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Wenn Zeichen bedeuten - Typographie in der Literatur

  • Rainer Falk / Thomas Rahn (Hg.): Typographie & Literatur. (Text. Kritische Beiträge Sonderheft) Frankfurt am Main und Basel: Stroemfeld 2016. 410 S. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-86600-053-7.
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Der vorliegende Sammelband zu typographischen Verfahren in der Literatur zeigt in mehreren Abteilungen sowohl allgemeine typographische Grundmuster als auch spezifische Besonderheiten anhand ausgewählter Beispiele auf. Als Grundthese gehen die Herausgeber dabei davon aus, dass Typographie die Interpretation/Lesehaltung und Leseerwartung beeinflusst, und dass nicht nur bei typographiebewussten Autoren, sondern auch in Fällen, in denen die Textdarstellung unabhängig von einer Autorintention durchgeführt wurde – im häufigsten Fall, wenn ein Autor Layout und Satz dem Verlag überlässt oder ein Autorinteresse zumindest nicht nachweisbar ist. Der Sammelband nimmt so Literatur (auch) als materielle Realisierung eines »Textes« ernst und verortet sich in einer historisch verankerten Rezeptionsästhetik – dies im Gegensatz zur »Typographiemarginalisierung« der klassischen Hermeneutik einerseits und kommunikationstheoretischem Anspruch objektiver Beschreibbarkeit typographischer Verfahren andererseits. In diesem Sinne ist Schriftlichkeit nicht, sondern sie bedeutet und trägt damit integral zum Textverständnis bei. Eine Beschränkung aber auf objektivierbare Bedeutungsmöglichkeiten, auf die sich alle Kommunikationsinstanzen einigen könnten, lasse letztlich nicht mehr als das Regelwerk der Typographie selbst sehen – deshalb auch der rezeptionsästhetische Ansatz.

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Der Band ist in vier Abteilungen gegliedert. Der erste beschäftigt sich in drei Beiträgen mit typographischen Dispositiven, 1 also gattungsspezifischen Schemata, die vorausgesetzt werden (können). Untersucht wird, wie sie sich entwickeln und durch welche Elemente sie konstituiert werden. In der zweiten Abteilung geht es in sechs Beispielen um »Spielräume im typographischen System«, d.h. Untersuchungen zu einzelnen Autoren vom 18. bis in die erste Hälfte des 20. Jh. und ihrem Umgang mit der Darstellung ihrer Texte innerhalb solcher typographischen Dispositive. Der dritte Teil setzt sich in vier Beiträgen mit »postmoderner Sondertypographie« auseinander, während der vierte Teil vier Diskussionsbeiträge zur »Editionstypographie« bietet. Ein Anhang liefert eine Auswahlbibliographie zum Thema.

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Typographische Dispositive

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Wie zu erwarten war, greifen vor allem die Einzelbetrachtungen zu typographischen Dispositiven auf die Frühe Neuzeit zurück, in der durch literarische und verlegerische Tätigkeit diese Dispositive entwickelt und in der Folgezeit gefestigt wurden. Nach Sven Limbecks Untersuchung zur Performanz im Missale romanum von 1570 treten sich hier zwei Untersuchungen gegenüber: die Skizze des typographischen Dispositivs des Dramas durch Rainer Falk und der Überblick über die Editionen des Buchs Mormon durch Markus Polzer.

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In seiner Abhandlung über die Geschichte der typographischen Dispositive des Dramas geht Falk von der These aus, dass eben solch ein Dispositiv »auf einen Blick erkennen läßt, ob wir einen Gedichtband oder eine Dramensammlung in Händen halten, ob eine Seite aus einer Tageszeitung oder aus einem Lexikon vor uns liegt« (S. 35). Er zeichnet nun die Bemühungen der Autoren/Verleger/Setzer seit dem 16. Jh. um eine Annäherung von Dramentexten an eine gedachte Aufführung nach, wobei Ausstellung oder Einrückung, Marginalisierung, Kursivierung oder Sperrung von Sprechernamen ebenso wie Markierung von Haupt- und Nebentext (Sprech- und Regietext) den Text gliedern und den schon äußeren Eindruck der Textgattung manifestieren. Selbst einen Text einer anderen Sprache oder anderer Schriftkultur – Falk bringt als Beispiel die Abbildung einer Seite aus Čechovs Čajka (1896) in kyrillischer Schrift – sei durch diese Dispositive erkennbar: »So können beispielsweise Fußnoten unabhängig von jeglicher sprachlicher Realisierung in ihrer Funktion erkannt werden« (S. 36). Typographie nehme dabei schon die eigentliche Aufführung vorweg, »die Buchseite wird zur Bühne«, wie Falk in den Worten Forssmans festhält, und ersetze sie sogar (S. 49).

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Fast wie ein Gegenspieler dazu betrachtet Markus Polzer die typographische Entwicklung der verschiedenen Auflagen des Buches Mormon von der Erstauflage 1830 bis heute. Er weist schlüssig nach, dass dieses Buch Joseph Smiths, das die ›Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage‹ (The Church of Jesus Christ of Latter-day Saints, LDS) begründete, sich im Laufe der Druckgeschichte an die bereits vorhandenen typographischen Dispositive der Bibel anglich. Dieser Prozess begann schon in der zweiten Ausgabe, um der von Zeitgenossen vorgebrachten Kritik entgegenzuwirken, es handle sich bei dem Buch nur um das Plagiat eines (fiktionalen) Romans, nicht um einen heiligen Text. Die LDS stellte und stellt als Herausgeber sukzessive die Heiligkeit des Buches Mormon auch typographisch her und unterstrich sie durch die Aufmachung: Durch Textrevisionen, vor allem aber durch die Anreicherung von Paratext, beispielsweise Kapitelzusammenfassungen, und Verszählung nähert sich die Ausgabe an typographische Dispositive der Bibel an, die schon für das 16. Jh. nachweisbar sind und im 19. Jh. durch ›Wissenschaftsmerkmale‹ (Fußnoten, Bibelstellenquerverweise) angereichert wurden. Anmerken möchte man, dass auch literarische Werke in kommentierten Editionen im Verlauf ihrer Rezeptionsgeschichte häufig den rein literarischen Charakter verlieren und, wie auch die Bibel seit dem 19. Jh., mit ihren Fußnoten und Querverweisen einen wissenschaftlichen Charakter bekommen; die Nagelprobe für das Buch Mormon wäre also nicht, ob die Typographie dem Buch einen (wissenschaftlich-)sakralen Charakter verleiht, sondern ob es weiterhin reine Leseausgaben gibt – durch die Nichterwähnung solcher Ausgaben verneint Polzer die Frage nur implizit. Interessant ist dabei, dass in den letzten Jahren innerhalb der mormonischen Bewegung die Erstgestalt des Buches wieder beachtet wird und der originale Text »sanktifiziert« werde (S. 71). Polzer spricht es nicht aus, doch man mag vermuten, dass diese Rückwendung auf den ursprünglichen Text erst anziehend und eben auch nötig wurde, nachdem die nachfolgenden Auflagen dem Text auch mittels Typographie erfolgreich einen sakralen Nimbus verliehen, der jetzt auf die Erstausgabe zurückstrahlt.

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Varianzen innerhalb der Dispositive

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In diesem Abschnitt wird ausgehend von bestehenden Dispositiven und typographischen Konventionen gezeigt, wie Autoren vom 18. bis in die erste Hälfte des 20. Jh. sich mit diesen auseinandersetzten oder sie produktiv nutzten. Stärker als in den anderen Abteilungen werden in den Beiträgen hier Interpretationen anhand des materiellen Befundes gewagt. Beispielhaft sei auf die Untersuchung von Thomas Rahn verwiesen, der Rilkes Buch der Bilder einer rezeptionsästhetischen Interpretation unterzieht. Rilke, der auf die typographische Gestaltung des Buchs der Bilder maßgeblich Einfluss nahm, äußerte sich auch zur Gestaltung weiterer Auflagen, hier der zweiten, deren Unterschiede zur ersten Auflage könnten kaum größer sein: Während in der Erstauflage Antiquaversalien sich auf der Weißfläche des Großoktavs fast verlieren – Rilke schwebte der Eindruck einer Marmorinschrift vor, die den Text »monumentalisiert« und die »Bedeutsamkeit jedes einzelnen Wortes und sogar Buchstabens« behauptet, so Rahn (S. 169 f.) –, ist die zweite Auflage als Frakturband in Kleinoktav eher konventionell gehalten. Doch sei diese Änderung laut Rilke »sehr nützlich«, denn sie »läßt die Gedichte nun so ganz durch sich selbst wirken« (S. 171). Des Weiteren sucht Rahn den Weißraum, der beim Umbruch zu langer Zeilen entsteht, produktiv mit dem Textsinn in Beziehung zu bringen; ein Verfahren, das für die Entschlüsselung anregend ist, allerdings nicht immer überzeugt, da er nicht immer konsequent bleibt: Der entstehende Weißraum im vorzeitigen Zeilenumbruch wird als Nichts angesehen, wo doch das Bild der Marmortafel, das die Erstauflage angeblich evozieren soll, im Weiß logischerweise den undurchdringlichen Stein aufzeigen sollte, der wohl kaum Nichts sein kann und durch den sich die schwarze Schrift einen Weg bahnt. Entsprechend führen unterschiedliche Umbrüche zu langer Zeilen in weiteren Auflagen immer wieder zu neuen Interpretationsansätzen außerhalb des eigentlichen Textes, die aber mit dem Text verbunden bleiben. Es ist der rezeptionsästhetischen Methode geschuldet, wenn Interpretationen arbiträrer Textmerkmale, die durch andere Produktionsentscheidungen wie Satzspiegelgröße etc. begründet werden, immer auch subjektiv bleiben, doch ist das allein kein Grund, dass sie nicht auch einen Erkenntnisgewinn bedeuten.

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Postmoderner Sondertypographie

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Schon dieser Titel des dritten Abschnitts ist diskussionswürdig, impliziert er doch im Kontrast zum vorigen Abschnitt, dass erst in der Postmoderne der Schritt aus den typographischen Konventionen gewagt wurde. Gerade bei der erwähnten Abhandlung über Rilke aber wäre zu fragen, ob sich der Autor hier noch in einem »Spielraum« befindet, oder es sich schon um eine Sondertypographie handelt. Im Gegensatz dazu ist die Übersicht Bernhardt Metz’ über Reflexe des Arbeitens mit dem Computer in literarischen Texten seit den 1970er Jahren fast schon wieder keine Sondertypographie, schließlich ist die Arbeit mit dem Computer millionenfacher Alltag in der ganzen industrialisierten Welt, die literarische Umsetzung und dazugehörig eine Inszenierung der typographischen Möglichkeiten der gängigen Textverarbeitungsprogramme nur folgerichtig. Berichtend und erhellend sind die Beiträge trotzdem.

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Ein wenig als Fremdkörper erscheint der Beitrag Brigitte Obermayrs Artikel über Dmitrij Aleksandrovič Prigovs Schreibmaschinenkopie von Puškins Eugen Onegin. Nicht, weil ihre Schlussfolgerungen etwa nicht überzeugen würden: Durch den Produktionsprozess nehme Prigov Puškin ins Samiszidat auf und mache damit »den offiziellsten aller sowjetischen Schriftsteller zum inoffiziellen« (S. 300), daraus abgeleitet auch die Folgerung, dass anders als bei ›echter‹ Samiszidat-Literatur, durch die bestimmte Autoren nur mittels Handschriften- und Schreibmaschinenkopien überhaupt verbreitet werden konnten – ein Umstand, der auf Puškin sicher nicht zutrifft, da er in der Sowjetunion immer wieder neu aufgelegt wurde –, die Schrift der Schreibmaschine »hier keine Ersatzschrift«, sondern »Produktionsschrift« sei (S. 301). Die eigentliche typographische Gestaltung allerdings ist nur Teil des gesamten Produktions- und Vertriebsprozesses: Die Wahl der Schrift ergibt sich aus Prigovs Entscheidung, die Schreibmaschine zu benutzen, nahezu zwangsläufig. Der Beitrag erweitert also schon in der Wahl des Untersuchungsobjektes das Thema von der Typographie auf die gesamte Materialität, ist in diesem Sinne aber durchaus lesenswert und korrespondiert mit dem erwähnten Beitrag Polzers zum Buch Mormon: Durch Typographie, hier sogar noch durch weitere Entscheidungen der materiellen Ausgestaltung (Handschrift vs. Schreibmaschine vs. Druck, Papier, Einband, Vertrieb), wird die Deutungsmöglichkeit des eigentlichen Textes massiv in eine Richtung gelenkt (Polzer) oder eben sogar in eine andere umgelenkt (Obermayr).

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Laura Bastens Untersuchung der gesetzten Fassung von Raymond Ferdermans DOUBLE OR NOTHING, die sich mit dem Problem der Übersetzung eines unkonventionell gestalteten Typoskripts nicht nur in eine Satzfassung, sondern zudem noch in eine sprachliche Übersetzung (vom Englischen ins Deutsche) beschäftigt, nähert sich dabei bereits Fragestellungen an, die in ähnlicher Weise auch in der letzten Rubrik behandelt werden.

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Editionstypographie

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In diesem Abschnitt besteht neben einem Überblick von Rüdiger Nutt-Kofoth über heutige Editionspraxis und ihre Verfeinerung infolge besserer typographischer Möglichkeiten aus drei Diskussionsbeiträgen. Besonders detailreich plädiert Ulrich Joost für einen gemäßigten Umgang bei der Edition von Frakturtexten in Antiqua. Er sieht es nicht nur als unnötig an, heute in Fraktur zu edieren, sondern warnt vor einer historistischen Behandlung der Fraktur aus zu großer Skrupelhaftigkeit. Randerscheinungen der Schrift wie Schaft-s, e-Umlautmarkierungen, Virgeln, Nasalstriche, doppelte Trennstriche oder Klammern müssten übertragen, aber nicht mimetisch als »Scheingenauigkeit« (S. 319) nachgebildet werden. Auf Initialen folgende Majuskeln solle man in einer Edition ebenso als Minuskeln edieren, da der Versaldruck sich allein ästhetisch aus der Initiale ergebe; lasse man eine Auszeichnung der Initialen weg, »müßten nachgerade die zweiten Buchstaben als Minuskeln erscheinen. Denn diese sind vollkommen eine typographische Folge von jenen« (S. 310). Solche Randerscheinungen der Fraktur müssten zwingend übersetzt werden, »gerade mit den Argumenten einer historisch angemessenen Textwiedergabe« (S. 333). Anders als Joost sehen es Gerrit Brüning und Friedrich Forssman explizit als Möglichkeit an, auch heute noch historische Texte in Fraktur zu edieren, und Brüning stellt sogar fest, dass die lange geltende Grenze von 1750 für moderne Editionen in Fraktur editionsphilologisch nicht zu begründen wäre. Auch wenn man zu den Beiträgen Kleinigkeiten ergänzen, ihnen widersprechen oder sie zumindest einschränken möchte, 2 so sind die Beiträge aber jedem Herausgeber neugermanistischer kritischer Editionen ans Herz zu legen – die eine oder andere Peinlichkeit oder Inkonsequenz könnte so vermieden werden.

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Fazit

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Der optisch ansprechende Band – bei dem Thema sollte man nichts anderes erwarten – liefert interessante Einzelbetrachtungen, beispielhafte Interpretationsansätze und Meinungen zur weiterführenden Diskussion. Er bietet einen Überblick über verschiedene Epochen der Neuzeit und lenkt dabei sowohl sein Augenmerk auf Besonderheiten typographiebewusster Autoren als auch auf mehr oder minder intuitiv gehandhabte typographische Entscheide der Autoren, Herausgeber und Verlage vom 16. bis ins 20. Jh. Neben deutschen Texten werden auch lateinische, englische und russische behandelt, im Artikel von Bernhard Metz zudem auf italienische und spanische Beispiele zurückgegriffen, womit einem allzu starren Blick allein auf die deutschsprachige Tradition erfreulicherweise aus dem Weg gegangen wird.

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Es wäre allenfalls interessant gewesen, den Literaturbegriff noch weiter zu fassen und neben Missalen weitere Alltags- und Gebrauchs- oder auch Unterhaltungsliteratur in den Band mit aufzunehmen, zeigen doch gerade Zeitungen, Kalender, sogar der Akzidenzdruck eine unbefangene Aneignung typographischer Hilfsmittel, und gerade in dem dort häufig unbeholfenen Umgang mit den zur Verfügung stehenden Schriften lassen sich die historisch möglichen Spielräume ablesen. Erhellend wären andere Verarbeitungsformen von Literatur (Musiklibretti oder sogar -partituren) mit aufzunehmen; kontrastierend wären auch außereuropäische Schriftsysteme interessant gewesen, doch alles dies hätte sicherlich den Rahmen gesprengt.

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Ein letztes Manko möchte der Rezensent, zu alt für eine 4pt-Schrift und zu jung für eine Lesebrille, allerdings anmerken: Die Illustrationen hätte man sich an einigen Stellen größer gewünscht, allenfalls nur als gut lesbare Detailausschnitte. Weniger ist hier, wie so oft, mehr.

 
 

Anmerkungen

Der Begriff nach Susanne Wehde: Typographische Kultur. Eine zeichentheoretische und kulturgeschichtliche Studie zur Typographie und ihrer Entwicklung. Tübingen: Niemeyer 2000, S. 119–133.   zurück
So wäre bei Quellen des alemannischen Sprachgebiets noch im 16. und bis ins 17. Jh. dialektaler Einfluss möglich und somit längst nicht immer zu entscheiden, ob eine e-Überschreibung von u als hochdeutscher Umlaut (ü), alemannischer Diphthong (ue) oder sogar alemannischer umgelauteter Diphthong (üe) zu deuten wäre; Nasalstriche müssen besonders im 17. Jh. behutsam nach einer eingehenden Analyse des Sprach-/Rechtschreibstandes aufgelöst werden, vgl. bspw. meine Rezension von Johann Rist / Johann Schop: Himmlische Lieder (1641/42). Ed. Johann Anselm Steiger/Konrad Küster. Berlin 2012. In: Editionen in der Kritik. Editionswissenschaftliches Rezensionsorgan 6 (2013). S. 235–240, hier S. 237.   zurück