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Mit Leidenschaft für die Demokratie

Günther Rüther analysiert Tucholskys Sicht auf die Weimarer Republik

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»Ich hasse und liebe. Vielleicht fragst du, warum ich das tue: Ich weiß es nicht, aber spüre es so und quäle mich ab.« Dieses Zitat von Catull ist der Tucholsky-Biographie nicht ohne Grund als Motto vorangestellt. Günther Rüther widmet sich darin Tucholskys Leben zur Zeit der Weimarer Republik, das bestimmt war von großer Leidenschaft für die Demokratie – und zugleich begleitet von sehr viel Verzweiflung ob der sich immer stärker zuspitzenden Konflikte.

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Die Biographie reiht sich nicht nur in die aktuelle Debatte über die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Weimarer Republik und heutigen Entwicklungen ein, sondern stellt zugleich einen Beitrag zum Themenfeld Literatur und Politik dar. Indem auch die Positionen weiterer Schriftsteller und Intellektueller wie z.B. Carl von Ossietzky und Heinrich Mann einbezogen werden, entsteht ein abgeklärter Blick auf die unterschiedlichen Positionen, die Tucholsky in Bezug auf die Weimarer Republik einnahm. Zugleich hilft diese Ausweitung des Blicks einzuschätzen, welche Gratwanderung es während dieser Zeit bedeutete, politisch zu schreiben, ohne die eigene Freiheit – und die der anderen – zu gefährden.

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Die Biographie beleuchtet weniger das private Leben Tucholskys als vielmehr die äußeren Umstände, die für das Verständnis seiner politischen Positionen während der Weimarer Republik notwendig sind. Die Einteilung folgt dementsprechend sowohl den historischen Einschnitten als auch den verschiedenen Lebensstationen und Orten, von denen aus Tucholsky politisch als Schriftsteller und Journalist wirkte.

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Wider den Militarismus und Untertanengeist – trotz (oder wegen) Tucholskys Kriegsbeteiligung und Patriotismus

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Eine der großen Stärken des Politikwissenschaftlers und Soziologen Rüther ist es, unangestrengt die Entstehung und Entwicklung der Weimarer Republik vor Augen zu führen, ohne sich in Details zu verlieren. Stattdessen werden die teils widersprüchlichen politischen Entscheidungen in Erinnerung gerufen, die keinesfalls eindeutigen Veränderungen in der Parteienlandschaft beschrieben und vor allem werden die Missstände etwa in der damaligen Rechtsprechung dargelegt, auf die sich Tucholsky in einem Teil seiner Artikel bezieht (vgl. S. 144–156). Rüthers Analysen liegt folglich eine strenge Rückbindung an historisch nachgewiesene und belegte Fakten zugrunde.

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Die Biographie zeigt Tucholsky als politischen Denker, der in der heutigen Wahrnehmung vielleicht etwas zu vorschnell auf sein berühmtes »Soldaten sind Mörder« reduziert wird. Dass Tucholsky mit großer Leidenschaft und aus patriotischer Überzeugung Kriegsdienst leistete und währenddessen eine keineswegs kriegskritische Zeitschrift für Soldaten herausgab (vgl. S. 40–44) oder dass er sich für den Verbleib Oberschlesiens im deutschen Reich stark machte (vgl. S. 108–116), sind nur wenige Beispiel für die vielen Spannungsverhältnisse, die die Biographie aufzeigt.

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Stark ist Rüthers Herangehensweise gerade deshalb, weil sie die Widersprüche in den politischen Positionen und im Handeln Tucholskys nicht mit einem allgemeinen Verweis auf seine linksliberale Haltung übergeht, sondern das durchaus selbstkritische Ringen um die wirksamsten journalistischen Mittel zur politischen Einflussnahme einfängt. Die verschiedenen Versuche Tucholskys, einen Umgang mit dem Militarismus und dem Untertanengeist zu finden, sind überzeugend herausgestellt: Tucholsky hatte an der Verankerung demokratischer Strukturen in der Bevölkerung Zweifel und kritisierte die konkrete Ausgestaltung der Weimarer Republik – auch wenn er selbst ihr großer Fürsprecher war und sich leidenschaftlich für mehr Demokratie einsetzte. Tucholsky musste nur gegen Ende der Weimarer Republik zunehmend erkennen, dass er mit seiner beißenden Kritik gerade seinen politischen Gegnern in die Hände spielte, die prinzipiell auf die Abschaffung der Republik zielten.

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Tucholskys Ringen um eine vertretbare Position – ein Lehrstück für heutige Zeiten

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Es gelingt Günther Rüther mit Respekt vor der Lebensleistung Tucholskys, die Suchbewegungen nachzuzeichnen, mit denen Tucholsky wiederholt um eine vertretbare Meinung rang. Aus heutiger Perspektive betrachtet, zeigte sich schon damals: Je aufgeheizter die politische Stimmung war, desto schwerer ließen sich differenzierte Positionen vermitteln. Der Raum für ein reflektiertes Abwägen wurde immer enger.

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100 Jahre nach der Gründung der Weimarer Republik lädt die Tucholsky-Biographie dazu ein, sich Fragen auszusetzen, die nur scheinbar als veraltet und geklärt gelten: Wie ist es möglich, innerhalb demokratischer Strukturen auf Defizite hinzuweisen und differenziert zu argumentieren, ohne damit denjenigen gesellschaftlichen Kräften in die Hände zu spielen, die diese demokratischen Strukturen aushöhlen oder ganz abschaffen wollen? Wie lässt sich Kritik an politischen Entscheidungen zum Ausdruck bringen, wenn diese Äußerungen sogleich einem politischen Lager zugeschlagen werden, in dem man sich nicht als zugehörig erachtet? Wo verläuft die Grenze des Akzeptablen, um sich mit anderen zu solidarisieren, auch wenn die Positionen und Problemlösungsstrategien nicht in allen Punkten übereinstimmen?

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Rüther stellt diese Fragen unaufgeregt, ohne vorschnelle und simplifizierende Antworten zu geben. Tucholskys Positionen, mögen sie auch aus heutiger Perspektive nicht alle als glücklich bezeichnet werden, können als Anreiz dazu dienen, auf die Gegenwart und die allenthalben zu beobachtenden Gefährdungen der Demokratie mit wachem Blick zu schauen. Denn auf der Suche nach Lösungsansätzen für heutige Problemlagen kann eine Auseinandersetzung mit den Versuchen der Vorherigen vor Fehleinschätzungen bewahren. Diese Tucholsky-Biographie lädt folglich in besonderem Maße dazu ein, politisches Denken und Handeln als das zu begreifen, was es ist: eine fortwährende Herausforderung.