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Sag mir, was du isst und ich erzähl dir eine Geschichte dazu

  • Christine Ott: Identität geht durch den Magen. Frankfurt: S. Fischer 2017. 496 S. EUR (D) 26,00.
    ISBN: 978-3-10-002208-0.
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Die Autorin strebt in ihrer Studie ein in der Tradition Roland Barthes stehendes kultursemiotisches und diskursanalytisches Vorgehen an, um Essmythen unter Berücksichtigung verschiedenster Einflussfaktoren zu beschreiben (S. 25). Dabei wird auf Alltagskultur, sozio-ökonomische Diskussionen, philosophische Diskurse, Filme und vor allem auch literarische Texte zurückgegriffen, die Mythen rund ums Essen durch die Art und Weise, wie sie dort verhandelt werden, kritisch oder affirmativ aufzeigen.

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Essen als ein Ausdruck der sich aus vielen Facetten zusammensetzenden Identität wird als These dem Buch vorangestellt, ein hinlänglich bekannter Umstand, dessen Konsequenzen man sich gleichwohl nicht immer in seiner Tiefe und Auswirkung bewusst macht.

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Bachtins groteske Körperkonzeption

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Die Verfasserin nimmt als Ausgangspunkt das Bachtinsche Paradigma des offenen und geschlossenen Körpers. Der groteske Körper der subversiven Volkskultur steht dem geschlossenen Körper der offiziellen Ordnung gegenüber. Veranschaulicht werden damit einhergehende Aspekte der Esslust und der Askese. In den Fokus gerückt werden hier Rousseaus Auskünfte über seine leibliche Befindlichkeit in den Bekenntnissen und Prousts Combray. Damit werden individuelle Essbiographien und literarische Schlüsselszenen textnah und überzeugend interpretiert, doch bleibt die Frage, inwieweit sie für eine Mythenbildung generalisiert werden können, allenfalls insoweit, dass die zigfach zitierte Madeleinepassage aus Prousts Roman sich zu einem Mythos der oralen Kindheitserinnerung verselbständigt hat, in dem sich alle Welt in irgendeiner Form wiederfinden kann.

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Mit Autoren der Spätmoderne rückt der Ekel als Teil des Körperkonzeptes ins Blickfeld. Winfried Menninghaus hat dieses Phänomen untersucht und sich dabei auch eingehend mit Kafkas Texten beschäftigt, die dadurch dem Leser einen neuen Zugang ermöglichen. Allen voran ist Kafkas Erzählung Die Verwandlung ein Beispiel für Figurationen des Ekelhaften. Die Wendung, die die Verfasserin vom ambivalenten Gefühl des Leidens und Genießens zum offenen Käferkörper Gregors hin macht, überzeugt allerdings nicht ganz. Schließlich führt Gregor seinen Tod bewusst herbei, indem er nichts mehr in seinen Körper hinein lässt, ihn eben verschließt. Die Verweigerung der Nahrung ist schwerlich mit dem auch immer fröhlich konnotierten Kreislauf des Verschlingens und Verschlungenwerdens des grotesken, offenen Körpers in Einklang zu bringen. Das Bachtinsche Paradigma lässt sich andernorts gut auf die Literatur anwenden, schließlich hat der russische Literaturwissenschaftler selbst seine Thesen mit prominenten Beispielen aus der Weltliteratur verifiziert, weil sie praktische Deutungsmuster dafür liefern, aber zu Kafkas Anti-Märchen scheinen sie nicht recht zu passen.

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Die anschließenden Überlegungen zu Sartre, die ebenfalls mit dem grotesken Körperkonzept in Verbindung gebracht werden, basieren einerseits auf dessen persönlichen alimentären Affinitäten, andererseits auf einer von Sartre forcierten Gegenüberstellung von geschlossenem männlichen und offenem weiblichen Körper. Letzterer ist vor allem ein »klaffendes Loch«, »die Frau an sich ruft nach fremdem Fleisch, mit dem sie durch Eindringen und Auflösen in Seinsfülle verwandelt werden soll.« (S. 86) Der groteske Körper im Sinne Bachtins mit einer Betonung auch der Sexualität zielt auf ein universales Modell des Materiell-Leiblichen, daher lässt einen diese Art des Auseinanderdividierens des männlichen und des weiblichen Körpers hier etwas ratlos zurück, zudem gerade diese Äußerungen eines großen Denkers, der Sartre unbestreitbar ist, nach wie vor irritieren.

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Im dritten Kapitel wird die Beziehung zwischen Mutter und Kind, insbesondere zwischen Müttern und Töchtern aufgegriffen. Ott wartet mit einer ganzen Reihe theoretischer Befunde auf, die sie anschließend mit Beispielen aus der Literatur, zuweilen auch mit Filmen, illustriert. Für das alte Aschenbrödel-Muster lassen sich Varianten in großer Zahl finden, die dieses auf mal mehr oder weniger anspruchsvolle Weise künstlerisch umsetzen, was auch von der Autorin entsprechend kommentiert wird. Der damit verbundene Muttermythos ist ein sehr wirkmächtiger, auch wenn aktuell Publikationen unter dem Stichwort regrettingmotherhood, angestoßen von der Soziologin Orna Donath, diskutiert werden, die ein Stück weit diesen Mythos zu demontieren versuchen. Diese Betrachtungen führen direkt zum nächsten Kapitel, in dem die nährende oder nicht nährende und damit schlechte Mutter ins Blickfeld gerät.

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Gesund und schädlich zugleich – die Milch macht’s möglich

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An dem Nahrungsmittel Milch zeigt die Autorin sehr anschaulich und kenntnisreich auf, wie hier kulturelle Grenzen markiert werden, wie ein Nahrungsmittel mit existentieller Bedeutung aufgeladen wird, ihm die unterschiedlichsten Tugenden zugeschrieben werden, wie es für politisch-ökonomische Zwecke eingesetzt und schließlich sogar als schädliches Lebensmittel verdammt wird. Nicht nur Amerika rief in der Vergangenheit breit angelegte Kampagnen für den Milchkonsum ins Leben, in Deutschland gab es ähnliche Aktionen und es ist schon verblüffend, den Weg von der verordneten Schulmilch bis zu einem vehement abgelehnten Produkt zu verfolgen. Die Milch ist ein hervorragendes Beispiel, um über Verflechtungen zu reflektieren, die von kulturgeschichtlicher Symbolik über ökonomische und gesundheitliche Aspekte reichen und bei der Bildung eines Essmythos mitwirken.

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Pizza, Pasta, basta?

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Im fünften Kapitel des Buches wird die im 19. Jahrhundert verfestigte Vormachtstellung der französischen und der italienischen Küche mit einer Fülle an Einzelbeobachtungen eingehender betrachtet. Ihr folgt die Ablösung durch die asiatische Kochkultur. Zahlreiche Werbekampagnen, wissenschaftliche Studien und literarische Beispiele belegen dies.

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Die Autorin widmet sich in dem Kapitel auch ausführlich dem »Pasta-Chauvinismus« der Italiener und der Verbreitung der als besonders typisch empfundenen Pizza. Es ist verblüffend, dass zwei einzelne Speisen, die sich zugegebenermaßen sehr vielseitig variieren lassen, die Küche einer ganzen Nation widerspiegeln. Wenn in diesem Zusammenhang von der Begeisterung der Deutschen für die italienische Pasta gesprochen wird und der Ethnologe Marin Trenk bemerkt, dass in deutschen Haushalten inzwischen mehr Pasta als Königsberger Klopse, Sauerbraten und Rouladen zusammen gegessen werden (S. 204), möchte man sofort entgegnen, dass dies auch nicht weiter verwunderlich ist, aber vielleicht die Gründe dafür lediglich in der unschlagbaren Einfachheit der Zubereitung eines Pastagerichts liegen könnten, zumindest kann man hier mit sehr geringem Aufwand ein genießbares Resultat erzielen, was man von Königsberger Klopsen, Sauerbraten und Rouladen nicht unbedingt behaupten kann. Vielleicht ist genau das der Grund, dass sich in der französischen Küche hingegen kein vergleichbares Gericht finden lässt, das als Stellvertreter einer ganzen Nationalküche genannt werden könnte und über die nationalen Grenzen hinaus einen derartigen Siegeszug angetreten hat. Denn eigentlich werden mit Pizza und Pasta einzelne Gerichte aus einer nach Regionen äußerst vielfältigen Küche herausgegriffen, die wenig mit der langanhaltenden Spitzenposition der italienischen Küche zu tun haben.

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Im vorletzten Kapitel wird der Gender-Aspekt beim Essen verhandelt. Fleisch als männlich konnotiertes Nahrungsmittel im Verbund mit Alkohol hat eine lange Tradition, ebenso wie die Zuordnung von Milch und Zucker zur weiblichen Seite. In den geschlechtsspezifischen Kontext gehören auch Narrative wie die ›Die essbare Frau‹, und ›Schlechte Mütter – Schlechte Köchinnen‹. Während diese althergebracht sind, werden auch neue Begriffe in der fast unüberschaubar gewordenen Vielfalt an Nahrungsdiskursen geprägt, wie der vom »gastrosexuellen Mann« (S. 362). Ein Phänomen, das die Hobbykochfraktion hervorbringt und sich bestens mit dem lange bestehenden Mythos verbinden lässt, dass die wahren Künstler unter den Köchen doch ausschließlich Männer sind.

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Das Rätsel der Nahrungstabus wird im letzten Themenkapitel zwar nicht gelöst, aber auf fundierte Weise geschildert. Die Autorin weist außerdem darauf hin, wie einfach man sich in bestimmten Fällen auch davon emanzipieren kann. Eine Lockerung beispielsweise religiöser Speiseregeln stellt oft eine behutsame und notwendige Anpassung an die moderne globale Gesellschaft dar.

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Fazit: Bewusste Ernährung und sinnlicher Genuss

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Das Buch bietet eine Fülle an Informationen das kulinarische Thema betreffend. Wer sich damit auseinandersetzt, bekommt Informationen aus vielen Bereichen, gleichwohl wäre manches Mal eine pointiertere Stellungnahme der Autorin wünschenswert gewesen. Immerhin beschließt sie ihre ausgreifende und anregende Studie mit drei Thesen, die einmal mehr daran erinnern, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, verantwortlich für sich und andere, gerade auch in dem so natürlichen wie mythengenerierenden Bereich des Essens.