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Physik und Literatur im 20. Jahrhundert

Ein wissensgeschichtliches Panorama

  • Clemens Özelt: Literatur im Jahrhundert der Physik. Geschichte und Funktion interaktiver Gattungen 1900-1975. Göttingen: Wallstein 2018. 472 S. EUR (D) 39,00.
    ISBN: 978-3-8353-3327-7.
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In seiner breit angelegten Dissertation »Literatur im Jahrhundert der Physik. Geschichte und Funktion interaktiver Gattungen (1900–1975)« entwirft Clemens Özelt ein Panorama der Zusammenhänge von Literatur und Physik im 20. Jahrhundert. Er liefert damit einen wichtigen Beitrag zum Forschungsfeld Wissen und Literatur. 1 Özelt setzt sich dabei von der bestehenden Forschung mit dem Anspruch ab, übergreifend repräsentative Strukturänderungen erfassen zu können. Im Gegensatz zu Arbeiten wie Elisabeth Emters Literatur und Quantentheorie 2 ist der Anspruch dabei, sich nicht auf ein bestimmtes Feld der Physik zu beschränken.

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Physik und Weltbildrelevanz

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Ausgangspunkt ist der Befund der herausgehobenen Rolle der Physik für das 20. Jahrhundert, ihrer besonderen »Weltbildrelevanz« 3 . Daraus ergibt sich die Fragestellung, inwiefern diese Relevanz der Physik in der Literatur erfasst und diese somit von den physikalischen Entwicklungen mitgestaltet wurde. Es stellt sich im Anschluss die Frage, wie trotz des Befundes »gegenseitigen Nicht-mehr-Verstehens« 4 die Wechselbeziehung methodisch beschrieben werden sollte. Özelt entscheidet sich hier für eine »funktionsgeschichtliche Gattungsanalyse« (S. 9) in Anschluss an die Arbeiten Wilhelm Voßkamps. Den Ansatzpunkt für die disziplinenübergreifende Analyse findet er in Jürgen Links Interdiskursanalyse. Um die Beschränkung auf Symbole als Einzelelemente zu vermeiden, entwickelt er daraus den Begriff der »›interaktiven Gattung‹«(S. 9), der methodisch die Antwort auf die Frage ermöglich soll, »inwiefern die Physik als ›Literaturreformerin‹ des 20. Jahrhunderts« (S. 9) bezeichnet werden kann. Interaktive Gattungen sind dabei als »Textformen, [...], die als Knotenpunkte wiederholter Austauschbeziehungen zwischen zwei Feldern fungieren« (S. 20), gefasst. Die Interaktionsprozesse werden konkret materiell verankert, etwa wenn Physiker und Autorinnen/Autoren am gleichen Publikationsort Texte veröffentlicht haben. Das Interesse gilt dezidiert auch der »feldübergreifende[n] Rezeption« (S. 24), also konkret der Frage, ob literarische Texte auch von Physikern rezipiert wurden. In diesem Zusammenhang verortet sich Özelt in einer sozialgeschichtlich orientierten Literaturwissenschaft. Gemeint ist damit die über die Literatur hinausgreifende Funktionalisierung von Gattungen, etwa wenn die Einstein-Biographie Philipp Franks sich formal an einem Roman Max Brods orientiert. Geordnet ist die Arbeit entsprechend dieser Programmatik nach den Gattungen Roman, Dialog, Brief, Tagebuch und Tragödie, für die für bestimmte Zeiträume eine jeweilige Gattungskonjunktur konstatiert wird. Insgesamt ist damit der Anspruch verbunden, gleichzeitig den Verlauf der Zunahme und Abnahme des literarischen Interesses an der Physik im 20. Jh. nachzuzeichnen.

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Eponymroman und Physiker

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Das erste Kapitel der Arbeit, »Schwellenfiguren. Der Physiker im Eponymroman (1902–1923)«, folgt der These, dass in der untersuchten Konstellation der Aufschwung der Physik zur »Jahrhundertwissenschaft« (S. 33) zum erstenmal literarisch erfasst wird. Hier entstehe der Physiker als neuer Figurentypus. Dabei ist, chronologisch aus der Reihe fallend, ein kurzer Bezug auf Musils Mann ohne Eigenschaften vorangestellt. Dieser soll als Beispiel für die literarische Produktivität, die aus der Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Biographien hervorgeht, dienen. Das Verhältnis von Roman und Biographie wird als Austauschprozess konturiert, was es ermöglicht, die untersuchten Romane in ein Untersuchungsfeld mit späteren Physikerbiographien zu stellen. Übergreifend ist das Kapitel durch das Konzept des Eponymromans strukturiert. Dieses bezieht sich darauf, dass Physikernamen häufig nur als Eponyme ihres Beitrags zur Wissenschaft auftreten, etwa in der ›Galilei-Transformation‹. Die untersuchten Romane seien zusammen mit dem Figurentyp des Physikers um solche Eponyme herum organisiert. Zurückgegriffen wird auch auf Husserls Krisis der europäischen Wissenschaften, in der dieser die »Formelwelt« 5 insbesondere der Physik als sich zunehmend von der Lebenswelt entfernend darstellt.

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Kontextualisierend wird Prag um 1900 als Zentrum des Austauschs von Physik und Literatur konturiert, fokussiert auf die Rezeption von Johannes Kepler und Tycho Brahe. Dort habe es einen Topos der »›phantastische[n] Wissenschaft‹«(S. 67) gegeben, konnotiert etwa mit den Horoskopen Brahes, ein Nebeneinander überholter und aktueller physikalischer Wissensbestände. Außerdem war Prag ein wichtiger Wohnort und Treffpunkt von Physikern, insbesondere Ernst Machs, in dessen Arbeiten die Historisierung der Physik eine wesentliche Rolle spielt. In diesen Kontexten wird Max Brods Tycho Brahes Weg zu Gott als Vorgeschichte eines Eponyms, nämlich der ›Kepler’schen Gesetze‹, interpretiert. Die Gegenüberstellung von Tycho Brahe und Johannes Kepler in diesem Roman erscheint als die Entwicklung einer »Durchstreichung des Biographischen« (S. 87) hin zur Formelwelt der Physik. Im Kontext von Tycho Brahes Weg zu Gott werden die (deutlich später publizierten) Einstein-Biographien von Philipp Frank und Rudolf Kayser situiert. Die formale Anlehnung von Franks Einstein-Biographie an Brods Roman lässt sich über direkte Zitate und ähnliche Plotstrukturen nachweisen.

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Die Interpretation von Ernst Weiß’ Roman Die Galeere stellt die physikalische Forschung des Protagonisten ins Zentrum, der sich mit Röntgenstrahlen und Phänomenen der Strahlung auseinandersetzt. Die eponymische Verewigung der Hauptfigur in der Physikgeschichte mit dem »Gyldendalsche[n] Phänomen« 6 führt in die Krise. Dabei ist der Roman durchzogen von der Metaphorik der entsprechenden physikalischen Begriffe, etwa der Röhre. Bei Leo Perutz’ Der Meister des Jüngsten Tages schließlich, für dessen Plot die fiktive Farbe ›Drommetenrot‹ ausschlaggebend ist, stellt Özelt einen zwischen physikalischer Wissenschaft und Phantastik changierenden Möglichkeitsraum fest.

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Im ersten Kapitel fällt bereits die Tendenz der Arbeit zu achronologischen Verzweigungen auf, wodurch die jeweiligen zeitlichen Eingrenzungen geöffnet werden, etwa der Einsatz der Argumentation von Musils Mann ohne Eigenschaften her. Dadurch verschwimmen allerdings die Grenzen zwischen den selbst gesetzten Schwerpunkten: Wenn es gemäß der Argumentation des dritten Kapitel gerade Briefe und Briefanthologien sind, die in den 1930ern als interaktive Gattung des Austausches zwischen Literatur und Physik erscheinen, so fragt sich, wie dann der vorher als Physikerroman deklarierte Großroman Musils aus derselben Zeit zu verorten ist. Sind die Einzelanalysen in sich überzeugend, so stellt sich zudem die Frage der Repräsentativität der untersuchten Texte, die doch sehr heterogen erscheinen: Reichen diese drei Beispiele, um den Eponymroman zur dominierenden interaktiven Gattung physikalischen Wissens am Anfang des 20. Jahrhunderts zu erklären?

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Wenden nach Kopernikus

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Im zweiten Teil der Arbeit, »Nachkopernikanische Wenden. Weltbilder im Dialog (1918–1939)«, steht die Gattung des Dialogs im Vordergrund. In Rekurs auf Galileis Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme wird die Aktualisierung dieser Form im genannten Zeitraum untersucht. Die öffentliche Funktion dieses Zusammenhangs beschreibt Özelt anhand eines Gerichtsprozesses gegen den österreichischen Politiker Friedrich Adler, der sich in seiner Verteidigung auf Galileo beruft. In der Popularisierung der Relativitätstheorie durch Albert Einstein selbst werde die Dialogform ebenfalls aktualisiert. Einsteins Perspektive wird als »relativistischer Blickwechsel« (S. 155) gefasst. Dabei hebt Özelt die Funktion der Dialoggattung für Gedankenexperimente hervor, die sich besonders für die Darstellung der Relativitätstheorie und ihrer Folgen für das Denken eignet.

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Bertolt Brechts dialogische Arbeiten werden unter dem Schlagwort eines »sozialistische[n] Blickwechsels« (S. 163) zusammengefasst. Im Zentrum der Analyse steht Brechts Der Messingkauf, der über den zeitgenössischen Renaissancismus eingeführt wird. Der fragmentarisch gebliebene Text rekurriert auf die Dialogform, in der wiederum der Bezug auf Galilei aufscheint. Am Ende des Kapitels steht Alfred Döblin im Zentrum. In dessen Text Der Einfluß der Gestirne auf das deutsche Theater wird deutlich, dass Döblin die Funktion der Physik als weltbildrelevante Leitwissenschaft in Frage stellt. Diese Position wird in einem Dialog im Kern des Textes zwei diskutierenden Physikern in den Mund gelegt. Vor diesem Hintergrund des skeptischen Blickes auf die öffentliche Funktion der Physik stellt Özelt Döblins »[k]opernikanische Konterrevolution« (S. 190) anhand einer von der Dialogform beeinflussten Passage aus Der neue Urwald (entstanden zwischen 1935 und 1937, erschienen 1948) dar. Die faustartige Figur Twardowski ruft in diesem dialogartigen Text Kopernikus, Galilei und Giordano Bruno vor das Weltgericht, um ihnen die Konsequenzen ihrer Forschungen vorzuhalten. Daraus wird schließlich abgeleitet, dass »Döblins kopernikanische Konterrevolution die Galilei’sche Tradition« (S. 199) überwunden habe.

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Auch im zweiten Teil irritieren die Zeitsprünge zuweilen, so der argumentativ wichtige Rekurs auf Einsteins Vorwort von Galileis Dialog von 1952. Noch grundsätzlicher stellt sich die Frage, wie die argumentatorische Funktion stark biographisch orientierter Feststellungen methodisch einzuschätzen ist, wenn etwa betont wird, dass Einsteins Galilei-Bild maßgeblich durch das ihm von Brecht zugesandte Manuskript des Leben des Galilei geprägt wurde. In der Brecht-Interpretation wird deutlich, dass die Untersuchung zuweilen die Spezifika ihres Gegenstandes aus den Augen verliert: Der Nachweis eines Rekurses auf »naturwissenschaftliche Wahrnehmungsmodi« (S. 176) in Brechts Messingkauf erscheint zwar plausibel, aber weder aus den zitierten Passagen noch aus der Interpretation lässt sich eine speziellere Bezugnahme auf die Physik ableiten. Im Döblin-Abschnitt scheint zudem Döblins Perspektive mit der Perspektive der Figur Twardowski enggeführt zu werden, ohne die Möglichkeit einer vermittelten oder ironischen Darstellung von dessen Position innerhalb des Romangefüges mitzubedenken, wodurch sich die Deutung auf eine ganz klare Positionierung hin relativieren ließe.

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Die Briefform als Gattung des Austausches

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Das dritte Kapitel, »Humanismus als Haltung. Briefe und Briefanthologien (1932–1943)«, geht auf Verhandlungen physikalischer Themen in der Briefform ein. Die Form des Briefes sei nach 1933 aufgewertet worden. Dabei bewegt sich der Analysefokus von selbstverfassten zu herausgegebenen Briefen. Das Kapitel beginnt mit der Untersuchung des Briefwechsels Warum Krieg? von Albert Einstein und Sigmund Freud. Darin wird deutlich, dass der Versuch des Dialogs zu Formen des Scheiterns führen kann, wie anhand eines monologischen Briefes Sigmund Freuds herausgestellt wird. Weitere untersuchte Texte sind Briefe aus Einsteins Mein Weltbild, die von Walter Benjamin in seiner Sammlung Deutsche Menschen ausgewählten Briefe aus der deutschen Geistesgeschichte und die 1943 von Max Bense publizierte Briefsammlung Briefe großer Naturforscher und Mathematiker. Anhand dieser Beispiele wird die Rolle des Briefes als »intellektuelle[r] Gebrauchsform« (S. 209) im untersuchten Zeitraum deutlich. Im Hinblick auf das übergreifende Interesse führt das präsentierte Material zu nicht explizit gemachten, aber zentralen methodischen Fragestellungen: Wie ist das Verhältnis des forschenden zum sich öffentlich äußernden Physiker zu bewerten? Wie repräsentativ sind große Forscherpersönlichkeiten wie Einstein, die ihre Ergebnisse popularisieren und sich parallel zu ihrer Forschung in gesellschaftliche Debatten einmischen? Auch bei der Briefgattung stellt sich zudem die Frage, inwiefern diese tatsächlich die interaktive Gattung physikspezifischer Diskurse ist, oder ob es sich etwa bei Benses Briefsammlung eher um Material zu den Naturwissenschaften im Ganzen handelt, in dem dann naheliegenderweise auch Briefe von Physikern vorkommen.

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Das Tagebuch als Form des Atomzeitalters

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Im vierten Kapitel geht es um »Tagebücher des Atomzeitalters (1945–1958)« (S. 257). Özelt postuliert, dass der privilegierte Ort der literarischen Rezeption des Atombombenabwurfs in Hiroshima die Tagebücher prominenter zeitgenössischer Autoren seien. Die eigentlichen Tagebuchanalysen sind gerahmt durch die skizzierte Rezeption des Ereignisses in zeitgenössischen deutschsprachigen Zeitungen und im populärwissenschaftlichen Diskurs über Physik. Dabei geht Özelt auch auf die Problematik der Erzählung oder Dramatisierung eines physikalischen Ereignisses ein, die in Anna Seghers Text Zwei Menschen reflektiert werde. Der Autor macht deutlich, dass die Physik ihr Prestige als Wissenschaft in den ersten Nachkriegsjahren noch nicht verloren hatte. Vielmehr wurden einige Physikerinnen und Physiker sogar zu identifikatorischen Bezugsgrößen. In Bezug auf die Kernspaltung wurde parallel dazu die Möglichkeit von deren friedlicher Nutzung zur Energiegewinnung betont.

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Die Tagebuchanalysen werden in drei Gruppen gegliedert: Es stehe bei Brecht und Frisch der Dialog der Tagebücher mit zeitgleich erschienen Texten im Vordergrund, Canetti und Jünger verorteten Hiroshima in ihren Tagebüchern als Anfang einer neuen Zeitrechnung, während Schmidt und Anders das Tagebuch paradigmatisch als »Gattung der atomaren Bedrohung« (S. 260) inszenierten. Bei der Brecht-Interpretation wird vor allem auf Brechts Umarbeitung des Vorworts von Leben des Galilei eingegangen, in das der Atombombenabwurf eingearbeitet ist (S. 288). In Bezug auf Frischs Tagebücher steht der Zusammenhang zwischen der Reflexion der Atombombentests über dem Bikini-Atoll und Frischs Text Die chinesische Mauer im Vordergrund.

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Bei Canetti, so Özelts These, ruft die Beschäftigung mit Hiroshima eine Annäherung seiner Aufzeichnungen an die Tagebuchform hervor. Der Atombombenabwurf stelle diese Gattung allerdings grundsätzlich in Frage, da damit »der Traum von der Unsterblichkeit« [S. 304, zit. Canetti] in Frage gestellt sei. Gegenüber diesen Zusammenhängen wird anhand der Analyse von Ernst Jüngers Strahlungen deutlich, wie die Begrifflichkeiten der Atomphysik literarisch produktiv gemacht werden können: Jünger weitet etwa den Begriff der elektromagnetischen Welle aus, um Relationen anderer Seinsbereiche zu metaphorisieren. Es wird deutlich, dass Jünger eine Poetik des Tagebuches entwirft, die dieses besonders geeignet macht, um Zeiten katastrophaler Umbrüche zu protokollieren. Das gehe einher mit einer Engführung von moderner Physik und Religiosität in der Nachkriegszeit.

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Arno Schmidts Schwarze Spiegel seien ein Text, in dem der Zusammenhang der Atomkatastrophe und der Tagebuchform über die Datierungen hergestellt würde. In der Möglichkeit einer auch auf physikalisches Wissen gestützten wissenschaftlich exakten Vorhersage der Zukunft ergebe sich so auch die Möglichkeit der Beherrschung der problematischen Folgen der Atomphysik. Diese Möglichkeit verharre jedoch im Unsicheren. Günter Anders’ Der Mann auf der Brücke schließlich beschäftige sich mit in den anderen Tagebuchbeispielen ausgelassenen Themenfeldern: Der Konfrontation mit den Opfern, der Reflexion über das nachträglich geformte Sehen von Hiroshima und der damit verbundenen Frage nach der Beobachtbarkeit. Der eigenwillige Formenreichtum von Anders’ collageartigem Text wird so zur Reflexion über die Epistemologie der Atomkatastrophe. Dabei zerfalle gemäß Anders Hiroshima in zwei Orte: den seiner Allgegenwärtigkeit und den seiner spezifischen Präsenz. Anders entwickele aus grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Raum im Atomzeitalter das Ziel funktionierender Übersetzungsnetzwerke. Diese epistemologischen und zeichentheoretischen Überlegungen münden schließlich in die kritische Analyse des Stellenwertes von Formeln, Tabellen und Statistiken in der Diskursivierung des Atombombenabwurfes. Die positive Rezeption durch die Physiker Max Born und Ernst Schrödinger zähle zugleich »zu den wenigen Dokumenten, in denen renommierte Atomphysiker die Leistung literarischer Texte im Kontext der atomaren Bedrohung beschrieben haben.« (S. 346)

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Insgesamt lassen die gewählten Beispiele es sehr plausibel erscheinen, dass das Tagebuch eine besonders geeignete Form der Reflexion des Hiroshima-Angriffes sei. Gattungstypische formale Elemente wie die Datierung treten dabei in je spezifischer Form in Wechselwirkung mit diesem Themenkomplex. Gleichzeitig fragt sich, ob weitere methodische Binnendifferenzierungen gerade in diesem Abschnitt eventuell die Kontur des Forschungsgegenstandes noch deutlicher gemacht hätten. Die weiterführende Fragestellung würde dann etwa folgendermaßen lauten: In welchem Verhältnis stehen das theoretisch formulierte Wissen der Atomphysik, das vor allem in Zeitungen und anderen öffentlichen Medien transportierte Wissen um Hiroshima und das in den Tagebüchern geformte literarische Beobachtungswissen zueinander?

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Physiker-Tragödien

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Im fünften Kapitel des Buches, »Fallszenarien. Die Tragödien der Physik (1955–1975)« (S. 351) werden Theaterstücke von Carl Zuckmayer, Heinar Kipphardt, Frank Zwillinger, Paul Dessau und Karl Mickel und Friedrich Dürrenmatt analysiert.

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Diese Theaterstücke reflektieren den rasanten Verlust an Prestige, den die Physik in der Öffentlichkeit seit den 1950ern erfahren hat. Das Konzept der Fallszenarien entlehnt Özelt Juliane Vogel, 7 damit sind durch Fallbewegungen strukturierte Handlungsabläufe gemeint. Diese Konnotation wird auf die physikalische Semantik des Wortes, nämlich die Fallgesetze bezogen. Die diagnostizierte Konjunktur der Gattung der Tragödie Mitte der 1950er führt Özelt auf die öffentlich ausgetragenen Probleme der Ethik von Atomphysikern und Einsteins Tod 1955, dem eine Diskussion über dessen Beitrag zur Atombombe folgt, zurück. Mögliche Fehltritte der Atomphysiker, verbunden mit der Schuldfrage legten die Form der Tragödie als personenorientierte Suche nach den Ursachen nahe. Daher plädiert Özelt dafür deren »paradoxe Attraktivität, [...], die gerade aufgrund der theoretisch immer wieder proklamierten Unbrauchbarkeit als Negativfolie präsent gehalten wird« (S. 361), für die Forschung zu reaktivieren. Eine symptomatische Wende zum Tragischen zeige sich in den verschiedenen Fassungen von Brechts Drama Leben des Galilei, das als zentraler Prätext der untersuchten Dramen eingeführt wird. Diesen sei gemeinsam, dass nicht mehr der Tod des Protagonisten, sondern dessen Verantwortung für den Tod vieler anderer Menschen den Kern des Tragischen bilde. Die untersuchten Dramen werden dabei in Charaktertragödien (Das kalte Licht, In der Sache J. Robert Oppenheimer) und Typentragödien (Kettenreaktion, Einstein, Die Physiker) unterteilt. Der Anspruch der Analyse ist es dabei, die Unterschiede in den vier deutschsprachigen Staaten durch die Einbeziehung der jeweiligen Uraufführungen mitzuberücksichtigen.

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Zuckmayers Das kalte Licht, dessen Protagonist deutlich an den Atomspion Klaus Fuchs angelehnt ist, schließt dabei an Schillers Tragödien an und ist über die traditionelle Semantik individueller Willensfreiheit codiert. Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer zeigt sich demgegenüber als deutlich progressiver – was sich auch an der Regie Erwin Piscators bei der West-Berliner Uraufführung manifestiert. Gegenüber der bisherigen Interpretation des Stückes im Kontext des Dokumentartheaters hebt Özelt den Tragödiencharakter des Textes hervor. Das werde besonders deutlich in der Schlussszene des Stückes, in der die Plädoyers der Anwälte auf die Semantik der Tragik zugreifen, um dessen Widersprüchlichkeit fassen zu können und auch Oppenheimer seinen eigenen Fall im Schlussplädoyer zur Wissenschaftlertragödie mache. In der Oppenheimer-Biographik werde fast durchgehend Oppenheimers Feststellung, dass Kipphardts Drama »turned the whole damned farce into a tragedy« (zit. Özelt S. 385) zitiert. Diese Tatsache integriert Özelt in sein Konzept einer Interaktionsgeschichte: Die Physikerbiographen haben das Angebot des Tragischen durch Kipphardt dankbar in ihre Darstellungsformen aufgenommen.

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Frank Zwillingers unaufgeführtes Drama Kettenreaktion wird als Bindeglied zwischen Charakter- und Typentragödie gelesen. Gleichzeitig zeugt es von der fehlenden Anschlussfähigkeit der Erneuerung der klassischen Tragödientradition. Kettenreaktion ist als intermediales Stück angelegt, gemäß Zwillingers Konzept des sogenannten planetarischen Theaters. Anders als die anderen Stücke umfasst es weite räumliche und zeitliche Dimensionen und ist als Geschichtstheater konzipiert, das in vier Zyklen metaphorisch von der Atomspaltung zur Spaltung der Herzen führt. Özelt konzentriert sich in seiner Lektüre auf die »kollektive Forschertragödie« (S. 389). Gleichzeitig ist das Stück Teil der Interaktionsgeschichte von Physikeraussagen und Literatur, wie am Beispiel von Otto Hahn gezeigt wird. Die Einstein-Oper von Paul Dessau und Karl Mickel dagegen wird als Kombination von Charaktertragödie und Typenkomödie gelesen, in der parallel zu Einsteins Biographie immer wieder die komische Figur Hans Wurst auftritt. Hans Wurst repräsentiere dabei im Finale die von den Konsequenzen des Atomzeitalters betroffenen Menschen, die sich im sprachlich-performativen Bild eines Tanzes auf des Messers Schneide artikuliere. Dürrenmatts Die Physiker schließlich wird als Typentragödie gelesen. Auch hier plädiert Özelt gegen die überwiegende Betonung des Komischen in der Forschung für den Fokus auf das Tragische, während er die Gattungsbezeichnung »tragische Komödie geradezu irreführend« (S. 405) findet: Das Komische erweitere hier die Tragödie über ihre Grenzen hinaus und nicht umgekehrt.

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Insgesamt wird über die Einzelinterpretationen deutlich, wieso die spezifische Frage nach der Verantwortung der Atomphysiker für die Folgen ihrer Handlungen zu einer Reaktivierung der klassischen Tragödienform führt, die dann aber jeweils an ihre Grenzen stößt und auf unterschiedliche Weise über diese hinausgeht. Insofern erscheint es plausibel, statt vom Ende der Tragödie von einer »produktive[n] Krise der Tragödie« (S. 405) zu sprechen. In der Interpretation nur gestreift wird die jeweilige mediale Form der Stücke. Die auffällige Heterogenität der Dramen in dieser Hinsicht, von den eher konventionellen, fünfaktigen Tragödien über Zwillingers multimedial konzipiertes Stück bis zur Einstein-Oper eröffnet hier einen Fragehorizont im Hinblick auf den untersuchten Themenkomplex, der sich weiter verfolgen ließe.

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Im Hinblick auf die Einbindung des Physikalischen in die Stücke wird die Parallelisierung von physikalischer und dramatischer Fallhöhe, wie sie sich in Brechts Leben des Galilei findet, am Anfang »als wichtigste[r] Analyseparameter« herausgearbeitet. Dieser Konnex wird aber in den weiteren Interpretationen eher sporadisch aufgegriffen. Auf der Ebene der Interaktion von Literatur und Physik werden vor allem die – laut Özelt nicht allzuhäufigen – belegten Reaktionen von Physikern auf die untersuchten Stücke angeführt. Bei der Lektüre bleibt hier die Frage offen, welchen methodischen Status diese Physikeraussagen für das Gesamtargument haben oder welcher diskursive Stellenwert ihnen zukommt: Haben sie wegen ihrer wissenschaftlichen Rolle eine privilegierte Deutungsmacht im Hinblick auf Physikertragödien? Die zitierten Reaktionen scheinen nämlich auch auf eine Lektürepraxis der Physiker hinzuweisen, die sich deutlich von den Praxen der Hermeneutik im autonomisierten Literatursystem unterscheidet. Hier könnte man das Konzept der Interaktionsgeschichte möglicherweise noch deutlicher im Hinblick auf Spannungsverhältnisse, wissenskonzeptuell bedingte Missverständnisse und gescheiterte Translationen hin fruchtbar machen. Die umgekehrte Aneignung der öffentlichen Diskurse über Physiker durch die Dramenschriftsteller dagegen wird sehr deutlich, etwa die übergreifende Bedeutung von Robert Junkgs Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher als Intertext.

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Abgeschlossen wird Literatur im Jahrhundert der Physik durch einen kurzen Ausblick, in dessen Zentrum Wolfgang Hildesheimers Text The End of Fiction steht. Der am Ende dieses Textes stattfindende Dialog zwischen einem Genetiker und einem Romancier sei symptomatisch für das Zurücktreten der Physik in der öffentlichen Aufmerksamkeit, parallel zum »nachlassende[n] Interesse an neuen Atomphysiker-Tragödien« (S. 413).

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Fazit: Quellenfülle und Anschlussfähigkeit

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Insgesamt beeindruckt die Studie durch die Breite des erfassten Zeitraums, die jeweilige Fülle an herangezogenem Quellenmaterial und die Einbeziehung von Texten, die im Kanon eher in den Hintergrund gerückt sind. Wie in den einzelnen Kapiteln deutlich wird, handelt es sich nicht primär um ein Buch über den Zusammenhang von Physik als Wissenschaft und Literatur, wie es etwa Elisabeth Emter vorgelegt hat. Die Studie handelt vielmehr von den Diskursen über Physik, wie sie sich in den populärwissenschaftlichen Abhandlungen von Physikern, in Feuilletons und in der Rezeption durch die untersuchten Autoren widerspiegeln. Dementsprechend erscheint die Interaktion von Literatur und Physik in den dargestellten Beispielen asymmetrisch: Während die untersuchten literarischen Texte in ihrem Kern von Physikern und physikalischen Weltbildern handeln, scheint die Literatur nicht ins Zentrum der Physik als Wissenschaft vorzudringen.

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Insgesamt wechselt die Untersuchung zwischen einem breiten Makronarrativ und jeweils sehr detaillierten Einzelinterpretationen, die in dieses eingepasst werden. Die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen literaturwissenschaftlichen Forschungsstand bleibt dabei im Fließtext im Hintergrund und wird meist auf Literaturhinweise in den Fußnoten beschränkt. Die vorgelegten Deutungen fügen sich auf diese Weise stark homogenisierend in das übergeordnete Narrativ des Textes ein. Mögliche Ambivalenzen und methodische Probleme bleiben dabei bei den Deutungen überwiegend ausgeklammert, etwa die Frage, wie zentral denn die Rolle der Physik für den jeweiligen Text ist und wo sich bei der Untersuchung Probleme der trennscharfen Abgrenzung ergeben. Besonders die Abgrenzung von Naturwissenschaft generell und Physik im Speziellen sowie die Unterscheidung der Darstellung von Physikern und der Funktion von Physik in literarischen Texten hätten hier möglicherweise die Konturierung des Gegenstandes noch deutlicher gemacht. Methodisch ist die durchgehende argumentative Überblendung von Textzitaten, Paratexten und Selbstaussagen der Autoren auffällig. Implizit steht also ein recht biographienahes Autormodell im Hintergrund, das nicht konsequent zwischen jeweiligem literarischen Text und Selbstaussagen des Autors unterscheidet. Vielmehr werden letztere oft wesentlich für die Unterstützung der Argumentation herangezogen.

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Der rote Faden der Studie wird durch konsequente Leserführung garantiert. Allerdings ist das präsentierte Material nicht immer durch Thesen sortiert, bei manchen Zitaten ergibt sich der Eindruck, dass diese vor allem als erfreuliche Fundstücke präsentiert werden. Die stellenweisen Reihungen von zeitgenössischen Stimmen erinnern an das Darstellungsverfahren von Reportagen und tragen zum zugänglichen Überblickscharakter der Arbeit bei, die als großes Panorama angelegt ist. Stellenweise hätte sich der Rezensent eine noch konsequentere Zusammenfassung der im Einzelnen analysierten Formverfahren gewünscht, um die jeweiligen gattungsspezifischen Argumente besser nachvollziehen zu können. Insgesamt ist Literatur im Jahrhundert der Physik ein großangelegter, gattungstheoretisch ambitionierter Entwurf der Interaktionsgeschichte von Physik und Literatur im 20. Jahrhundert. Als solcher erscheint dieser Beitrag zum Forschungsfeld Literatur und Wissen prädestiniert dafür, zahlreiche weitere Studien zum Verhältnis von Literatur und Physik anzustoßen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Roland Borgards u. a.: Literatur und Wissen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar: Metzler 2013.   zurück
Elisabeth Emter: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925–1970). (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 2) Berlin/New York: de Gruyter 1995.   zurück
Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 152.   zurück
George Steiner: Der Rückzug aus dem Wort. In: Ders.: Sprache und Schweigen. Essays über Sprache, Literatur und das Unmenschliche. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981, S. 72.   zurück
Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Hg. v. Walter Biemel. Den Haag: Springer 1954, S. 48.   zurück
Ernst Weiß: Die Galeere. Roman. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2000, S. 61.   zurück
Juliane Vogel: Apfelgarten und Geschichtslandschaft. Fallszenarien bei Thomas Bernhard und Peter Handke. In: Inka Mülder-Bach/Michael Ott (Hg.): Was der Fall ist. Casus und Lapsus. (Anfänge in der Moderne) Paderborn: Fink 2014, S. 187–199.   zurück