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Robert Hermann: Präsenztheorie - Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur.

  • Robert Hermann: Präsenztheorie. Möglichkeiten eines neuen Paradigmas anhand dreier Texte der deutschen Gegenwartsliteratur (Goetz, Krausser, Herrndorf). (Literatur - Kultur - Theorie 26) Würzburg: Ergon 2019. 417 S. Hardcover. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 978-3-95650-521-8.
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Gegenwart, immer nur Gegenwart – wann ist das endlich mal vorbei? Der zeitphilosophische Kalauer hat es in sich. Lässt er sich doch theoretisch schnell und unter Berufung auf erhabene Namen der Philosophiegeschichte (Augustinus!) nobilitieren: es gibt keine andere Zeit als die Gegenwart. Denn auch Vergangenheit und Zukunft sind Vergangenheit und Zukunft ja nur im Zeitmodus ihrer Gegenwart. Von jetzt aus gesehen ist vergangen, was gestern oder vor Jahren geschah; als es geschah, geschah es nun eben gegenwärtig, jetzt, wann sonst? Von jetzt aus gilt, dass auch morgen die Sonne aufgehen wird; wenn sie denn aufgeht, geht sie gegenwärtig auf. Konterkarieren lässt sich die so schlichte wie weitreichende Einsicht in die perennierende Gegenwart der Gegenwart allerdings durch den Hinweis, dass das Jetzt der Gegenwart ein immer schon vergangenes Jetzt ist. In dem Augenblick, in dem ich ›jetzt‹ sage, ist dieser Moment bereits vergangen, abwesend, gewesen, verweht, verwest. Mit den berühmten Terzinen Über Vergänglichkeit des jungen Hugo von Hofmannsthal: »Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen: / Wie kann das sein, daß diese nahen Tage / Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?«

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In den Geistes- und Kulturwissenschaften hatten in den letzten Jahrzehnten Theorien wie Hermeneutik, Strukturalismus, Konstruktivismus, Dekonstruktion und Rezeptionsästhetik Konjunktur, die bei allen großen Differenzen untereinander doch die starke Gemeinsamkeit haben, Absenz für den im Vergleich zu Präsenz stärkeren, erklärungsmächtigeren, analytischeren, kurzum: angemesseneren Schlüsselbegriff zur Erhellung ästhetischer Phänomene zu halten. Das leuchtet unmittelbar ein. Kunstwerke bringen Abwesendes nahe. Die gemalte Pfeife ist keine Pfeife. Schriften halten in Luft sich auflösende Reden fest – scripta manent, verba volant. Schriften sind eben keine jetzt ergehenden und sofort verwehenden Reden, sondern auf eine gewisse Dauer angelegte Anhäufungen dunkler Zeichen auf hellem Grund. Verstorbene Autoren leben in ihren Werken weiter. Und jeder weiß, dass dies nichts an dem Umstand ändert, dass sie tatsächlich tot, also der radikalsten Weise der Abwesenheit verfallen sind. Die ethnologisch untersuchten Tropen-Kulturen sind, wenn sie theoretisch recycelt werden, traurige, weil abwesende Kulturen.

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Zu diesen Intuitionen, von denen schwer auszumachen ist, ob sie tiefsinnig oder trivial sind, tritt ein nicht zu unterschätzender theorietechnischer Vorteil hinzu, der die Attraktivität von Absenz als geistes- und kulturwissenschaftlicher Schlüsselattitude plausibel macht. Absenztheorien haben wie alle Theorien, die mit Negationen arbeiten, den Vorteil, qua doppelter Negation auch den komplementären Differenzbegriff mitbezeichnen zu können. Wenn Abwesenheit abwesend ist, wenn Vergangenheit vergangen ist, wenn das Aufhören aufhört, stellen sich (zumindest bzw. wohl nur begrifflich) Anwesenheit, Gegenwart und Dauer ein. Die ausgreifend argumentierende und theoriegeschichtlich bestens informierte Münchener Dissertation Präsenztheorie von Robert Hermann weiß, worauf sie sich einlässt, wenn sie mit unverhohlener Sympathie Möglichkeiten des neuen bzw. rundumerneuerten Paradigmas Präsenztheorien auslotet. Und daran ist kein Mangel. Denn Gegenbewegungen zu Negations-, Differenz-, Dekonstruktions- und Absenztheorien haben in jüngerer Zeit Konjunktur. George Steiner, Jean-Luc Nancy, Karl-Hein Bohrer, Martin Seel, Dieter Mersch und Hans Ulrich Gumbrecht, also kluge Köpfe, die unverdächtig sind, theoriefeindlich und naiv auf Unmittelbarkeit zu setzen, haben die Kategorie Präsenz und den Zeitmodus Präsens erneut ins Zentrum der sog. Geisteswissenschaften gestellt. Ihre Theorien referiert, diskutiert und vergleicht umsichtig und einlässlich der erste Teil der Untersuchung, um sie sodann in Analysen von Primärliteratur aus der Feder bzw. der Festplatte von Rainald Goetz (Rave), Helmut Krausser (UC) und Wolfgang Herrndorf (Tschick) mit gutem Erfolg zu erproben.

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Den heißen Kern aller Präsenztheorien haben, wie Hermann eindringlich darlegt, Heidegger und Wittgenstein in unterschiedlicher Weise zu umkreisen versucht. Dass überhaupt Sein ist und nicht vielmehr nicht/ Nichts, dass Sein zeitlich verfasst ist, dass sich das Rätsel des zeitlichen Seins zeigt, entbirgt, aber eben auch entzieht, weil es sich nicht in einer prädikativen Substanz-Akzidenz- bzw. Subjekt-Objekt-Prädikat-Sprache fassen lässt, ist eine Intuition, die beide ansonsten recht unterschiedlich prozedierenden Philosophen teilen. Hermann benennt dabei klar die Differenz, die beide trennt. Heidegger denkt monistisch in dem Sinne, dass er die Differenz von Ontologie und Metaphysik »verwindet«: Es gibt kein Jenseits des Seins. Wittgensteins Argumente sind hingegen dualistisch angelegt; sie unterscheiden das, was der Fall ist und ausgesagt werden kann, von dem Mystischen, das sich allenfalls zeigt, aber nicht zustimmungspflichtig ausgesagt werden kann. Die von Hermann diskutierten neueren Präsenztheoretiker umkreisen ebenfalls die Alternative Immanenz/Transzendenz und setzen dabei unterschiedliche Akzente. Bohrer und Steiner bezeichnen dabei die Extreme. Steiner pflegt eine kaum verhohlene ästhetische Metaphysik und metaphysische Ästhetik: im Schönen ist das Göttliche präsent. Bohrer argumentiert hingegen radikal antimetaphysisch: das schrecklich Schöne fasziniert, weil es illusionslos Weltimmanenz als sich je jetzt entziehende Präsenz verständlich macht.

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Robert Hermann versucht, den gemeinsamen Kern der von ihm diskutierten Präsenztheorien in eine Formel zu fassen: »›Präsenz‹ bezeichnet die ästhetische Wahrnehmung einer Performanz, die sich der Repräsentation entzieht und die eine temporäre Auflösung des Subjekt-Objekt-Denkens sowie ein intensives Erlebnis von Raum und Zeit bewirkt.« (S. 217) – eine Definition, die dem Verf. eine repräsentative Wiederholung wert ist (S. 222), ein Widerspruch, an dem Dekonstruktivisten ihre Freude haben können. Weitere zusammenfassende Formeln, die die Untersuchung strukturieren, sind u.a.: »Präsenztheorie (lässt sich) zum einen als eine negative Metaphysik bezeichnen, die Prozesse radikaler Immanenz beschreibt, und zum anderen als eine säkulare Mystik, die auf Augenblicke erlebter Unmittelbarkeit verweist.« (S. 231) Unmittelbarkeit ist ein sprachlicher Grenzwert, den schon der Dadaismus, aber auch Rilkes Verskunst gestaltet: da – da – da / »Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung! O Orpheus singt! O hoher Baum im Ohr! Und alles schwieg.« Doch das beredt Verschwiegene sorgt dafür, dass sich performativ etwas zeigt, einstellt, erfahrbar wird. »Ein solches Zeigen kann seitens des Rezipienten ein mystisches ›Gefühl der Welt als begrenztes Ganzes‹ (Wittgenstein: Tractatus 6.45) auslösen, ein Gefühl unsagbarer Präsenz.« (S. 331)

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Fazit

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Auch und gerade bei überzeugenden und umsichtigen Arbeiten wie der gegenwärtig vorliegenden bleiben Anschlussfragen. Um nur je eine an den Theorie- bzw. an den Interpretationsteil zu adressieren: Die literaturwissenschaftliche Früh- und Vorgeschichte der Präsenztheorie blendet Hermann weitgehend aus. Emil Staigers ausdrücklich an Heidegger anknüpfende Kunst der Interpretation setzt ja ebenfalls auf starke Vergegenwärtigungsstimmungen und -erlebnisse, wenn sie sich dem Präsenz-Projekt verschreibt, zu begreifen, was uns ergreift. Was die Auswahl einer um Präsens-Zauber bzw. Präsenz-Schocks kreisenden Primärliteratur angeht, so wäre die eigentümlich zwischen Immanenz und Transzendenz changierende Christus-Trilogie von Patrick Roth, die eine stumme Gegenwart beschwörende Erzählkunst von Hans-Josef Ortheil oder die Prosa von Daniel Kehlmann mindestens so geeignet wie die von Hermann ausgewählten Werke. Eigentümliche Interpretationsirritationen stellen sich selbstredend auch ein, wenn literarische Werke als Bestätigungsmedien von Theoriekonzepten bemüht werden: aha, hier wird theorieadäquat der Aufstieg des Bürgertums und der Abstieg des Adels geschildert; tatsächlich: hier liegt ein Ödipuskomplex vor; seht her: die Werke dieser Autoren entsprechen den Annahmen der Präsenztheoretiker. Zum Reiz dekonstruktiver Absenz-Theorien gehörte ja eben die Kommunikation der diskursiven Irritation, die von sogenannter Primärliteratur ausgeht: es gibt nichts Primäres, kein fundamentum inconcussum – aber eben das ist eine präsentische Erfahrung. In ihren stärksten Passagen kann Robert Hermanns kluge Abhandlung eben nicht suggestiv, sondern argumentativ plausibel machen, dass dies der Reiz von Präsenztheorie und Präsensliteratur ist: das Abwesende gegenwärtig zu halten.