, Franz Führmann oder Max Frisch, sorgfältig vorgestellt und zeichnen somit manche bisher eher weitgehend unbekannte bzw. wenig beachtete Facetten von Christa Wolfs Beziehungen zu ihren Zeitgenossen auf.

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Gliederung

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Der Band gliedert sich in vier großen Teilen, die in einzelnen Kapiteln und Unterkapiteln die großen und größeren Zusammenhänge des vielfältigen Œuvres der Autorin erhellen. Der erste Teil mit dem Titel »Zeitgenossenschaft zur Zeitzeugenschaft: Christa Wolf in Zeit und Generationszusammenhängen« (Ilse Nagelschmidt) präsentiert die Biographie der Autorin in Hinblick auf ihre Generationszugehörigkeit, ihren kulturellen und sozialen Umfeld, den historischen und politischen Kontext kritisch und zugleich einleuchtend. Dabei werden multiplexe Quellen, Selbstzeugnisse, zeitgenössische Berichte und Dokumente herangeführt, die sich zu einem subtilen und zugleich eindringlichen Porträt der Autorin und ihrer Zeit zusammenfügen.

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Werke und Kontexte

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Der zweite und größte Teil des Handbuches, der den Titel »Werke und Kontexte« trägt, bietet einen systematischen Zugang zum Gesamtwerk von Christa Wolf unter ständigen Rekurs auf den historischen Kontext, indem er die Entstehungsbedingungen vereinzelter Werke und Werkgruppen, den Stand der Forschung, aktuelle Interpretationsperspektiven, sowie die ihre Rezeptionsgeschichte informativ und sachlich luzide vorstellt. Schon die Titel der einzelnen Kapitel deuten auf die Systematik und die methodische Stringenz hin, mit der das Œuvre von Christa Wolf im Handbuch behandelt wird.

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So werden im ersten Beitrag, der »Zwischen Dogmen und Aufbruch« (Martine Schnell / Ilse Nagelschmidt) betitelt wird, die Anfänge der Beschäftigung mit der Literatur sorgsam vorgestellt (»Studium und Grunderfahrung«, »Christa Wolf als Literatukriterin«). Darauf aufbauend werden ihre ersten literarischen Arbeiten seit Mitte der 1950er Jahre bis Anfang der 1960er Jahre im Rahmen der damaligen sozialen, politischen, intellektuellen und literarischen Szene umfassend erörtert (Der Bitterfelder Weg, Moskauer Novelle, Der geteilte Himmel).

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Konsequent widmet sich der nächste Beitrag mit dem Titelt »Die poetische Kraft des Nachdenkens« (Therese Hörnigk) dem literarischen Schaffen der 1960er Jahre und insbesondere der immanenten Poetik der Autorin, die einem »Netzwerk unterschiedlicher Erzählelemente aus Reflexionen, Erörterungen, Schilderungen von Begebenheiten und Ereignissen zusammengefügt zu einem Gewebe« (S.83) gleiche. In diesem Rahmen werden Juninachmittag, Nachdenken über Christa T., Lesen und Schreiben als Exemplare dieser Poetik des Nachdenkens in ihren Entstehungsbedingungen interpretatorisch erhellt.

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Der darauffolgende Beitrag »Bekenntnis zu weiblichen Lebens-, Erfahrungs- und Traditionslinien« (Carmen Ulrich) ist den thematischen bzw. poetologischen Verschiebungen gewidmet, die seit Anfang der 1970er Jahren im Werk von Christa Wolf allmählich sichtbar werden. Auch in diesem Beitrag wird der historische Kontext bzw. die Veränderungen in der Kulturpolitik der DDR mit der Neulektüre ihrer Vorgängerinnen, wie etwa von Marieluise Fleißer, die als Christa Wolf als Vorbild diente, mit Souveränität in Verbindung gebracht, um das ästhetische Programm der Autorin in Bezug auf die Kategorie »Geschlecht« zu exemplifizieren.

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Den viel in der Forschung diskutierten Text Kindheitsmuster behandelt der darauffolgende Beitrag von Birgit Dahlke (»Schreiben wider das Vergessen – Kindheitsmuster (1976), exemplarisch«). Dahlke überblickt die Entstehungsbedingungen, die bisherige Forschung sowie die Rezeptionsgeschichte des Textes. Sie entwickelt zudem vor allem im Kapitel »Generation und Geschlecht« eine originäre Interpretationsfolie, in deren Rahmen der Text zum »Dokument der Determiniertheit individuellen Erinnerns durch kollektive Deutungsmuster« avanciert (S. 136).

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Mit dem Jahr 1976 und die Biermann-Ausbürgerung fängt der nächste Beitrag von Hannelore Scholz an (»Projektionsraum Romantik«), der sich mit der Bedeutung der Romantik in der DDR allgemein und insbesondere im Werk von Christa Wolf auseinandersetzt. Scholz befasst sich dabei u.a. mit Kein Ort Nirgends, Sommerstück und gibt einen besonders soliden Überblick über die jeweilige Entstehungsgeschichte, den kulturpolitischen Kontext und den Stand der Forschung.

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Unter dem Titel »Weibliche Deutung des Mythos –Zivilisationskritik« geht Carola Opitz-Wiemers der Umbruchszeit zwischen 1979 und 1996 nach und gibt tiefe Einblicke in die literarische Umdeutung des Mythos im Werk von Christa Wolf. In diesem besonders gut fundierten Teil werden Medea, Kassandra, sowie die Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra (Frankfurter Poetikvorlesung) samt ihren inter- und extratextuellen Bezüge vorgestellt und nüchtern durchleuchtet.

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Texte der 1980er Jahre stellt der nächste Beitrag mit dem Titel »Fortschritt und Fortschrittsgläubigkeit« von Loreto Vilar vor. Auch hier wird dem historisch- politischen Kontext die gebührende Achtung geschenkt. Zudem werden aber auch dezidiert die poetologischen Prämissen der sogenannten Umweltliteratur von Christa Wolf hervorgehoben und eingehend diskutiert.

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Der letzte Beitrag dieses zweiten Teils trägt den Titel »Demontagen und Bleibendes« und hat als Gegenstand die Zeit nach 1989. Katrin Löffler schafft darin die letzte Schaffensperiode der Autorin eindringlich zu rekonstruieren und zugleich eine Bilanz des Gesamtwerkes zu ziehen, indem sie auf die intertextuelle Bezüge zwischen dem späteren und dem früheren Werk von Christa Wolf eingeht. So liest sie etwa Die Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud als eine Art Fortsetzung des Versuches nach Erkenntnis, der erst in Kindheitsmuster literarisch bearbeitet wurde.

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Zeitzeugnisse

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Nach dieser methodisch rigiden Vorstellung aller Schaffensphasen der Autorin wird im dritten Teil des Handbuches, der den Titel »Zeitzeugnisse« trägt, der Briefwechsel von Christa Wolf mit Anna Seghers (Sonja Hilzinger), Franz Fühmann (Caroline Köhler), Brigitte Reimann (Maria Brosig), Günter Grass (Kathrin Sandhöfer), Max Frisch (Carsten Gansel) und Charlotte Wolff (Carola Hilmes) eingehend kommentiert. Dabei wird die jeweilige (Brief-) Freundschaft differenziert dargestellt und in ihrer Bedeutung für die Autorin entsprechend gewürdigt.

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Es folgen umfassende Beiträge zu den zahlreichen Essays, die Christa Wolf verfasst hat (Katharina Theml), sowie zu Interviews und Vorträgen (Nadine J. Schmidt), zu den Tagebüchern (Hannes Kraus) und dieser dritte Teil schließt mit einem aufschlussreichen Beitrag zur Beziehung zwischen Christa und Gerhard Wolf (Sonja Hilzinger).

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Rezeptionsgeschichte

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Der vierte und systematisch sinnvoll abschließende Teil des Handbuchs ist der deutschdeutschen und internationalen Rezeption, der Publikationsgeschichte und der Druckgenehmigungsverfahren, sowie den intermedialen Adaptionen des Œuvres von Christa Wolf gewidmet. Er fängt mit einem instruktiven Beitrag von Yvonne Delhey zu Arbeits- und Publikationsbedingungen sowie zur Rezeption in der DDR an, um dann fachkundig den »Blick des Westens« auf Christa Wolf ins Visier zu nehmen ( Kathrin Schödel). Eine Reihe von informativen und auf gründliche Recherche basierenden Beiträgen zur internationalen Rezeption ergänzt die deutschdeutsche Rezeptionsgeschichte ihrer Werke. So gibt es Beiträge zur Rezeption in Italien (Anna Chiarloni), in Frankreich (Alain Lance), in Polen (Halina Ludorowska) und in den USA (Christiane Zehl Romero). Hier sei allerdings zu bemerken, dass dies nicht die einzigen Länder sind, in denen Christa Wolf intensiv rezipiert wurde.

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Lässt die internationale Rezeption manches zu wünschen übrig, so decken die darauffolgenden Kapitel zur »Rezeption in Film und Fernsehen, im Hörspiel und auf der Bühne« (Katrin Dautel) und zum »Dialog mit Künstlerinnen und Künstlern« (Carola Hilmes) die ganze Palette sowohl der Adaptionen, als auch der intermedialen Aspekte des Werkes vorzüglich ab, indem sie mit fachkundigem Wissen auf eine Reihe von bis jetzt wenig beachtete Rezeptionsaspekte eingehen. Dieser letzte Teil endet mit einem hoch interessanten Beitrag zu den Eigentümlichkeiten der Nachrufe und Gedenkreden, sowie mit einem Beitrag zu den posthumen Veröffentlichungen und dem Nachlass (beide von Caroline Köhler).

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Den Abschluss des Bandes bilden eine Auswahlbibliographie der Forschungsliteratur und ein Personenregister und obschon die Titel der einzelnen Kapitel auf die Werke hinweisen, die jeweils darin behandelt werden, fehlt leider ein Werkregister, das für den Leser besonders hilfreich wäre.

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Fazit

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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Handbuch in jeder Hinsicht gelungen ist. Es ist gut fundiert, aufschlussreich und zugleich leserfreundlich. Die Systematik, mit der das Werk von Christa Wolf behandelt wird, die Berücksichtigung seiner intertextuellen Beziehungen, sowie der ständige Rekurs auf den jeweiligen historischen kulturell- politischen Kontext lassen die Entwicklung ihrer Poetik plausibel erscheinen und erleichtern dem Leser den Zugang zu ihren Texten. Die einzelnen Beiträge stehen auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion und fassen sie kompetent und kritisch zusammen. Das vielschichtige Werk von Christa Wolf findet somit eine angemessene Darstellung. Das Handbuch ist insofern nicht nur für Studenten, sondern auch für Forscher und interessierte Leser nachdrücklich zu empfehlen.