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Vorausschau und Voraussage.

Über die Entstehung von Zukünften.

  • Elke Seefried: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 106) Berlin: Walter de Gruyter 2015. 575 S. Leinen. EUR (D) 49,95.
    ISBN: 978-3-11-034816-3.
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In ihrer 2015 erschienenen Habilitationsschrift Zukünfte, Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980 beschreibt Elke Seefried die historische Entwicklung rationaler Planungsansätze und die sich anschließende Entstehung der Disziplin der Zukunftsforschung. Für diese Arbeit erhielt sie anlässlich des 50. Deutschen Historikertags in Göttingen (2014) den Carl-Erdmann-Preis.

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Der Autorin geht es um das Verständnis von Zukunftsforschung als geschichtswissenschaftlicher Gegenstand. Zudem leitet sie aus der Wandelbarkeit des Artefaktes und seiner kulturellen und ideellen Kodierung den Charakter einer Metawissenschaft ab. An dieser Prämisse orientiert sich die gesamte Struktur der Studie, die es sich zum Ziel setzt, Akteure und Netzwerke sowie die verschiedenen Disziplinen und Tendenzen innerhalb der Zukunftsforschung zu vermitteln.

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Das 507 Textseiten umfassende Werk gliedert sich in drei Hauptabschnitte: nach einer eingehenden Darstellung der Vorläufer sowie der Entstehung und Konzeptionalisierungen der Zukunftsforschung folgt eine Analyse ihrer transnationalen Vernetzungen sowie der Produktion und Zirkulation von Zukunftswissen. Schließlich würdigt die Autorin im Schlussteil der Arbeit die politische Wirkung der Zukunftsforschung anhand des Beispiels der Bundesrepublik Deutschland. Sämtliche thematischen Unterteilungen werden jeweils mit einem akteursbezogenen Fokus untersucht. Der Autorin gelingt in ihrer Arbeit, nicht nur die Verfechter und Gegner der unterschiedlichsten Forschungsansätze der Prognostik, sondern auch die Gesamtheit an relevanten Netzwerken und prägenden historischen Rahmenbedingungen in angemessener Prosa und kohärenter Form darzustellen.

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Drei Perspektiven in die Zukunft

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Zukunftsforschung als wissenschaftliche Disziplin entsteht in den westlichen Industriegesellschaften der 1950er und 1960er-Jahre und ist besonders in ihrer Anfangszeit stark von einem Machbarkeits- und Steuerungsdenken geprägt. Im Grunde lässt sich die Futurologie auf die Werke aus dem wissenschaftstechnischen Science-Fiction Genre zurückführen, welche vor allem von den Werken von H.G. Wells aus den 90er-Jahren des 19. Jahrhunderts geprägt wurde, wie Seefried selbst auch in einem Fernsehinterview mit dem Bayerischen Rundfunk betont. Die verwissenschaftlichte Planung der 1920er-Jahre, die radikale Raumordnung während des Nationalsozialismus bzw. des Stalinismus sowie die keynesianische ökonomische Steuerungspolitik der Nachkriegszeit bilden das Fundament für die Zukunftswissenschaft und lenken die Prognostik auf eine technokratische Bahn, von welcher sie sich jedoch bald wieder entfernt.

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Diese empirisch-positivistische Dimension der Zukunftsforschung wird insbesondere von Naturwissenschaftlern wie Daniel Bell oder Karl Steinbuch vertreten und basiert auf der »(…) Überzeugung, dass wissenschaftlich fundierte, rationale Prognosen oder Computer (…) die Zukunft erforschen könnten.« (S.124). Darüber hinaus soll das lineare Fortschreiten der Zukunft mittels systemanalytischer Herangehensweise möglichst effizient und von oben herab geplant werden.

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Die zweite von Bertrand de Jouvenel und Carl Friedrich von Weizsäcker eingeleitete Dimension der Zukunftsforschung beruht auf einer normativ-ontologischen Betrachtung von »(…) Zukünften, weil man im engeren Sinne kein Wissen über die Zukunft ausmachen konnte« (S.492). Diese epistemologische und wissenschaftstheoretische Selbstreflexion der Prognostik, welche »(…) in einem philosophisch-holistischen Verständnis nach der guten Ordnung der Welt suchte« (S.95), verliert jedoch in der späteren politisch und ideologisch aufgeladenen Phase des Diskurses an Bedeutung, zu einem Zeitpunkt also, als der Konflikt zwischen den Technokraten und den Kritikern in den Vordergrund tritt.

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Die letzte Dimension der Zukunftsforschung ist indes »in besonderer Weise mit der deutschen Geschichte verknüpft [und] speiste sich aus der persönlichen Erfahrung von Verfolgung und Diktatur« (S. 493). Der Jurist und Politologe Ossip Karl Flechtheim und der Soziologe/Psychologe Robert Jungk setzen sich für ein partizipatives und kreativ-gestalterisches Kommunikationsmodell der Futurologie ein, welche sich gemäß ihrer neomarxistischen Ideale dem »Wissen über Zukünfte (…) als Herrschaftswissen…« (S. 493) entgegenstellt. Laut der Verfasserin ruht dieser Ansatz der Wissenschaftler »aber auch in einer linken politischen Sozialisation und sozialistischen Ideen, die systemkritisch angelegt waren und die Emanzipation des Menschen aus den ihn einengenden politischen, ökonomischen und geistigen Strukturen in der Zukunft anstrebten.« (S. 154)

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Von der Theorie zur Praxis

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Im Laufe der 1970er-Jahren schwindet jedoch dann die Überzeugung, die Zukunft frei gestalten zu können und somit der Glauben an die Zukunftsforschung selbst. Durch die Erschaffung mehrerer transnationaler Organisationen unternimmt man den Versuch, die Disziplin in institutioneller Form zu legitimieren. Staatliche Auftraggeber und eine verstärkte mediale Präsenz führen dazu, dass die Zukunftsforschung in der Öffentlichkeit zur Mode werden kann. Gleichzeitig jedoch vollzieht sich ein weiterer entscheidender Prozess: die Grenzen der jungen Wissenschaft werden offenbar. In dieser Phase besinnt sich die Zukunftsforschung auf »(…) eine Pluralisierung von Methoden, insbesondere partizipative Verfahren« (S. 15). Damit widerspricht sie jedoch der Erwartungshaltung der Öffentlichkeit sowie der Politik, denen die Zukünfte als voraussag- und steuerbar angepriesen worden sind.

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Im dritten und letzten Abschnitt ihrer Studie untersucht die Autorin die Zukunftsforschung in ihrer praktischen Komponente am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland. Hier nimmt die neue Wissenschaft ihren Anfang in Form der Wirtschaftsprognostik. Bald jedoch verschiebt sich ihr Forschungsparadigma von der Aufgabenplanung der Prognos AG zur »(...) Verfahrensplanung, also die Steuerung und Organisation politischer Prozesse…«. Im Laufe der weiteren Entwicklung lässt sich dann aber feststellen, »dass der bundesdeutschen Zukunftsforschung eine starke Politisierung, ja teilweise Ideologisierung inhärent war.« (S. 402). Paradigmatisch hierfür seien nicht nur Akteure wie etwa von Weizsäcker oder Jungk, welche sich im Zuge der Anti-AKW-Bewegung auf politischer Ebene konfrontierten, sondern auch der frühere SPD Politiker Erhard Eppler, der in seiner Zukunftskonzeptionalisierung »(…) die Grenzen des Rechts-Links-Kontinuums [überschreitet] (…)« (S. 461) und damit in gewisser Weise auch die Gründung der politischen Partei der Grünen einleitet.

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Leider erscheint Seefrieds Kapitel über die Praxis der Zukunftsforschung in der Bundesrepublik dem Leser jedoch bisweilen sowohl thematisch – aufgrund der plötzlichen Konkretheit der geschilderten Materie –, als auch strukturell wie eine vom Gesamtwerk abgetrennte Kleinstudie. Da verschiedentlich Wiederholungen vorkommen oder gleich mehrere Male von Staatspartnerschaften die Rede ist, welche letzten Endes scheitern, wirkt dieser Abschnitt vor allem im Vergleich zu den dynamischen Diskussionen und Wandlungen der globalen Zukunftsforschung der vorigen Kapitel bisweilen ein wenig flau.

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Der Werdegang einer Wissenschaft

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Zukünfte, Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980 zeigt deutlich, wie die Zukunftsforschung in der Planungseuphorie und Technologiebegeisterung der Nachkriegszeit ihren Anfang und Aufstieg erfährt und wie vehement sie vom globalen Systemwettbewerb des Kalten Krieges geprägt wird. Ein weiterer Verdienst der Arbeit ist, dass dem Leser die Multidimensionalität der Disziplin nähergebracht wird sowie ihre enorm unterschiedlichen Denkstile und wissenschaftlichen Kompetenzen, die vor allem transatlantisch zirkulieren. Zusätzlich zeigt die Autorin, wie innerhalb dieses Raumes mehrere verschiedene Wissensgesellschaften entstehen können, die zwar von einer bunten Vielfalt an Erkenntnissen und Ansätzen, jedoch nicht unbedingt von der Homogenität ihrer Akteure geprägt sind.

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Zu guter Letzt stellt die Arbeit die Entwicklung der Zukunftsforschung parallel zu den zeitgenössischen »Globalitätswahrnehmungen und -diskursen« (S. 13) dar und entlarvt deren Verbindungslinien zum politischen Raum. Genau diese beiden Punkte sind für das Werk prägnant, da es klarmacht, wie abhängig diese Metawissenschaft von der Politik und der Öffentlichkeit ist und wie sie dementsprechend auch epistemologisch fragil wird, eine Tatsache, die gerade in den Zeiten der Öl- und der sich anschließenden Wirtschaftskrisen auch einer größeren Öffentlichkeit zunehmend offenbar wird.

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Zentral für das Verständnis der Zukunfts-/ Zukünfteforschung ist das allgemeine Verständnis der Mutabilität des Gegenstandes. In Elke Seefrieds Habilitationsschrift werden in spannender Form die Paradigmenwanderungen geschildert und damit ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des noch immer relevanten Diskurses der Futurologie geleistet. Die von der Verfasserin gestellte Frage nach den partizipativen Verfahren und den »inneren Herrschaftsstrukturen« (S. 225), nach der »Glokalisierung« (S. 292) nach dem Fortschritt und der »(…) in kolonialen Denk- und Sprachmuster(n) verhandelte(n) [Zukunft der Entwicklungsländer]« (S. 292), nach einer Fokusverlagerung auf die Bedürfnisse des Menschen und die Frage nach den »Grenzen des Wachstums« entspringen sämtlich der Zukunftsforschung. Gerade der letzte dieser Aspekte ist auch für die aktuelle Öffentlichkeit von entscheidender Bedeutung, da »Nachhaltigkeit« als Konzept in den momentanen Diskussionen omnipräsent und als solches unentbehrlich geworden ist.

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Die Geschichte der Futurologie ist nicht frei von der Gefahr einer »Kolonialisierung der Zukunft durch Eliten« (S. 385) und in Seefrieds Forschungsarbeit macht sich die Einseitigkeit der modernen Prognostik bemerkbar. So werden Akteure aus den ehemaligen sozialistischen Staaten, dem asiatischen Raum und vor allem aus Entwicklungs- und Schwellenländer nur spärlich behandelt. Ähnlich ist die Situation auch bei Genderbarrieren, zumal diese erst 1975 ansatzweise durchbrochen bzw. bewusstgemacht werden. Verantwortlich dafür ist v.a. Eleonora Masini, die in den Folgejahren zuerst Generalsekretärin und schließlich Präsidentin der World Future Studies Federation wird.

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Fazit

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Abschließend lässt sich festhalten, dass Elke Seefried mit ihrem Werk, wie auch in verschieden anderen Rezensionen mehrfach lobend hervorgehoben wird, eine meisterhafte historische Analyse erbracht hat. Zukünfte, Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980 bietet nicht nur einen Einblick in eine bisher selten erforschte, jedoch unsere Aktualität entscheidend prägende Wissenschaftsdisziplin, sondern bewerkstelligt dies auch in einer dramatischen Form. Die schwer durchschaubare Agglomeration vergangener Zukünfte sowie die Netzwerke ihrer Visionäre werden in diesem Werk in allgemein verständlicher Form herausgearbeitet und unter Anbetracht sowohl der geopolitischen Rahmenbedingungen als auch der persönlichen Interessen der Beteiligten kritisch durchleuchtet. Jedem, der sich mit der Dichotomie gegenwärtiger Zukünfte und zukünftiger Gegenwart auseinandersetzen möchte, wird sich dieses Buch als wertvoll erweisen. Denn erst ein klares Verständnis der bisherigen Entwicklung der Zukunftsforschung vermittelt dem Leser das Feingefühl, das es ihm ermöglicht, die weitere Entwicklung dieser hochinteressanten Disziplin angemessen zu verstehen.

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Quellen:

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Torsten Kathke: Rezension zu: Seefried, Elke: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980. Berlin 2015, in: H-Soz-Kult, 04.12.2015, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24528>

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Lucian Hölscher: Rezension zu: Seefried, Elke: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980, in: Historische Zeitschrift 306, 2 (2018), Bochum.

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S. W.: Rezension zu: Seefried, Elke: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980, in: pro Zukunft 3/2015, https://www.prozukunft.org/v1/2015/09/zukunftsforschung-historisch letzter Zugriff 16/06/2018

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Klaus-Dietmar Henke: Rezension zu: Seefried, Elke: Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung 1945-1980, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.12.2015,

http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/zukunftsvorstellungen-der-kuehne-wahn-vom-grossen-plan-13965832.html letzter Zugriff 16/06/2018