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Geistesgeschichte als romanhafte Schilderung. Ästhetische Überlegungen zu Peter Neumanns Jens 1800. Die Republik der freien Geister

  • Peter Neumann: Jena 1800. Die Republik der freien Geister. München: Siedler 2018. 256 S. Hardcover. EUR (D) 22,00.
    ISBN: 978-3827501059.
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Dass auch im 21. Jahrhundert die Freude an lebendig geschriebener Kulturgeschichte nicht verloren gegangen ist, belegt die Ersterscheinung von Peter Neumanns Jena 1800. In den Feuilletons wurde dieses Werk mit gutem Grund als »faszinierendes Stück deutscher Geistesgeschichte« (ZEIT ONLINE, 3. Oktober 2018) gelobt. Immerhin ist es dem Philosophen Peter Neumann, einem Schelling-Experten und freischaffenden Lyriker, mit einer sehr anschaulichen Erzählmanier gelungen, auf rund 200 Seiten ein historisches Porträt der Saale-Stadt um 1800 zu entwerfen.

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Für die Nachwelt erweist sich die spezifische kultur- und literaturgeschichtliche Konstellation in Jena beim »Antritt des neuen Jahrhunderts« (Schiller) insofern von Interesse, als hier die führenden Größen des deutschen Geisteswesens aufeinander trafen. Im Haus der Familie Schlegel erprobten sich die Frühromantiker Novalis, Ludwig Tieck und Friedrich Schleiermacher, die gemeinsam an der Herausgabe der Athenäum-Schrift arbeiteten, in unkonventionellen Formen des geselligen und literarischen Zusammenlebens, die sie als »Symexistenz« und »Symphilosophie« bezeichneten. Der junge Schelling, der im Jahr 1800 seinen Traktat System des transzendentalen Idealismus veröffentlichte, lehrte zur Naturphilosophie, und als »Weimar-Jenaer Viergestirn« standen Herder, Wieland, Schiller und Goethe (Kurator der Alma Mater Jenensis, der Salana) sowohl als Begleiter als auch als Kritiker dem literarischen und ideellen Geschehen in der Stadt sehr nahe. Vor diesem sozial- und kulturgeschichtlichen Hintergrund überzeugt auch die These des Verfassers, wonach es in Jena um 1800 eine »Republik der freien Geister« gegeben habe.

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Auch wenn der aufgeklärte Regent Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach eine große akademische Freiheit in Forschung und Lehre ermöglichte, so erfuhr diese Toleranz bei Sympathiebekundungen für die Französische Revolution sowie bei dem Verdacht, die christliche Lehre zu schmähen, ihre Grenzen. Nicht zuletzt Fichte, in Jena Vorgänger Schellings als Vermittler der kantischen Philosophie, musste im Zuge des so genannten ›Atheismusstreits‹ die Universität Jena verlassen. Auch wenn er seine eigene Entlassung durch das undiplomatische Verkünden unangemessener Ultimaten provoziert haben mag, so stand doch der Vorwurf seitens des Dresdener Oberkonsistoriums gegen Fichte im Raum, er habe die Grundlagen der christlichen Lehre mit der Herausgabe von religionskritischen Aufsätzen (Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung) beleidigt.

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Die ästhetische Stilisierung der ideengeschichtlichen Konstellation

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Bei der Darstellung dieses Beziehungsgewebes hat sich Peter Neumann für eine Erzählweise entschieden, die sich im ästhetischen Grenzbereich zwischen wissenschaftlichem Sachbuch und experimentellem Roman bewegt. Mit seinem im Anhang beigefügten Literaturverzeichnis, seiner Zeittafel mit der Chronologie der Ereignisse sowie mit seinem Personenverzeichnis bürgt der Verfasser einerseits für die narrative Plausibilität seiner Monographie. Flankiert wird diese quellenbasierte Fundierung durch die Nachzeichnung der Lebenswege der einzelnen Akteure der Jenaer Frühromantik mit einer genauen Datenangabe. Andererseits weist das Werk eine narrative Struktur auf, die an die ästhetische Prosaliteratur anklingt. In den drei Großkapiteln werden die Geschichten der »freien Geister« Novalis, Schelling, August Wilhelm und Friedrich (bei Neumann lapidar als »Fritz« bezeichnet) Schlegel sowie Dorothea Veit und Caroline Schlegel-Schelling (und mit ihnen auch die Goethes und Schillers) erzählt, die das geistige Leben Jenas um 1800 wesentlich geprägt haben.

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Auf darstellerischer Ebene verzichtet Peter Neumann auf wissenschaftliche Analysen und eindeutige Interpretationen dieser Konstellation. Stattdessen entwirft der Verfasser, der durchgängig die Tempusform des vergangenheits-aktualisierenden historischen Präsens verwendet, eine Narration, die auf dem Wechsel von auktorialen und personalen Erzählsituationen beruht. In einigen Passagen lässt Neumann die Denk- und Fühlweise seiner Protagonisten unmittelbar vor den Augen des Lesers erscheinen. Als wissende Instanz hält sich der Verfasser weitgehend zurück und verleiht lediglich durch die Anordnung der Geschehnisse seinem Werk eine persönliche Signatur. Wie auch beim Roman, werden auf inhaltlicher Ebene dadurch Leerstellen erzeugt, die der Rezipient mit seinem eigenen Leseverständnis auffüllen soll.

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Einleitung: Die Ästhetik des historischen Fanals

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Bereits im einleitenden Kapitel mit der salopp gewählten Überschrift »Der Morgen danach«, in der in einer vorausdeutenden Rückwendung der Beginn der Doppelschlacht von Jena und Austerlitz am 14. Oktober 1806 geschildert wird, zeigt die ästhetische Stilisierung der Geschehnisse. »Die Erde zittert. In den Häusern klirren die Fensterscheiben. Dumpf, aber deutlich sind sie von überall zu hören: die Kanonen. Der Angriff kommt von Süden« – so lautet der dramatische Beginn von Jena 1800, der in seiner Unmittelbarkeit auch aus einem historischen Roman hätte stammen können, »auf einen stärkeren folgt ein schwächerer Knall, nach und nach geht das Getöse in ein Rollen über, als würden ganze Batterien aufeinander abgeschossen.« (S. 9). Durch die akustischen Signalwörter »zittern«, »klirren« sowie »Knall«, die in dieser Textpassage dominieren, sowie durch den kompositorischen Wechsel von Parataxen und Syntaxen, der auf erzählter Ebene eine Spannung erzeugt, erhält die Leserschaft den Eindruck, als wäre sie aus der Sicht der Jenaer Stadtbevölkerung unmittelbar an dem Schlachtgeschehen beteiligt gewesen. Der Einmarsch der napoleonischen Heere in Jena markiert zugleich das Ende der geistigen und literarischen Entwicklungen, die Neumann in seiner Monographie darstellen will. »Wo gerade noch Vorlesungen über Logik und Metaphysik gehalten wurden, Studenten sich über die Vorzüge des einen oder anderen philosophischen Systems stritten, man über Literatur und Kunst, Natur- und Geschichtsphilosophie diskutierte«, so spitzt der Verfasser diesen Spannung erweckenden Kontrast zu, »werden in den ersten Stunden des 13. Oktober 1806 hungrige Soldaten mit Fackeln in den Händen durch die Straßen streifen« (S. 9-10). Als Augen- und Ohrenzeuge konnte Hegel an diesem 13. Oktober 1806, dem Vorabend der Schlacht, die Ankunft Napoleons in Jena beobachten, den er in einem Brief an den Philosophen Niethammer mit dem idealistischen Topos »Weltseele« charakterisierte.

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Etwas überdramatisiert wirken allerdings die Parataxen, mit denen Neumann zu seinem ersten Kapitel überleitet: »Es liegt Krieg in der Luft. Und Krieg wird es geben. Hier in Jena soll sich alles entscheiden« (S. 10). Was genau sich in Jena, in dem mit dem Einmarsch französischer Heere längst schon der Krieg ausgebrochen war, entscheiden würde, nämlich das Schicksal Preußen und seines Staatsgebiets sowie des verbündeten Herzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, dessen Herzog im preußischen Heer diente, lässt der Verfasser offen.

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Erst wieder in dem Schlusskapitel mit der Überschrift »Am Vorabend«, in dem er das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 1806 kurz skizziert, greift Neumann die Bedeutung der Schlacht von Jena und Auerstedt für die Entwicklung der Jenaer Philosophie auf. In diesen Kriegswirren musste Hegel, der sein Hauptwerk Phänomenologie des Geistes für den Bamberger Verlag vorbereitete, als letzter Vertreter der idealistischen Philosophie die Saale-Stadt verlassen. Mit dem lakonischen Schluss-Satz »Der Semesteranfang ist bis auf Weiteres verschoben« (S. 219) lässt Neumann seine Darstellung enden und verleiht ihr einen universitätsgeschichtlichen Akzent.

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Die »unvollendete Revolution«: Ideengeschichtliche Voraussetzungen

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Nach dem abrupten Ende der Schlachtbeschreibung entwirft Neumann in seinem Kapitel »Die unvollendete Revolution« ein Panorama des Schauplatzes seiner Darstellung. Unmittelbar steigt der Verfasser in die Situation des sog. ›Jenaer Romantikertreffens‹ im November 1799 ein. Mit einer akribischen Detailfreude fügt er diese Konstellation in einem Familiengemälde zusammen: »In der Leutragasse 5 ist der Abend angebrochen. Für gewöhnlich ist jeder tagsüber auf seinem Zimmer, arbeitet, schreibt. Jetzt, zu vorgerückter Stunde, versammelt man sich um das kleine Sofa im Salon, direkt neben dem Ofen: Fritz und Wilhelm, Caroline und Dorothea, Schelling, Novalis und Tieck.« (S. 13)

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Nicht nur durch die poetische Ausschmückung dieser Konstellation wird die Grenze dieser Schilderung zur Fiktion überschritten. Bei der Darstellung der sich anbahnenden Beziehung zwischen Caroline Schlegel und dem 12 Jahre jüngeren Philosophen Schelling, die am Ende zur Trennung von dem in Vernunftehe lebenden Ehemann August Wilhelm Schlegel führen wird, gibt der Verfasser die Gedankengänge der Protagonistin in einem inneren Monolog wieder: »Irgendwas ist da jedenfalls, was sie an ihm fasziniert. Vielleicht seine Sprödigkeit, vielleicht seine Originalität. Keine sechs Minuten sind sie zusammen, sonst gibt es Zank. Er ist das weit und breit Interessanteste, was ihr seit Wilhelm untergekommen ist.« (S. 14) In dem gesonderten Kapitel »Madame Böhmer probt den Aufstand« (S. 24-37) schildert Neumann das bewegte Leben der geborenen Caroline Michaelis, die aufgrund ihrer kurzzeitigen Begeisterung für die Französische Revolution in der Mainzer Republik auf der Festung Königstein im Taunus inhaftiert gewesen war. Es mag dabei zu den Ironien der Geschichte gehören, dass ihr ausgerechnet Goethe als Beobachter des Kriegsgeschehens auf der Seite der Koalitionstruppen gegenüberstand.

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Nach diesem Einstieg in die Konstellation unter den Frühromantikern geht Neumann nun mit einer überwiegend sachlichen Diktion auf die historischen und philosophischen Voraussetzungen für die Entwicklung des kulturellen Gefüges um 1800 ein. In einigen Absätzen skizziert der Verfasser die Stadt- und Universitätsgeschichte, wobei er auch auf die Erscheinung Schillers im blauen Frack und in gelben Beinkleidern im Stadtpanorama sowie auf die allgemeine politische Lage im Jahr 1799, in der der zum Ersten Konsul aufsteigende Napoleon die französische Revolution für beendet erklären sollte, eingeht. Als bedeutungsvoll für das geistige Profil Jenas erwies sich nicht zuletzt das Auftreten des Philosophen Fichte, der die Transzendentalphilosophie Kants sowohl zu vertreten als auch mit seiner Wissenschaftslehre zu überwinden schien. Dem Wunsch der Weimarer Obrigkeit gemäß sollte Schelling dessen Nachfolge antreten. Der ebenfalls an Naturbeobachtungen interessierte Goethe war nach der Lektüre der Abhandlung Von der Weltseele auf ihn aufmerksam geworden. Als außerordentlicher Universitätslehrer galt er als Publikumsliebling, wenngleich laut Einschätzung Neumanns seine nicht überlieferte »erste Vorlesung« eine »Katastrophe« gewesen sei (S. 44).

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Schellings Liebesbeziehung mit Caroline erweist sich, so lässt sich vorsichtig konstatieren, als ein zentraler Handlungsstrang in diesem Großkapitel. »Bei der Vorbereitung der Sitzungen«, so heißt es in der erlebten Rede, »muss er [Schelling, MS] oft an Caroline denken und ihre Schlagfertigkeit. Erst neulich, bei der Neueröffnung des Weimarer Hoftheaters, sind sie sich schon wieder erstaunlich nahe gekommen. Schiller wurde gegeben, Wallensteins Lager. Beide ziehen vor seinem inneren Auge vorbei: der neue Saal, die Premierenfeier im Anschluss, die nächtliche Heimfahrt, ohne Wilhelm.« (S. 44) Neben dem gemeinsamen Theaterbesuch stellten die 1798 von den Frühromantikern unternommene Fahrt nach Dresden und das Gespräch über die Gemälde der Alten Meister (allen voran die Sixtinische Madonna) eine Gelegenheit dar, bei der sich Caroline und Schelling einander annähern konnten. Heiraten sollten sie allerdings erst im Jahr 1803.

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Erzählerische Montage: Das »geschenkte Jahr« 1799

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Im zweiten Großkapitel enthält die Leserschaft einen Einblick in das voraussetzungsreiche »geschenkte Jahr« 1799, das den zeitgenössischen Auffassungen zufolge zwar das 18. Jahrhundert beendete, aber noch nicht das 19. einleiten sollte. Neumann skizziert in einem Intermezzo die Debatte darüber, ob das neue Säkulum schon im Jahr 1800 oder erst 1801 beginnen sollte. Am Ende sollten sich die Vertreter der letzteren Datierung gegenüber den »Nullisten« durchgesetzt haben. In diesem zweiten Großkapitel steht die Liebesbeziehung zwischen Caroline und Schelling weniger im Vordergrund. Stattdessen werden die sich ergebenden Konstellationen in einer erzählerischen Kollage zusammengefügt. Zu Beginn erzählt Neumann, wie Dorothea Veit und Friedrich Schlegel, die 1804 in Paris heiraten sollten, von Berlin nach Jena aufgebrochen waren. »Fritz« habe sich als Autor des Skandalromans Lucinde (1799), in dem die Vielfalten romantischer Liebesverhältnisse geschildert werden, einen illustren Ruf in der Öffentlichkeit verschafft.

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In Jena plante Schlegel nun eine Fortsetzung dieses Erzählwerks, die allerdings nicht fertig gestellt werden sollte. Während »Fritz« 1799 nach Jena ging, musste Fichte nach seiner Entlassung von der Alma Mater Jenensis nach Berlin fliehen. In der preußischen Hauptstadt arbeitete er an einer Neuauflage seiner Wissenschaftslehre sowie an einer Vorlesungsreihe Über die Bestimmung des Gelehrten, in denen er die radikale Ich-Lehre seiner Jenaer Zeit revidieren sollte. Doch nicht zuletzt wegen seiner Kontakte zu den Frühromantikern blieb Fichte sowohl unter kritischer Beobachtung des gelehrten Publikums als auch unter der der Obrigkeit. In einer eingeschobenen Rückwendung beschreibt der Verfasser den Verlauf des ›Atheismusstreits‹, der ein entscheidender Auslöser für Fichtes Aufbruch nach Berlin sowie für die Dynamik innerhalb der frühromantischen Gruppierung gewesen war. Mehr oder minder bezogen sich die in der Athenäum-Zeitschrift erschienenen Fragmente, angefangen mit Novalis‘ Blütenstaub-Aphorismen, auf Fichtes radikale Ich-Lehre. Neben Fichte erwies sich Goethe, so legt es die Komposition dieses Buches nahe, als wesentliche Initialfigur für die Jenaer Konstellation um 1800. In der Saale-Stadt, in der er am 20. Juli 1794 seinen ›Freundschaftsbund‹ mit Schiller geschlossen hat, verbrachte Goethe viel Zeit für seine mineralogischen Studien sowie für sein poetisches Schaffen. Zu den Frühromantikern, deren literarische Wirksamkeit (allen voran deren Shakespeare-Übersetzungen und deren Studien zur klassischen Verslehre) er zunächst mit Wohlwollen aufnahm, hatte er jedoch ein zunehmend getrübtes Verhältnis. Immerhin standen die Brüder Schlegel, deren Athenäum-Zeitschrift als »literarische Teufeleien« ohnehin der Kritik in der Öffentlichkeit ausgesetzt war, mit Schiller, der 1799 als vielgeachteter Geschichtsschreiber die Saale-Stadt zugunsten Weimars aufgeben sollte, in einer Fehde. Seitdem dieser ihnen die Mitarbeit an der von ihm herausgegebenen Horen verwehrt hatte, waren er und seine Dichtung, vor allem sein hymnisches Gedicht Die Glocke, den literarischen Schmähungen der Frühromantiker ausgesetzt.

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Goethe wiederum blieb diesem Kreis eng verbunden. Im Kontext des ›Jenaer Romantikertreffens‹ im November 1799 , bei dem Friedrich von Hardenberg und Ludwig Tieck zugegen waren, unternahm er ausgedehnte Spaziergänge mit August Wilhelm Schlegel durch den Jenaer Paradiespark, und übernahm er eine beratende Rolle für die Athenäum-Zeitschrift. Immerhin sorgten die geplante Herausgabe der Rede Christentum oder Europa, die Novalis zur feierlichen Beschwörung der mittelalterlichen Ordnung gehalten hatte, sowie das als »eine Art Parodie« (S. 136) verfasste Gedicht Epikurisch Glaubensbekenntnis Heinz Widerporstens Schellings für Kontroversität innerhalb der Gruppe. Als Schiedsrichter empfahl Goethe, beide Texte, deren religiöse Thematik als anstößig aufgefasst werden konnte, nicht in die Athenäum-Zeitschrift aufzunehmen. Wie auch im ersten Großkapitel, zeichnet der Verfasser erneut literarische Gemälde der »Familie der herrlichen Verbannten« (S. 142) beim ›Jenaer Romantikertreffen‹ sowie bei der gemeinsamen Weihnachtsfeier 1799. Mit einer kurzen Skizzierung der Sylvesterfeier in dem von der Herzogin Anna Amalia geführten Weimarer Wittumspalais, in dem das Theaterstück Das neue Jahrhundert Kotzebues aufgeführt wird, rundet der Verfasser dieses zweite Großkapitel ab.

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Das Ende der Konstellation: Der rastlose Weltgeist

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Mit gutem Grund legt Neumann im dritten Großteil seiner Darstellung Jena 1800 den Fokus auf die philosophiegeschichtliche Genese. Erzählerisch greift er den Handlungsstrang des ersten Abschnitts, die Liebesbeziehung zwischen Caroline und Schelling, wieder auf. Die frühromantische Konstellation hat sich in den frühen Jahren des neuen Jahrhunderts inzwischen weitgehend aufgelöst. In der Hoffnung auf ein besseres Leben sind Dorothea Veit und ›Fritz‹ nach Paris gegangen; der Bruder August Wilhelm begab sich nach seiner Scheidung von Caroline in die Dienste von Madame de Staël; und Novalis starb, wie vom Verfasser am Ende dieses Kapitels geschildert, 1802 an den Folgen der Schwindsucht. Um die Deutungshoheit in der nach-kantischen Ideenlehre sind Schelling und ›Fritz‹ in Konkurrenz zueinander gegangen. Sowohl in Anlehnung als auch in Ablehnung zu ihm las Friedrich Schlegel zur Transzendentalphilosophie in Jena. Seine Verteidigung der Habilitationsthesen, bei der die Prüfer Auszüge aus seinem Roman Lucinde gegen ihn verwendeten, sollte zum Skandal an der Philosophischen Fakultät werden.

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Schelling verließ für eine Weile Jena, bis er schließlich 1803 von Goethe zurückgerufen wurde. Schweren Angriffen sah sich Schelling durch die Allgemeine Literatur-Zeitung ausgesetzt. Ihm wurde der Tod der 15-jährigen Auguste Böhmer, der Tochter Carolines, zur Last gelegt. In dem Kurort Bad Bocklet hatte Schelling den dort anwesenden Ärzten empfohlen, ein als ›Browniasmus‹ angepriesenes Heilverfahren anzuwenden. Doch Auguste starb an der Ruhr; ihre Mutter Caroline erkrankte schwer. Die spekulative Naturphilosophie, die von der Presse für die falsche Therapieentscheidung verantwortlich gemacht wurde, stand im Zuge dieser Fallgeschichte insgesamt im Verruf. Schelling geriet in eine seelische Krise. Unterstützung erhoffte er sich von seinem Studienkollegen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der 1801 nach Jena in das »Mekka der Philosophie« (S. 181) gekommen war.

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In eingeschobenen Rückwendungen erzählt der Verfasser, wie sich beide Philosophen zusammen im Tübinger Stift kennengelernt und wie sie sich gemeinsam mit der kantischen Philosophie auseinandergesetzt hatten. Die Lehre Spinozas, die von der Natürlichkeit Gottes ausgeht, stellte für sämtliche Vertreter des Deutschen Idealismus den Ausgang dar, um Kants Transzendentalismus sowohl zu bestätigen als auch zu überwinden. In deren Folge sollten sich verschiedene philosophische Strömungen entwickeln, wie der Verfasser bemerkt: »Das Vorlesungsverzeichnis strotz nur so von einschlägigen Kollegien, vom alten Dogmatismus bis zur Naturphilosophie alles dabei, die Konkurrenz ist groß. Jeder hat sein eigenes System – und Anhänger, die bereit sind, die Philosophie ihres Meisters als allein seligmachend gegen alle anderen zu behaupten.« (S. 181) Die Pluralität der philosophischen Ideen sollte sich auch auf das Verhältnis von Schelling und Hegel auswirken. Arbeiteten beide bislang an der Ausarbeitung des idealistischen Programms einer absolut gefassten Philosophie, so sollten sich ihre Wege bei der Begründung eines begrifflich bestimmten Systems trennen. Während Hegel noch bis zum Schlachtenabend 1806 in Jena bleiben sollte, ging Schelling mit Caroline, nachdem er sie 1803 geheiratet hatte, ins schwäbische Elternhaus. Sechs Jahre später sollte sie, wie ihre Tochter Auguste vor ihr, an den Folgen einer Ruhrinfektion sterben.

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Fazit

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In seiner Arbeit verzichtet Neumann auf eine eindeutige Eingrenzung des literatur- und geistesgeschichtlichen Phänomens »Jena 1800«. Angesichts des Umstands, dass der Schwerpunkt der Darstellung mehr auf dem Vorjahr 1799 als auf dem Antrittsjahr des neuen Jahrhunderts beruht, erweist sich der Titel mehr als Chiffre denn als eine exakte historische Markierung. Zwar erhebt Neumann, der mit seiner wissenschaftlichen Expertise in seiner Abhandlung genaue Orts- und Zeitangaben angibt und die einzelnen Konstellationen in der »Doppelstadt Weimar-Jena« (Goethe) minutiös erläutert, den Anspruch auf eine literatur- und philosophiegeschichtliche Triftigkeit. Jedoch verzichtet er bei dem Versuch, das Phänomen »Jena 1800« in seiner Ganzheit zu deuten, auf ein Gesamturteil. Stattdessen erlaubt sich Neumann die literarische Darstellungsfreiheit, der Leserschaft eine erzählerische Kollage in Bezug auf die Saale-Stadt zur Jahrhundertwende zu präsentieren. In seiner Monographie reiht er von Fichtes Abreise nach Berlin, Goethes Engagement für das Weimarer Hoftheater und Schillers Einsatz für die Universität Jena verschiedene Sequenzen aneinander, ohne dass sich auf dem ersten Blick ein innerer Zusammenhang ergeben würde. Die eingeschobene Rückwendung setzt Neumann als eine narrative Technik ein, um von der Gründung der Salana im Jahr 1548 bis hin zum Atheismusstreit 1798 sinnbildende Vorgeschichten zu präsentieren.

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In den Passagen seines Werks, in denen er die inneren Vorgänge seiner Figuren wiedergibt oder die frühromantischen Treffen in historischen Porträts vergegenwärtigt, überschreitet er sogar die Grenzen zur epischen Fiktion. Auch wenn sich auf dem ersten Anblick Neumanns Jena 1800 auf verschiedene Einzelverläufe zu erstrecken scheint, so erweist sich beim näheren Hinsehen die Entwicklung im Haus der Familie Schlegel als Schwerpunkt der Erzählung. Nicht grundlos ragt Schelling, der in seiner Person den Brückenschlag zwischen der Universität Jena und der literarischen Szene der Stadt verkörpert, in dieser Konstellation als Initialfigur heraus. Seine sich anbahnende Beziehung zu Caroline, die eine Spielart der romantischen Liebe darzustellen scheint, erweist sich als Leitfaden, der das Gesamtwerk als Geistesgeschichte mit romanhaften Zügen erscheinen lässt.