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Im langen Schatten starrender Gipfel. Von prekären Bergen, Figuren und Erzählern in der deutschsprachigen Literatur nach 2000.

  • Leonie Silber: Poetische Berge. Alpinismus und Literatur nach 2000. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 405) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019. 307 S. 7 Abb. Gebunden. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 978-3-8253-6960-6.
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Die Alpen meide ich, ebenso Reisen in die nähere oder weitere Umgebung – bei uns gibt es keine Natur mehr, da kann ich genausogut die gedruckten Kulturlandschaften zwischen zwei Buchdeckeln auf mich wirken lassen.
(Ilija Trojanow, EisTau, 2011)

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Das Jahr 2002 wurde von der UN-Vollversammlung zum Internationalen Jahr der Berge erklärt. Die dadurch erhoffte Aufmerksamkeit sollte der bereits 1992 auf der Konferenz für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro festgehaltenen Beobachtung zugutekommen, dass die Berge und mit ihnen alpine Lebensräume weltweit massiv unter der voranschreitenden Umweltzerstörung leiden und es neuer, nachhaltiger Umgangsformen bedarf. Um diese schon einmal in den Blick zu rücken und einzuüben, war 2002 überdies das Internationale Jahr des Ökotourismus – worüber ein Streit entbrannte, ob diese ›nachhaltige‹ Form des Reisens Teil der Lösung sein könne oder nicht vielmehr Teil des Problems selbst sei, indem sie nun auch noch die touristische Erschließung der letzten intakten ökologischen Nischen befördere und legitimiere. Man könnte sagen: Mit Blick auf die Geröllhalden, die von sich zurückziehenden Gletscherzungen freigelegt wurden, läuteten die Vereinten Nationen mit dem Internationalen Jahr der Berge 2002 das Jahrzehnt, Jahrhundert – ja warum nicht gar Jahrtausend der ökologischen Krise und ihrer Bewältigung ein. Und als Prüfstein dieser Aufgabe von nie dagewesener Größenordnung dienen: die Berge.

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Damit hat, würde man meinen, Leonie Silbers Studie, die sich mit der bemerkenswerten Präsenz von zumeist hohen Bergen in der deutschsprachigen Literatur nach 2000 befasst, ihr Thema gefunden – aber weit gefehlt. Zwar kommt sie anlässlich der Besprechung von Ilija Trojanows Roman EisTau auf die Zerstörung der Alpen und des alpinen Lebensraumes durch Raubbau an der Natur einerseits und Massentourismus andererseits zu sprechen, aber sie interessiert sich weniger für den vom Protagonisten, dem Glaziologen Zeno geäußerten Befund, dass in unseren Breiten keine (unberührte) Natur mehr existiert – weswegen Zeno den Alpen den Rücken kehrt und auf einem Kreuzfahrtschiff in die Antarktis aufbricht –, sondern vielmehr für die von Zeno auf der homodiegetischen Ebene nicht gleichermaßen ernst gemeinte Aussage, man könne die Alpen gleich »zwischen zwei Buchdeckeln« aufsuchen. Genau das macht Leonie Silber: Zenos metapoetischer Anweisung folgend schlägt sie Bücher auf – seltener spielt sie einen Film ab –, in denen Berge, die wiederum aus Versatzstücken anderer Berge aus früheren Büchern und Filmen bestehen, eine zentrale Rolle spielen. Es ist in erster Linie ein intertextuelles Unterfangen, das sie unternimmt. Folgerichtig rücken – wiewohl es sich um eine Studie der Literatur nach 2000 handelt – immer wieder Texte aus früheren Jahrzehnten und Jahrhunderten in den Blick. Sie hat es mit »Textbergen« (S. 19) zu tun. Auch den Alpinismus, dessen »Liaison« (S. 27) mit der deutschsprachigen Literatur nach 2000 sie untersucht, versteht sie zuvorderst nicht als Praxis, sondern als »literarisches Phänomen« (S. 22), eingebettet in zahlreiche immer schon vorhandene Zeichensysteme. »Bergbegegnungen [sind] sekundärer Natur« (S. 27), die Bergreisenden Nachgänger. Der Untertitel »Alpinismus und Literatur nach 2000« ist folglich nur eingeschränkt zu verstehen, der Titel »Poetische Berge« hingegen Programm: Leonie Silber geht es weder um Ecocriticism noch, wie vielen anderen Studien aus dem letzten Jahrzehnt, um eine Kultur- oder Wissensgeschichte des Alpinismus – an der die Literatur durchaus ihren Anteil hat –, sondern um die Poiesis von Textbergen. Ihr erklärtes Ziel ist es, eine »Ästhetik des Alpinen« (S. 28) für die jüngste Nachmoderne zu skizzieren (mehr zum Epochenbegriff Nachmoderne später) und nach Möglichkeit eine den untersuchten Texten gemeinsame Literarisierung und Funktionalisierung der Berge aufzuzeigen.

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Ein erstes Kapitel ist Elfriede Jelineks Drama In den Alpen (2002) gewidmet: Im Internationalen Jahr der Berge und des Ökotourismus erschienen, behandelt das Drama die Brandkatastrophe von Kaprun, bei der 155 Menschen zum Start der Ski- und Snowboardsaison den Tod fanden, weil ein bergauf fahrender Zug der Gletscherbahn im Tunnel in Brand geriet. Silber folgt Jelineks Regiebemerkung, wonach »nichts an der Einrichtung an Wintersport oder auch nur Technik erinnern« soll, »eher Hirschgeweihe an den Wänden« (S. 37), und spürt den intertextuellen Verweisen nach, die »das Drama am Kitzsteinhorn mit dem Menschheitsverbrechen von Auschwitz« (S. 39) verknüpfen. Und so führt sie ihre Lektüre u. a. zurück zu Leo Maduschkas Essay Bergsteigen als romantische Lebensform (postum 1932), Luis Trenkers Bergfilm Der Berg ruft (1938) und Paul Celans Erzählung Gespräch im Gebirg (1960). Jelineks Drama, schreibt Silber, »lässt sich von hier aus als ›eine Archäologie des Faschismus‹ lesen, die gewissermaßen die diskursiven Verbindungen von Alpinismus und Nationalsozialismus ausleuchtet […], die bis in die Gegenwart hinein wirksam« (S. 51) sind.

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Über die Auswahl der von ihr untersuchten literarischen Texte gibt Silber keine Auskunft. Das fällt insofern auf, als dass nach 2000 zahlreiche, darunter auch viel diskutierte Texte erschienen sind, die in dieser Studie keine Erwähnung finden, obwohl auch sie mit hohen Bergen drohen, locken und verlocken. Aber Vollständigkeit ist kein Kriterium dieser Arbeit, und kann es wohl auch nicht sein. Ebenso wenig erläutert Silber die Gliederung ihrer Studie, die Abfolge der von ihr untersuchten Texte (die grob chronologisch ist). Dass sie mit Jelineks Drama beginnt, macht aber Sinn. Die hier geschaffene Verknüpfung von Alpinismus und Nationalsozialismus findet sich in mehr oder weniger expliziter Form in ihrer Lektüre aller anderen Texte wieder. Die Berge des 21. Jahrhunderts stehen in dieser Studie noch immer im langen Schatten jener Berge – der Eiger, der Obersalzberg, der Nanga Parbat –, die das NS-Regime für sich und seine Ideologie zu vereinnahmen wusste. Mit diesem Fokus auf den Nationalsozialismus befindet sich Silber in guter Gesellschaft; keine andere Epoche in der Geschichte der Entdeckung und Eroberung der Berge bzw. des Alpinismus ist besser erforscht. Insbesondere im vergangenen Jahrzehnt erschien eine Vielzahl von Studien, die sich mit der Bedeutung des Bergsteigens für die nationalsozialistische Bewegung befassten, 1 und der Deutsche und Österreichische Alpenverein arbeiteten ihre unrühmliche NS-Vergangenheit auf. 2 Indem die vorliegende Studie mit Jelineks Drama einsetzt, schreibt sie sich implizit auch in die gegenwärtige Forschungslandschaft ein.

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Im Zentrum des zweiten Kapitels steht Christoph Ransmayrs Roman Der fliegende Berg (2006). Es handelt vom »sekundären Charakter des Reisens und der Reiseliteratur in einer kartografisch vollständig erfassten Welt« (S. 73), dem auch eine Expedition in den Himalaya nicht entfliehen kann, vom auf dem Buchmarkt erfolgreichen Phantasma der Entdeckung und Eroberung bzw. dessen Nachleben in der Literatur, das alle (fiktiven) Alpinisten auf dem Weg zum Gipfel zu Nachfahrenden macht, und von der kolonialen Landnahme, für die Silber mit den Spuren im Weiß des Schnees bzw. auf weißem Papier ein einprägsames Bild gewinnt. Wobei sich auch dieses Weiß auf Silbers intertextueller Spurensuche schnell wieder verflüchtigt und einem braunen Sumpf weicht, durch den in den 1930er Jahren zahlreiche nationalsozialistische Himalaya-Expeditionen gewatet sind.

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Ein nächstes Kapitel ist drei Romanen von Christian Kracht gewidmet: Faserland (1995), 1979 (2001) und Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008). Das Hochgebirge im Allgemeinen und einzelne hohe Berge im Speziellen fungieren in allen drei Texten als entrückte Sehnsuchtsorte, »denen die großen und kleinen Fluchten der männlichen Figuren gelten« (S. 110). Es handelt sich bei ihnen um Collagen, entstanden aus Versatzstücken »des kulturellen Archivs« (S. 125), um ein »hochreflexives poetisches Terrain« (S. 138). Und auch im Fall von Kracht stellen insbesondere die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts die Archivalien bereit, aus denen sich die fiktiven Berge zusammensetzen. Anders als Jelineks Alpen aber fördern Krachts Berge aus ihrem Wurzeln im Faschismus und Totalitarismus keinen Sinn mehr zutage: Krachts Berge vermögen es letztlich nicht, »etwas außer sich zu bezeichnen oder zu berühren« (S. 127). Besonders deutlich tritt dieses Unvermögen in seiner Alternativweltgeschichte Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten zutage. Weil Lenin 1917 nicht den Zug nach Russland genommen hat, sondern in seinem Schweizer Exil geblieben ist, befindet sich nun die Schweizer Sowjetrepublik (SSR) im Krieg gegen den Faschismus. Das symbolische Zentrum der SSR ist das Réduit, das dem Schweizer Verteidigungsdispositiv im (faktischen) Zweiten Weltkrieg entspringt: Im Falle eines Angriffs der Achsenmächte hätte die Schweiz das dicht bevölkerte und mit reichen Ressourcen ausgestattete Mittelland aufgegeben und sich auf die Verteidigung des Alpenraums, insbesondere des Gotthardmassivs, konzentriert. Auf jenen »Berg der Scheidung und […] Pass der Verbindung«, an dem laut Schweizer Bundesrat in einer Botschaft an die Bundesversammlung vom 9. Dezember 1938 »eine gewaltig grosse [sic!] Idee ihre Menschwerdung, ihre Staatwerdung« erlebte: »eine europäische, eine universelle Idee: die Idee einer geistigen Gemeinschaft der Völker und der abendländischen Kulturen!« 3 Elias Canettis Urteil, die Schweizer besäßen mit ihren Bergen das unerschütterlichste Massensymbol aller Nationen, wird in dieser Alternativweltgeschichte wortwörtlich genommen, aber auch ad absurdum geführt. 4 Es handelt sich beim Réduit um ein wie ein Schweizer Käse ausgehöhltes, verlassenes, leeres Zentrum einer politischen Ordnung, die sich selbst reproduzierend nach knapp 100 Jahren Krieg schon längst ohne ihre Träger auskommt. Die universelle Idee, die dort ihre ›Menschwerdung‹ erlebt haben soll, bedarf der Menschen nicht länger. In einem gelungenen Vergleich stellt Silber fest: »Das Réduit, das Zentrum der etablierten Herrschaftsordnung, erwiese sich dann als ein Conrad’sches Herz der Finsternis« (S. 134). Dass es im Réduit aber insbesondere deswegen finster ist, weil die Tradition immer weiter fortgeschrieben wird – um nicht zu sagen: in Stein gemeißelt ist –, weil die Alpen selbst in Krachts Alternativweltgeschichte noch immer im langen Schatten des Nationalsozialismus stehen – dies wäre noch eine gute Pointe gewesen.

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Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit dem Dokumentarfilm Am Limit (2007), der die »Huberbuam« genannten Brüder Thomas und Alexander Huber beim Klettern am El Capitan im Yosemite Valley begleitet, und Philipp Schönthalers Erzählung Nach oben ist das Leben offen (2012), die in einem in den Bergen gelegenen Sportheim spielt. Bestimmendes Thema sind die »Körpertechnologien«, die von den alpinen Schauplätzen eingefordert und hervorgebracht werden, und inwiefern diese über die »nachmodern[e] ›condition humaine‹«(S. 147) Auskunft zu geben vermögen. »Die hohen Berge«, schreibt Silber, bilden »einen Trainingsraum der sozialen Kälte und der physischen Kraft« (S. 152). Insbesondere in Schönthalers Erzählung bringen die Berge auch 2012 noch die von Helmut Lethen für die Zwischenkriegszeit ausgemachten »Verhaltenslehren der Kälte« hervor. 5 Weil es Silber in diesem Kapitel um die nachmoderne »condition humaine« geht, resultiert an dieser Stelle aus der vermehrten Präsenz hoher Berge in der deutschsprachigen Literatur nach 2000 tatsächlich andeutungsweise eine Epochendiagnose. Unter Verweis auf Lethen diskutiert sie in einer langen Fußnote auf S. 156f. das Verhältnis von Moderne und Postmoderne als Kälte-Wärme-Dichotomie und hält abschließend fest, dass sich Schönthalers Erzählung als »erneute Veränderung des soziokulturellen Klimas lesen [lässt], welche die Nachmoderne gewissermaßen in Minusgrade zurückführt« (S. 157). Das deckt sich mit ihren Lektüren, worin alle Texte nach 2000, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise, an die Zwischenkriegszeit anschließen. Die Präsenz hoher Berge in der deutschsprachigen Literatur nach 2000 markieren – das legt Silbers Studie nahe – eine Abkehr von postmodernen Positionen. Das ›Neue‹, das sich in dieser zweiten Phase der Nachmoderne Bahn bricht, wird in den von ihr ausgewählten Texten und Filmen als Wiederkehr der Moderne greifbar. Eine solche Epochendiagnose formuliert Silber aber nicht explizit. Und diese Vorsicht ist sicherlich gut begründet: Denn die Art und Weise, wie die fiktiven Berge die Moderne erneut heraufbeschwören, ist gleichwohl von postmodernistischer Machart. Inhalt und Form, könnte man vielleicht sagen, treten in den untersuchten Texten in gewisser Hinsicht auseinander.

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Das nächste Kapitel beschäftigt sich anlässlich der 2007 erfolgten Wiederauflage von Annemarie Schwarzenbachs Biographie des Bergsteigers Lorenz Saladin aus dem Jahr 1938 mit der Frage, ob das Schreiben über Berge in besonderer Art und Weise auf die Authentizität des alpinen Schauplatzes insistiert, wie das bereits für den in den 1920-30er Jahren erfolgreichen Bergfilm galt. 6 Es zeigt sich, so Silber, dass für die Wiederauflage der Biographie weniger »die Originalität der Feder als [vielmehr] die Authentizität des am Berg Erlebten von Interesse« (S. 182) war. Die auf dem Buchmarkt zwar relativ kleine, aber äußerst beständige Nische der Bergliteratur zeichnet sich auch dadurch aus, so könnte man zusammenfassen, dass die Medialität des eigenen Tuns – des Schreibens nämlich – vielfach verleugnet wird.

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Im Zentrum des folgenden Kapitels steht Brigitte Kronauers Erzählung Im Gebirg’ (2004) und die Frage nach der Gefahr, die von den Bergen ausgeht. Die Unfallstatistik des Deutschen Alpenvereins spricht eine klare Sprache: Während tödliche Unfälle in den Bergen rückläufig sind, ist das Gefühl der Gefährdung gestiegen: Der Bergrettungsservice wird immer häufiger von Alpinistinnen und Alpinisten in Anspruch genommen, und zwar des Öfteren in Situationen, die der Alpenverein als »ungefährlich[e] Blockierung« (S. 212) beurteilt. Damit wiederholt sich oben am Berg lediglich, was auch unten im Flachland zu beobachten ist: statistisch sinkenden Gefährdungszahlen auf verschiedenen Gebieten steht allerorten eine wachsende ›gefühlte‹ Verunsicherung und der Wunsch nach umfassender Risikominderung gegenüber. Kronauers Erzählung zeigt einen Touristen »in bergtauglicher Kleidung, dem die Ausrüstung auf der Wanderung abhandengekommen ist. Er ist ein Durchschnittsmann, dessen Wanderung nicht in extreme Höhen führen muss, um die Möglichkeit seines Ablebens zu beinhalten.« (S. 232) Damit fügt sie sich in die von Silber ausgemachte Tendenz der jüngsten deutschsprachigen Literatur, »das Hochgebirge auffällig häufig als Stätte der Prekarisierung, der Entledigung und des Verschwindens der sie begehenden Figuren« (S. 217) einzuführen.

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Ein letztes, sehr gutes Kapitel ist mit Ilija Trojanows Roman EisTau (2011), Armin Linkes Dokumentarfilm Alpi (2011) und Peter Handkes Roman Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002) befasst. Ihnen gemeinsam ist die Prekarisierung der Berge, die wiederum in den Künsten zu einer »Konjunktur des Gegenstandes« (S. 243) führt. Der vielfach beklagte Verlust intakter Berglandschaften bringt also die Textberge »zwischen zwei Buchdeckeln«, die von Silber begangen werden, erst hervor. Symptomatisch steht die Häufigkeit hoher Berge in der deutschsprachigen Literatur nach 2000 vielleicht doch für das Phänomen, das die Vereinten Nationen 2002 mit der Ausrufung des Internationalen Jahrs der Berge offensiv angehen wollten. Weil die Berge in dieser Literatur aber nur noch im Modus des Verlustes existieren, stellen sie auch »die Position der Betrachtenden zur Disposition« (S. 264). Prekär sind in der deutschsprachigen Literatur nach 2000 nicht allein die Berge, sondern auch die Figuren, die sie begehen, und die Erzähler, die ihre Geschichten festhalten. Damit sind die Berge wahrlich ein Prüfstein für das Kommende: wo sie erodieren, schwinden auch wir.

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Das abschließende Fazit, worin Silber versucht, eine den untersuchten Texten und Filmen zugrunde liegende Ästhetik sowie neu auch eine Ideologie des Alpinen auszumachen, ist der Abschnitt, der vielleicht am wenigsten überzeugen kann. Der Gewinn einer solchen einheitlichen Perspektive gestaltet sich aber auch schwierig, wenn – wie in der Einleitung angemerkt – bei der Untersuchung gleichermaßen »auf diskursanalytische, hermeneutische, poststrukturale, raumwissenschaftliche oder ecokritische Theoriebildungen zurückgegriffen« (S. 28) wurde. Außerdem vereint das Fazit widersprüchliche Feststellungen: Wenn »[l]iterarische Berge […] für die Reisenden in der Regel […] gut zugänglich [sind], [weil] zu ihnen […] Eisenbahntunnel, Berg- und Seilbahnen, Passstraßen oder Wanderwege« (S. 267) führen, ist kaum nachzuvollziehen, warum zu »den dominanten raumsemantischen Eigenschaften, welche die literarischen Berge in den besprochenen Beispielen gemeinsam haben, […] ihre Abgeschiedenheit, Abgeschlossenheit« (S. 270) gehören. Und wenn Silber zum Schluss kommt, dass u. a. bei Christian Kracht Berge als »idyllische und utopische Stätten gelingenden Lebens« (S. 270) auftreten, so wäre die gegenteilige Schlussfolgerung zumindest genauso wahr. Dabei ist es nicht so, dass Silbers Studie einer solchen Zusammenschau nicht vorgearbeitet hätte, nur wird sie nicht zum Abschluss gebracht.

 
 

Anmerkungen

Darunter: Wibke Backhaus: Bergkameraden. Soziale Nahbeziehungen im alpinistischen Diskurs (1860-2010). Frankfurt/M., New York: Campus 2016; Tait Keller: Apostles of the Alps. Mountaineering and Nation Building in Germany and Austria, 1860-1939. Chapel Hill: The University of North Carolina Press 2016.   zurück
Deutscher Alpenverein e. V., Oesterreichischer Alpenverein e. V., Alpenverein Südtirol e. V (Hg.): Berg Heil! Bergsteigen und Alpenverein 1918-1945. Köln u. a.: Böhlau 2011.   zurück
Botschaft des Bundesrates an die Bundesversammlung über die Organisation und die Aufgaben der schweizerischen Kulturwahrung und Kulturwerbung (Vom 9. Dezember 1938.). In: Bundesblatt II/50 (1938), S. 985-1035, hier S. 999.   zurück

Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt/M.: Fischer [1960] 1980, S. 192 f.

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Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994.   zurück
Vgl. Christian Rapp: Höhenrausch. Der deutsche Bergfilm. Wien: Sonderzahl 1997; Alexandra Ludewig: Der heilige Berg. In: Jürgen Heizmann (Hg.): Heimatfilm international. Stuttgart: Reclam 2016, S. 19-26.   zurück