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Exil(vor)geschichte als Institutionengeschichte.

Der abschließende Band von Hans-Albert Walters Grundlagenwerk zur Geschichte der deutschen Exilliteratur.

  • Hans-Albert Walter: Deutsche Exilliteratur 1933-1950. 1.2 Weimarische Linksintellektuelle im Spannungsfeld von Aktionen und Repressionen. Stuttgart: J. B. Metzler 2017. 755 S. Gebunden. EUR (D) 99,95.
    ISBN: 978-3-476-00614-1.
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Hans-Albert Walter, der am 22. Februar 2016 verstarb, war einer der besten, wenn nicht gar der beste Kenner des deutschen literarischen Exils während der NS-Zeit und wie kein anderer dafür prädestiniert, eine umfassende Geschichte der Exilliteratur dieser Jahre zu schreiben. Auf zehn Taschenbuchbände war sie zunächst angelegt, als sie 1972 im Luchterhand Verlag gestartet wurde (erschienen sind davon 1972 und 1974 die Bände 1: Bedrohung und Verfolgung bis 1933; 2: Asylpraxis und Lebensbedingungen in Europa; 7: Exilpresse I). Bei einem notwendigen Wechsel zum Metzler Verlag 1978 wurde das Konzept überarbeitet und die Zahl der Bände auf sieben reduziert.

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Von vornherein war geplant, den Zeitrahmen nicht auf die NS-Zeit zu beschränken, sondern neben der unmittelbaren Nachkriegszeit auch die Vorgeschichte des Exils, die richtigerweise bis auf den Ersten Weltkrieg und dessen Vorgeschichte zurückgreift. Ohne eingehende Untersuchung der Kontinuitäten und Bruchlinien, die die politische Entwicklung vom wilhelminische Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik prägten, bliebe allzu vieles unverständlich, was zum Verständnis der Geschichte des Exils unerlässlich ist.

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Bislang lagen die Bände Bd. 1,1 (Die Mentalität der Weimardeutschen / Die »Politisierung« der Intellektuellen; 781 S., 2003); Bd. 2 (Europäisches Appeasement und überseeische Asylpraxis; 589 S., 1984), Bd. 3 (Internierung, Flucht und Lebensbedingungen im Zweiten Weltkrieg; 631 S., 1988) und Bd. 4 (Exilpresse; 842 S., 1978) vor. Doch nicht die unumgängliche Verringerung des Gesamtplans von sieben auf vier Bände machte dieses Werk bislang zum Torso, sondern vor allem der fehlende Teilband 1,2, den Walter bis zu seinem Tod trotz schwerer gesundheitlicher Beeinträchtigung noch nahezu vollständig abschließen konnte.

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Während der Teilband 1,1 sich auf die mentalen und politischen Voraussetzungen der Vorgeschichte des Exils konzentrierte, liegt der Akzent des Teilbands 1,2 auf der im engeren Sinn das literarische Feld betreffenden Entwicklungsgeschichte. Dies geschieht nicht dergestalt, dass eine Fülle von biographischen und werkbiographischen Daten und Fakten zusammengetragen worden wäre, die das Verständnis von strukturellen Kontinuitäten und Diskontinuitäten auch kaum befördert hätten. Walters Analyse gilt vielmehr institutionellen Schnittstellen der literarischen Kommunikation: den Theatern, der Presse, den Verlagshäusern, den literarischen Verbänden und Vereinigungen, und hier zeigt er sowohl im Überblick als auch exemplarisch, wie sich allgemeine mentale und politische Prägungen und Entwicklungen auf programmatische Entscheidungen bis hin zur konkreten literaturpolitischen Ereignisgeschichte auswirkten.

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Vorbereitet wird diese Darstellung in Kapitel 1 durch einen Blick auf die wichtigsten politischen Großereignisse (Abschaffung der Monarchie und Errichtung einer parlamentarischen Demokratie in Deutschland; Gründung der Sowjetunion) und ihrer Wahrnehmung durch die Zeitgenossen. Die Differenzen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten, die in der Phase der Agonie der Weimarer Republik durch die kommunistische Sozialfaschismusthese kuriose Züge annahmen, gewinnen hier bereits Kontur.

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Die entscheidende, insgesamt zugrundeliegende These lautet, dass sich in der Weimarer Republik ideologische Prägungen, die im Kaiserreich erworben wurden, noch vielfach bemerkbar machten. Die Richtigkeit dieser These belegt dann die überaus ausführliche Schilderung zahlloser Zensurmaßnahmen, die die Kapitel 2 und 3 und damit etwas mehr als ein Drittel des gesamten Buchs füllen.

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Demgegenüber erscheint der Abschnitt über die Theater der Weimarer Republik auf den ersten Blick unverhältnismäßig kurz. Beachten muss man allerdings, dass wesentliche Ereignisse des Musiktheaters – darunter die Uraufführung des »Petruschka«-Balletts von Igor Strawinsky 1922 in Köln, die Uraufführung der Oper »Wozzek« von Alban Berg 1925 in Berlin, die Uraufführung von Ernst Kreneks Oper »Jonny spielt auf« 1927 in Leipzig – schon zu Beginn des Kapitels 3 zur Sprache kommen. Eine noch weitergehende Berücksichtigung von Theaterereignissen außerhalb der Reichshauptstadt (etwa die Absetzung von Zuckmayers Bearbeitung von Terenz’ »Der Eunuch« 1923 in Kiel oder der Skandal um die Premiere von Brechts »Baal« im selben Jahr in Leipzig) wären zwar geeignet gewesen, Walters Hauptthese weiter zu stützen. Sie hätten darüber hinaus auch dazu verholfen, die höchst unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungsgeschwindigkeit von Reichshauptstadt und »Provinz« in den Blick zu nehmen, die in einer von Ernst Bloch 1935 in seinem Buch »Erbschaft dieser Zeit« konstatierten Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ihren vielsagenden Ausdruck fand. Aber der Materialfülle hat Walter hier verständlicherweise am Ende Tribut gezollt. Um dem Thema wirklich gerecht zu werden, hätten viel zu viele lokale Besonderheiten berücksichtigt werden müssen und den Darstellungsrahmen mit Sicherheit gesprengt.

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Gut proportioniert ist der dann folgende Überblick über die Entwicklung der Literatur-, Zeitschriften- und Zeitungsverlage (Malik, Rowohlt, Kiepenheuer, S. Fischer, Frankfurter Zeitung, Mosse und Ullstein) in den Kapiteln 4.2. bis 4.5., der dann in den Kapiteln 6.5. und 6.6. eine Fortsetzung erfährt, während die Geschichte der sogenannten Gleichschaltung der Schriftstellerorganisationen in Kapitel 6.4. an die Geschichte des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller in Kapitel 4.6. anschließt.

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Dazwischen wird das Ende der Weimarer Republik nicht mit dem üblichen Fokus auf die Ende 1929 einbrechende Weltwirtschaftskrise und ihren ökonomischen und politischen Folgen, sondern anhand der Einschätzungen und Fehleinschätzungen des Zeitgeschehens durch Schriftsteller, vor allem aber literarische und politische Publizisten geschildert. Wie in allen anderen Abschnitten auch, ist Walter – erfrischend und immer wohlbegründet – wertungsfreudig. Aus seiner Skepsis gegenüber der radikaldemokratischen Haltung, die von Tucholsky und Ossietzky in der Weltbühne vertreten wurde, macht er ebenso keinen Hehl wie aus seiner Wertschätzung Leopold Schwarzschilds, der das Konkurrenzunternehmen »Das Tage-Buch« verantwortete.

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Insgesamt ergibt sich auch bei Walter die übliche Dreiteilung der Geschichte der Weimarer Republik in eine Anfangsphase (1918-1923), eine relativ stabile Hochphase (1924-1929) und eine Endphase (1930-1933), die auch die historischen und literaturwissenschaftlichen Standardwerke üblicherweise vornehmen, er meidet aber in der Literaturwissenschaft übliche Epochenbegriffe wie »Expressionismus« oder »Neue Sachlichkeit« und bindet seine Darstellung auch nicht schematisch an die Zäsuren der Zeitgeschichte. Dadurch gelingt es ihm immer wieder, deutlich zu machen, dass sich das Verhalten der Akteure im literarischen Feld eben auch nicht unmittelbar an diesen Zäsuren ausrichtete, sondern wir es mal mit politischen Antizipationen, mal mit Beharrungsversuchen zu tun haben, die meist gar nicht politisch, sondern häufig schlichtweg von ökonomischen Überlegungen bestimmt waren. Kontinuitäten und schleichender Wandel werden dadurch viel stärker akzentuiert als bei einer strikten Ausrichtung an den üblichen politischen oder literarischen Wegmarken.

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Mit Ausnahme von Heinrich Hauser bleiben konservative, konservativ-revolutionäre bzw. nationalrevolutionäre Autorschaftsprofile durchgängig unberücksichtigt, obwohl auch »linke Leute von rechts«, wie Kurt Hiller sie in der Weltbühne genannt hat, nach Hitlers Machtübernahme ins Exil gingen, so neben Hauser zum Beispiel Karl-Otto Paetel. Rechtfertigen lässt sich diese Entscheidung jedoch dadurch, dass die Zahl der dergestalt klassifizierbaren späteren Exilschriftsteller marginal war und sie ausschließlich politische Gruppenzuordnungen erlauben, die für die Geschichte des literarischen Exils in toto nur von geringer Bedeutung sind.

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Walter nimmt eine ganze Reihe von bemerkenswerten Neubewertungen vor, namentlich im Hinblick auf die Geschichte der »Frankfurter Zeitung« und die Geschichte der Verlage Mosse, Ullstein und S. Fischer. Sein methodisches Vorgehen ist dabei zwar relativ simpel, denn er wertet im wesentlichen vergleichend gedruckte Quellen aus, aber das geschieht mit äußerst wachem Gespür für Widersprüche und Ungereimtheiten und ist in vergleichbarer Form bislang, so seltsam das auch anmuten mag, tatsächlich noch nicht geleistet worden.

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Walters kompilierende Rekapitulation und kritische Neubewertung dieser Quellen vertieft und differenziert den bisherigen Stand der Forschung nicht nur, sondern revidiert ihn zum Teil markant. Diese akribisch recherchierte und bei aller stupenden Detailgenauigkeit außerordentlich gut lesbare Darstellung dürfte daher Anlass und Ausgangspunkt von zahlreichen weiteren Forschungsarbeiten sein.