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Deus artifex oder Imagination und Technik in der Vormoderne.

  • Brigitte Burrichter (Hg.): Technik und Science Fiction in der Vormoderne. (Würzburger Ringvorlesungen der Universität Würzburg 17) Würzburg: Königshausen & Neumann 2018. 298 S.
    ISBN: 9783826066740.
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Der Titel des vorliegenden Bandes, der auf eine Ringvorlesung an der Universität Würzburg im Wintersemester 2016/17 zurückgeht, enthält eine sanfte Provokation. Wie, so fragt man unversehens, kann Science-Fiction als genuin moderne Gattung schon in der Vormoderne eine Rolle spielen? Gleich zu Beginn ihres Vorworts räumen die Herausgeberinnen denn auch pflichtschuldig ein, dass keiner der beiden titelspendenden Begriffe in vormodernen Texten selbst auftaucht. Gleichwohl beharren Sie darauf, dass auch das Phänomen der Science-Fiction, gedacht als »technische Erfindungen und Entwürfe, die wissenschaftlich diskutiert werden, praktisch aber (noch) nicht umsetzbar sind« (S. VII) und nur im Medium der Fiktion realisiert werden können, für die Vormoderne und insbesondere auch das Mittelalter zu beanspruchen sei. Das ist allerdings ein sehr reduzierter Begriff von Science-Fiction, der etwa – wie es zumindest die mediävistischen Beiträge dann auch zeigen – die konstitutive Dimension von Zukunft und die unerhörte lebensweltliche Transformationskraft technischer Innovationen beiseitelassen, deren historische Evidenz doch weit eher in das 19. Jahrhundert gehört, in dem die Genese der Science-Fiction als Gattung der communis opinio nach ja auch verortet wird. Das mindert nicht die Faszinationskraft der in den Beiträgen vorgestellten Apparate und Automaten, hermeneutisch aber wäre es vielleicht interessanter gewesen, gerade die Differenzen vormoderner Technikimaginationen gegenüber der späteren Science-Fiction herauszuarbeiten. Wenigstens fällt auf, dass in den jeweiligen Beiträgen zwar zahlreiche Werke zur mittelalterlichen Technik zitiert werden, eine vergleichbare begriffliche Aufarbeitung für ›Science-Fiction‹ jedoch nicht geleistet wird und das, obwohl Begriff und Gattung in den vergangenen Jahrzehnten wahrlich genug theoretische Aufmerksamkeit erfahren haben. 1

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Das Herzstück des Bandes bilden die insgesamt sieben (von zwölf) Beiträgen, die sich dem Mittelalter widmen. Stefan Petersen eröffnet mit einer begriffshistorischen Studie, die der Rezeption des antiken Verständnis von ›Mechanik‹ nachspürt und die terminologische Herausbildung der artes mechanicae, die als eigenständiger Bezirk menschlichen Wissens und Könnens gleichwohl, wie insbesondere in Hugo von St. Viktors Didascalicon, den artes liberales axiologisch noch nachgeordnet werden. Daran schließt mit Siegfried Zielinskis Beitrag ein vergleichender Blick auf die technischen Errungenschaften der arabischen Welt in der Zeit der sog. »islamischen Renaissance« (ca. 9.-12. Jh.). Dabei wird deutlich, dass in dieser Zeit die Technik der Araber der okzidentalen Technik durchaus überlegen ist; gewiss auch ein Grund, weshalb zahlreiche der in den Folgebeiträgen angeführten Automaten im Orient lokalisiert werden oder von dort stammen. Anschauungsreich rekonstruiert Zielinski anhand exemplarischer Objekte (Wasserpumpen, Musikautomaten) die Komplexität und Ingeniosität islamischer Ingenieurskunst. Bedauerlich bleibt allenfalls, dass Zielinski, der des Arabischen offenbar nicht mächtig ist, diese Technik kaum in den weiteren kulturellen, insbesondere auch theologischen Kontext einbettet. Mit Blick auf die Folgebeiträge hätten sich hier gewiss weitere spannende Vergleichsmöglichkeiten ergeben. Ebendiesem potentiellen Konfliktfeld von Theologie und Technik widmet sich Udo Friedrich. Anhand des Automaten, der die Grenze ›belebt‹/ ›unbelebt‹ problematisiert, zeichnet er nach, wie menschliches und göttliches Schöpfungsvermögen hier miteinander in Wettstreit treten. Neben den deus artifex tritt der Mensch als quasi alter deus. Mehr als ein rein technisches Phänomen bildet der Automat daher auch einen diskursiven Knotenpunkt, an dem »die produktiven Vermögen von Gott, Natur und Mensch und ihre wechselseitige Relation: Schöpfung, Zeugung und Herstellung« (S. 68) verhandelt werden. Die Figur des Automaten bildet auch das Leitmotiv der drei folgenden Beiträge von Susanne Friede, Christian Buhr und Brigitte Burrichter. Anhand zahlreicher Beispiele aus der v.a. französischen und deutschen Literatur des Mittelalters – von den altfranzösischen romans antiques über den Tristanstoff bis zu Ariost – zeichnen sie anschaulich die teils überraschend detaillierte technische Imagination dieser Apparaturen nach, ohne dabei deren jeweilige intradiegetischen Funktionen und ihre semantische Mehrfachcodierungen zu vernachlässigen. Einen Höhepunkt hierbei bildet gewiss Christian Buhrs subtile Deutung von Tristans salle aux images. Burrichters Lektüre von Ariosts Orlando furioso hätte man sich hingegen etwas ausführlicher gewünscht. Immerhin zeichnet sich hier geradezu exemplarisch das bedrohliche Potential moderner Technik für eine mittelalterliche Welt- und Wertordnung ab, wenn mit der Erfindung des Schießpulvers und moderner Kriegstechnik ein ritterliches Selbstverständnis obsolet wird. 2 Insgesamt fällt bei den bislang genannten Beiträgen auf, dass sie auf den Begriff ›Science-Fiction‹ weitgehend problemlos verzichten können. Die Imagination technisch noch nicht einlösbarer Apparaturen und Automaten wird vielmehr über die Semantik des Wunderbaren, der Magie und gelegentlich auch des Dämonischen erfasst. Einer ganz anderen Form der Technisierung oder Mechanisierung widmet sich Viola Tenge-Wolf, die Ramon Llulls zahlreiche Entwürfe zu einer kombinatorischen ›Denkmaschine‹ zumindest in ihren Grundzügen vorstellt. Dabei zeigt sie zugleich, dass die Kombinationstechnik des mallorquinischen Denkers, die etwa noch Leibniz faszinierte, weit produktiver darin war, neue Fragen zu entwerfen, als jene unanfechtbaren Antworten auf bereits bestehende Frage zu liefern, die Llull sich insbesondere in Glaubensfragen davon versprach. Llulls ›Denkmaschine‹ entlastet also nicht vom Denkvorgang, sondern intensiviert diesen vielmehr, indem sie das Denken mit neuen, erst auf dem Weg der Kombinatorik aufgefundenen Fragen konfrontiert.

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Während die bisher vorgestellten Beiträge ein hohes Maß wechselseitiger Kohärenz aufweisen und sich vielfach sinnvoll ergänzen, fallen die drei folgenden Beiträge etwas aus dem Rahmen. Stefan Bürger befasst sich mit Repräsentationen des babylonischen Turmbaus in mittelalterlichen Handschriften – aus bautechnischer Sicht. Das mag für Bauhistoriker interessant sein, für Literatur- und Kulturwissenschaftler im engeren Sinne fehlt hier aber doch ein wenig die Deutungsebene des babylonischen Mythos. Auch bleibt Bürgers beschließender Befund, technisch-architektonische Meisterleistungen im Kirchenbau wie insbesondere etwa das Straßburger Münster seien positiv umbesetzte Versionen des Turmbaus zu Babel spekulativ und wird weder durch Quellen noch durch konkrete visuelle Bezugnahmen auf den Mythos belegt. Eike Lossing, als Vertreter der Europäischen Ethnologie, widmet sich sog. ›Sakralautomaten‹, d.h. in den religiösen Ritus eingebundenen Automaten, die teilweise auch in den mediävistischen Beiträgen bereits thematisch wurden. Leider aber findet Lossin hier zu keiner klaren gedanklichen Linie, reißt nur zwei Sakralautomaten kurz an, um sich sodann auf Uhren zu konzentrieren. So hinterlässt die Studie den Eindruck einer verpassten Gelegenheit, die ein Kunst- oder Liturgiehistoriker womöglich kompetenter ergriffen hätte. Etwas losgelöst von allen übrigen Beiträgen erscheint derjenige von Frank Kleinehagenbrock, der einen knappen und verdichteten Abriss über die historischen Voraussetzungen der Industrialisierung liefert. Dabei wird aber weder eine neue These präsentiert, noch findet die Dimension technischer Imagination in irgendeiner Form Eingang in Kleinehagenbrocks Darstellung. Damit verbleibt doch der Eindruck, dass der Band ohne die drei genannten Arbeiten insgesamt geschlossener und stimmiger ausgefallen wäre.

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Die beiden beschließenden Beiträge reißen das Ruder wieder herum und kehren in literaturwissenschaftliches Fahrwasser zurück. Hania Siebenpfeiffer widmet sich dem unvordenklichen Wunsch des Menschen fliegen zu können und dessen technischen und literarischen Umsetzungsversuchen vom 16. bis 18. Jahrhundert. Dabei zeichnet sie anschaulich zahlreiche der teils kurios anmutenden Apparaturen nach, die etwa Tito Livio Burattini oder Francesco Lana di Terzi entwarfen, um in einem zweiten Teil anhand dreier fiktionaler Texte die imaginären Fortführungen dieser Flugversuche zu verfolgen: Francis Godwins The Man in the Moone, Cyrano de Bergeracs Les états et empires de la lune et du soleil und Eberhard Christian Kindermanns Die Geschwinde Reise auf dem Lufft-Schiff nach der obern Welt. Dabei kann man Siebenpfeiffers Beobachtung, der Rückgriff auf das experimentell-naturwissenschaftliche Wissen der Zeit erfülle innerhalb der genannten Texte eine Beglaubigungsfiktion unschwer folgen. Problematisch hingegen erscheint ihre sehr viel weiter reichende Folgerung, »die literarischen Flugvisionen der Frühen Neuzeit [ließen sich] vor dem Hintergrund der technischen und physikalischen Erfindung des Fliegens als Teil einer Wissenspraxis begreifen, in der Literatur und Naturforschung noch nicht scharf voneinander abgegrenzt, sondern durch wechselseitige Bezüge eng miteinander verbunden waren« (S. 222). Wäre dem so, dann müsste auch umgekehrt der Nachweis geführt werden, dass die literarischen Entwürfe auf die experimentelle Praxis zurückwirken, und diesen bleibt Siebenpfeiffer schuldig. Symptomatisch für diese epistemologische Entdifferenzierung ist dabei auch die Aussage, der Astronom Kindermann habe Lücken in der Empirie durch seine Imagination einer Mond- und Sonnenreise »vervollständigen« (S. 222) können. Aber ist das Durchspielen einer wissenschaftlich gestützten Hypothese qua Imagination bereits Wissen? Angesichts der seit der Jahrtausendwende intensiv geführten Diskussion über Literatur und Wissen erscheint dieser Standpunkt doch zu undifferenziert. 3 Mit E. T. A. Hoffmann, Mary Shelley und Goethe überschreitet der abschließende Beitrag von Wolfgang Riedel die Schwelle zur Moderne und spürt anhand von Hoffmanns Sandmann, Shelleys Frankenstein und Goethes Faust II der Imagination künstlicher Menschen nach, für die er in der ›Sattelzeit‹ eine grundlegende Umstellung von technomorphen auf biomorphe Modelle verzeichnet. Was in den mediävistischen Beiträgen noch als technische Höchstleistung dargeboten wurde, der Automat, erscheint hier nur mehr als obsolet gewordene Möglichkeit, den Menschen und seine künstliche Herstellung zu imaginieren. Denn ab 1800 beginnen mit der Herausbildung der Lebenswissenschaften andere Diskurse die Deutungshoheit über die Beschaffenheit des Lebendigen an sich zu ziehen und das gilt auch für die Wirkungspotentiale der Literatur. So indizieren die ›biomorphen‹»Androiden Goethes und Shelleys« bereits »ein ganz anderes Potential künftiger Möglichkeiten und Selbstirritationen des Menschen« (S. 281).

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Insgesamt weist der Band damit jene Schwankungen an fachlicher Tiefe und thematischer Passgenauigkeit auf, die mit dem Format einer Ringvorlesung vielfach verbunden sind. Dennoch gelingt es ihm letztlich überzeugend anhand immer wieder überraschender Beispiele, die oftmals hervorragend bebildert dargeboten werden, die longue durée technischer Imagination im Medium der Literatur zu erhellen, selbst wenn es dafür vielleicht noch treffenderer Begrifflichkeiten als ›Science-Fiction‹ bedürfte, durch die man die Phänomene wohl doch zu sehr auf ein teleologisch zugespitztes Vorspiel zur Moderne verkürzt. Formal bleibt anzumerken, dass mehrere Autor(inn)en lediglich den unbearbeiteten Vorlesungstext anbieten. Das ist gewiss nicht den Herausgeberinnen anzulasten, zeigt aber eine ärgerliche Bequemlichkeit an, die man als Leser nur ungern akzeptiert. Vielleicht ist es im Kontext von Technik und Imagination beschließend legitim, Francis Bacon zu zitieren, aus dessen Essays das bekannte Diktum stammt: »Some books are to be tasted, others to be swallowed, and some few to be chewed and digested«. Appliziert auf den vorliegenden Band hieße das, dass man manche der hier dargebotenen Aufsätze wohl eher flüchtig zur Kenntnis nehmen wird, bei einigen wiederum lohnt sich die gründliche Einverleibung.

 
 

Anmerkungen

Die (auch theoretische) Adelung des Genres dokumentieren neben klassischen Studien wie denjenigen Darko Suvins auch die Tatsache, dass es bereits 2003 in die angesehene Reihe der Cambridge Companions aufgenommen wurde. Vgl. James Edwards (Hg.): The Cambridge Companion to Science-Fiction. Cambridge: Cambridge University Press 2003.    zurück
Vgl. hierzu Niklas Bender: Heldendarstellung in AriostosOrlando furioso. Herrscherlob und erzählerisches Ingenium in postheroischen Zeiten. In: Romanistisches Jahrbuch 69 (2018), S. 119-158.   zurück
Einige kritische Überlegungen zu diesem Themenfeld finden sich bereits in Nicolas Pethes: Poetik/ Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers. In: Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann (Hg.): Romantische Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 341-372.   zurück