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Ivy York Möller-Christensen: Der moderne Hans Christian Andersen im Lichte der Materialästhetik

  • Klaus Müller-Wille: Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn: Wilhelm Fink 1917. 373 S. Kartoniert. EUR (D) 44,90.
    ISBN: 978-3-7705-6150-6.
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Die vorliegende Studie fügt sich in die mittlerweile lange Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen, die im Laufe der letzten Jahrzehnte über das Werk des dänischen und europäischen Dichters Hans Christian Andersen herausgegeben wurden und davon zeugen, wie dieser Dichter seitens der Literaturwissenschaft immer nachdrücklicher im Diskurs der Modernität verstanden und neu erforscht wird. In der Zeit der frühen Rezeption des 19. Jahrhunderts wurde er – besonders ausgeprägt im deutschen Kulturraum – durchgehend als harmloser Biedermeierdichter gesehen, rückwärtsgewandt, konservativ und in politischer Hinsicht ausgesprochen harmlos. Dabei hätten sein sozialer, von Nachteilen geprägter Hintergrund im provinziellen Odense auf der Insel Fünen des 19. Jahrhunderts und die zu jener Zeit immer lauter werdenden politischen Forderungen, die von den Vorkämpfern der demokratischen Erneuerungen gestellt wurden, den Dichter durchaus auf eine etwas andere literarische Spur führen können – oder gar müssen. So monieren es jedenfalls viele Kritiker des Märchendichters im Laufe der Zeit.

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Der Konservatismus und die allgemeine Anknüpfung an die Biedermeier-Strömung sind dabei generell Merkmale, die besonders deutlich aus der Rezeptionsgeschichte des deutschsprachigen Raums hervorgehen. Als ›wohltuendes‹ Beispiel der großen und kindlich-naiven Begabung zeuge eine Kunst – so der Haupttenor der Rezensionen –, die dementsprechend von einem ebenso kindlichen und naiven wie auch im klassisch-romantischen Sinne genialen Künstler geschaffen wurde. Ein Künstlermythos, der sich durch derartige Kennzeichen auszeichnete, eignete sich wiederum hervorragend als Vorbild für die sowohl politischen als auch künstlerisch progressiveren Geister, die zuweilen der Zensur unterlagen. 1 Diese Vorstellungen des Märchendichters gehören zwar der rezeptionsgeschichtlichen Vergangenheit an, haben sich jedoch weit bis ins 20. Jahrhundert gehalten. Mittlerweile sind hingegen andere Aspekte des Werks Andersens entdeckt und in den Fokus gerückt und erforscht worden, vor allem, was seine Zugehörigkeit zur frühmodernen europäischen Avantgarde des 19. Jahrhunderts angeht.

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Klaus Müller-Wille hat bereits in früheren Arbeiten mit aufschlussreichen Studien zu dieser Neuperspektivierung beigetragen und hat dabei darauf hingewiesen, dass die Texte Andersens sehr oft als eine Art ›Kippbilder‹ aufzufassen sind, als Texte, die durch eine besondere Doppelung bzw. durch strukturelle Ambivalenzen gekennzeichnet sind, da sie zur gleichen Zeit referentielle und selbstreferentielle Funktionen besitzen. 2

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Die vorliegende Untersuchung der sogenannten »Sezierten Bücher« Andersens umfasst zunächst eine ausführliche »Einleitung« (S. 9-37), die relevante analytische Grundsatzfragen präsentiert und sie gründlich reflektiert. Diese einleitenden Reflektionen laufen auf eine interessante These hinaus, nämlich dass der Dichter keinesfalls, wie früher öfter vermutet worden ist, ein naives und unreflektiertes Verhältnis zu den Schriftmedien hatte, sondern »dass Andersen in erstaunlich vielen seiner Texte kritisch über das an der gedruckten Schrift orientierte Lesen, das Schreiben und die Buchproduktion reflektierte.« (S. 12). So war er durchaus über die medientechnischen Entwicklungen seiner Zeit informiert, und hat diese auch produktiv für seine Kunst eingesetzt: »Dabei beteiligte er sich mit seinen Texten nicht nur an den aktuellen zeichen- und medientheoretischen Fragestellungen, welche die philosophischen und theoretischen Debatten des dänischen Guldalders prägten, sondern er versuchte, diese Debatten mit Blick auf die rasanten Veränderungen der maschinellen Produktionsweisen in seiner Zeit kritisch zu beleuchten.« (S. 12).

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Auf dieser Basis nimmt sich Klaus Müller-Wille nunmehr vor, durch aufschlussreiche Textanalysen die Märchengattung näher zu untersuchen, bspw. wie sich auf verschiedene Weise eine moderne Kunsttheorie im Werk Andersens entfaltet und zwar durch konkrete ästhetische Bearbeitungen komplexer poetologischer Fragestellungen. Dabei wird eine breite Auswahl an neueren relevanten Forschungsergebnissen reflektiert, die generell das künstlerische Werk Andersens nahezu unwiderruflich in den Diskurs der Modernität einordnen. Diese produktive Auseinandersetzung wird weiterhin von Klaus Müller-Wille mit materialästhetischen Grundpositionen ausführlich und verdienstreich gekoppelt und außerdem weiterführend als analytische Grundlage untersucht.

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Als Strukturierungsprinzip der Untersuchung dienen in der Folge drei Hauptüberschriften: »Lesen«, »Drucken« und »Schneiden«; darunter gliedert sich, nuanciert und facettenreich, eine Reihe von weiteren Teilaspekten, die allesamt die entscheidenden materialästhetischen Aspekte des künstlerischen Werks von Hans Christian Andersen analysieren.

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Mit einer gründlichen und kritischen Analyse von Walter Benjamins Andersen-Lektüre, wie sie in seinem Aufsatz Aussicht ins Kinderbuch (1926) vorgenommen ist, widmet sich Klaus Müller-Wille im Abschnitt »Lesen« zunächst der dänischen ›Leserratgeberliteratur‹, genauer genommen der Schrift des von Kant inspirierten pädagogischen Theoretikers Anders Gamborg, Om en Theorie af Læsekunsten eller Forsøg til en Legologie (Dt.: Über die Theorie der Lesekunst oder Versuch zu einer Legologie) sowie Johan Ludvig Heibergs von Hegel inspirierten Auseinandersetzungen mit den Lektüretheorien der Zeit. Diese von Klaus Müller-Wille akribisch durchgeführten Aufzeichnungen der lesetheoretischen Weichen der Zeit Andersens dienen in plausibler Weise dazu, die nunmehr als innovativ sichtbar werdende Modernität Andersens philosophisch zu untermauern und zu kontextualisieren. Zunächst im Abschnitt 3. Tropen des Lesens, in Abs. 4. Märchen des Lesens, in Abs. 5. Verdoppelung und Inversion des Lesens und letztendlich in Abs. 6. Lesen als Wiederholung.

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Eine den facettenreichen Pointen gerecht werdende Wiedergabe sämtlicher Ergebnisse der hier genannten Themen ist aus Gründen der Ökonomie an dieser Stelle nicht möglich, da in der Studie in zumeist non-chronologischer Folge sehr viele ›Lese-Texten‹ detailliert unter die Lupe genommen werden. Andersens Aufmerksamkeit für die medientechnischen Entwicklungen – so ein Fazit von Klaus Müller-Wille – führt ihn »zu einer überraschend frühen Reflexion über ein Lesen, dass sich nicht allein an Zeichen orientiert, sondern das enger mit dem materiellen Gegenstand des Buches und seiner körperlich erfahrbaren Präsenz verknüpft ist.« (S. 330).

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Diese Erkenntnis wird im Kapitel mit dem Titel Drucken (S. 153 f.) weiter bestätigt und erweitert. Hier wird nicht nur der »rätselhafte Akt der Lektüre« untersucht, sondern ebenfalls die bisweilen »rätselhaften Produktionsprozesse der Buchherstellung« (S. 155). Außerdem werden Bücher als warenästhetische Objekte ins Auge gefasst. In überzeugender Weise wird in diesem Zusammenhang zunächst die Auseinandersetzung der beiden Zeitgenossen Johan Ludvig Heiberg und N.F.S. Grundtvig erläutert. In diesem Zusammenhang werden die Heiberg-inspirierten, romantisch-ironischen Arabesken Andersens z.B. in dem frühen Text Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829 (1829; dt.: Fußreise von Holmens Kanal zur Ostspitze von Amager in den Jahren 1828 und 1829) interpretiert. Dabei werden Probleme mit der Produktion, Distribution und Rezeption von Büchern – ergänzt durch die experimentellen und selbstreflexiven Anlagen der zeitgenössischen deutschen und französischen romantischen Tradition –ausgelotet. Weiterführende Analysen dieser materialästhetischen Thematik in Bezug auf die Relation zwischen dem künstlerischen Schaffen von Hans Christian Andersen einerseits und seinem Zeitgenossen Søren Kierkegaard anderseits, wären meines Erachtens gerade an dieser Stelle relevant gewesen; diese werden jedoch an anderer Stelle der Studie nachgeholt (siehe z.B. Abschnitt 10: Das Buch als Ware, S. 275 f.).

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In dem Abschnitt Aufruhr der Schreibmaterialien (S. 221 f.) wird das Interesse Andersens für das Medium Buch als technisches Produkt aufgegriffen. Klaus Müller-Wille geht am Beispiel mehrerer Märchen und Geschichten der Frage der industriellen Reproduktionsprozesse nach. Wie bekannt stand Andersen den rasant fortschreitenden, technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts ambivalent gegenüber, nämlich zugleich zutiefst fasziniert und skeptisch. Klaus Müller-Wille differenziert dank einer materialästhetischen Perspektive diese Beobachtung. In Bezug auf die modernen industriellen Vorgehensweisen, die zu jener Zeit die Vorgänge des Schreibens und Druckens beeinflussten, nutzt Andersen gerade eben diese innovative Wandlung der materialästhetischen Umrahmungen seines künstlerischen Werks dazu, »die produktionsästhetischen Problemstellungen, die in ihrem Interesse für das Subjekt überschreitende, unkalkulierbare Eigendynamik des Materials zentrale Theoreme der klassischen Moderne vorwegzunehmen.« (S. 331).

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Allerdings geht es Klaus Müller-Wille keinesfalls schlicht nur darum, Andersen als einen Revoltierenden gegen die Romantik und als Vorboten der Moderne zu platzieren. Er zeigt anhand von Andersens künstlerischer Handhabung von Scherenschnitten, Collagen, Zitat- und Recyclingästhetiken (siehe z.B. Abs. 12.2. f) sowie seiner collagenartigen Texten, wie die Materialität von Schreiben, Drucken und Schneiden, und wie die technischen Innovationen der Druckindustrie generell sich markant auf die textimmanenten literarischen und poetologischen Reflektionen des Dichters auswirken. Das vorrangige Analysebestreben richtet sich also auf die Genese der Materialästhetik im künstlerischen Werk von Hans Christian Andersen.

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Die Abhandlung Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik, so kann abschließend festgehalten werden, liefert neue und sehr interessante Erkenntnisse über ein bisher wenig beachtetes Forschungsfeld. Noch hinzuzufügen ist, dass diese Arbeit auch noch in heuristischer Hinsicht meines Erachtens vorbildlich operiert: Klaus Müller-Wille arbeitet gründlich, akribisch und konstruktiv, und seine Analysen entstehen im wohltuend respektvollen Dialog mit den zahlreichen Forschungsarbeiten, die seine Studie produktiv aufgreift und diskutiert.

 
 

Anmerkungen

Möller-Christensen, Ivy York: Den gyldne trekant. H.C. Andersens gennembrud i Tyskland 1831–50. Odense: Odense Universitetsforlag 1992.   zurück
Müller-Wille, Klaus: At læse udenad og indeni – fikserbilledet og H.C. Andersens uhyggelige retorik. In: Jacob Bøggild, Ane Grum-Schwensen und Torsten Bøgh Thomsen (Hg.): H.C. Andersen og det uhyggelige. Odense: Syddansk Universitetsforlag 2015, S. 149–174.   zurück