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Gylfis Täuschung. Rezeotionsgeschichtliches Lexikon zur nordischen Mythologie und Heldensage.

  • Julia Zernack / Katja Schulz (Hg.): Gylfis Täuschung. Rezeptionsgeschichtliches Lexikon zur nordischen Mythologie und Heldensage. (Edda-Rezeption 6) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2019. 791 S.
    ISBN: 978-3-8253-6874-6.
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In der Gylfaginning (Gylfis Täuschung), Teil der auch ›Prosa-Edda‹ genannten ›Edda‹ des isländischen Skalden Snorri Sturluson aus dem 13. Jahrhundert, bricht der sagenhafte schwedische König Gylfi zu den Asen auf und befragt sie in einer prächtigen Halle zum Ursprung, Aufbau und weiteren Schicksal der Welt. Am Ende des langen Wissensgesprächs, das eine nordische Mythologie entfaltet, verschwindet alles urplötzlich mit großem Lärm, und Gylfi steht auf dem freien Feld: Alles war nur Gylfis Täuschung. Aber das Erzählte, nun einmal in der Welt, wird weitererzählt und das Weitererzählte wiederum weitererzählt, und insofern könnte ein Buch, das sich mit der Rezeptionsgeschichte nordischer Mythologie befasst, wohl kaum einen besseren Titel erhalten.

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Das von Julia Zernack und Katja Schulz herausgegebene rezeptionsgeschichtliche Lexikon, das ohne Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft nicht zustande gekommen wäre (s. Zernack und Schulz, ›Einleitung‹, S. 7-19, hier S. 19), wählt insgesamt nur 72 alphabetisch lemmatisierte Artikel aus. Beiträge sind – um nur einige Beispiele zu nennen – grundlegenden Werken oder Werkteilen wie der ›Edda‹ (Klaus Böldl, S. 117-130), dem Eddalied von der Mühle Grotti, Grottasöngr (Zernack, S. 265-275), oder der Völuspá, einem Gedicht aus der Liederedda (Sarah Timme, S. 657-682), gewidmet und selbstverständlich auch Snorri Sturluson (Beatrice La Farge und Schulz, S. 561-590), dem Verfasser der ›Prosa-Edda‹. Zentrale mythologische Narrative und Motive werden aufgenommen wie die Einwanderung der Asen (Zernack, S. 158-173), die Ragnarök (Florian Heesch, S. 498-519) und der Weltenbaum Yggdrasil (Thomas Esser, S. 747-756). Vertreten sind auch die wichtigsten Götter und Göttinnen, unter ihnen selbstverständlich Thor (Martin Arnold, S. 590-607) und Freyia (Esser, S. 219-228). Ein eigenes Lemma erhalten auch nicht-göttliche Figuren wie das erste Menschenpaar Ask und Embla (Cornelia Jung, S. 30-33) und die Walküren (Schulz, S. 717-740), Räume und Orte wie die Götterburg Asgard (Schulz, S. 27-30) und die Walhall (La Farge und Schulz, S. 701-717).

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Nicht wenige unter den ausgewählten Artikeln befassen sich mit dem vielfältigen Nachleben der nordischen Mythologie und Heldensage in nahezu allen Kulturbereichen. Sie werden jeweils in Längsschnitten erschlossen: ›Literatur‹ (Schulz, S. 341-359), ›Fantasy‹ (Fulvio Ferrari, S. 176-187), ›Musik‹ (Heesch, S. 396-415), ›Performative Darstellungen‹ (Heesch, S. 475-486). Ergänzt werden sie durch exemplarisch vorgestellte Schriftsteller (u. a. Thomas Gray [Alison Finlay, S. 254-257]), bildende Künstler (z. B. der dänische Maler und Graphiker Lorenz Frølich [Timme, S. 228-233]), Musiker (z. B. der isländische Komponisten Jón Leifs [Heesch, S. 337-340]) und Gelehrte wie Karl Joseph Simrock (Jennifer Baden, S. 554-561).

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Breite dank Beschränkung

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Vor allem durch die rigorose Beschränkung auf sehr wenige Artikel, die Raum zulässt, um eine sehr große Breite von Facetten und Aspekten mit beachtlicher Ausführlichkeit vorzustellen, durch den dezidiert rezeptionsgeschichtlichen Zuschnitt und einen gelegentlich enzyklopädischen Anstrich, der sich der außergewöhnlichen Inklusivität der Rezeptionszeugnisse verdankt, erlangt ›Gylfis Täuschung‹ ein eigenes Profil. Mithin unterscheidet sich das Lexikon, nach allem Gesagten nicht verwunderlich, sehr stark von den vertrauten mythologischen Sachwörterbüchern. Die Artikel in Rudolf Simeks ›Lexikon der germanischen Mythologie‹ (2006) beispielsweise sind sehr viel kürzer als die von Zernack und Schulz ausgewählten Beiträge; dafür bietet Simek etwa 1800 Lemmata, das Fünfundzwanzigfache der für das vorliegende Lexikon ausgewählten Artikel. Und für die schnelle erste Orientierung, für den zeitsparenden Zugriff auf zahlreiche, einfach abzurufende und bündige Einzelinformationen bleiben Sachwörterbücher wie das von Simek weiterhin unverzichtbar und können von einem Nachschlagewerk wie ›Gylfis Täuschung‹, das man vielleicht auch als Handwörterbuch bezeichnen könnte, nicht ersetzt werden. Die friedliche Koexistenz grundverschiedener Typen von reference books muss demnach gar nicht erst eingeklagt werden.

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Das vorliegende Nachschlagewerk steht, wie keines zur nordischen Mythologie vor ihm, im Zeichen des Diskurses. Denn auf geradezu programmatische Weise werden Fakten nicht aus ihren Umgebungen herausgetrennt, sondern im Kontext ihrer Diskurse, theoretischer, (mythen-)politischer wie ästhetischer, gewertet. Auf besondere Weise deutlich wird dies in Beiträgen über Baldr (Zernack, S. 36-77) und Odin (ead., S. 434-467). Sie bieten auf umfassender und detaillierter Dokumentation beruhende, mit üppigen bibliographischen Angaben bestückte präzise und souveräne Diskursanalysen, die zu weiterführenden Forschungen reizen. Nicht von allen Artikeln des Bandes wird jedoch dieses bestechend hohe Maß an Tiefenerschließung erreicht. Insgesamt wird ein weitgehend ungewohnter Typus von Nachschlagewerk vorgegeben, dem eine größere Zukunft beschieden sein dürfte als Lexika der vereinfachend vorgetragenen, dekontextualisierten, vorgeblich ›reinen‹ Fakten. Den Autoren des Lexikons wurde dabei der »Freiraum gelassen, Schwerpunkte nach ihren Interessen und ihrer Beurteilung der Relevanz zu setzen« (S. 16). Fast zwangsläufig werden einzelne Befunde daher wiederholt; da sie jedoch in der Regel auf das Thema des jeweiligen Beitrags zugeschnitten sind, schadet dies nicht.

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Immer wieder erstaunt, welch verwirrend unterschiedliche (kultur-)ideologische Positionen, politische Überzeugungen, Kunstrichtungen und literarische Strömungen, Mythenverständnisse und hermeneutische Milieus, welch vielfache Phantasien unter dem thematischen Dach ›Rezeption nordischer Mythologie‹ versammelt sind. So hat in der Überlieferungsgeschichte nordischer Mythologie und Heldensage Richard Wagners ›Götterdämmerung‹ (Heesch über Wagner, S. 688-701) ebenso ihren Platz wie viele Firmen- und Produktnamen sowie Texte und Bilder der Werbung (Zernack über ›Werbung‹, S. 740-746), Thomas Manns Novelle ›Wälsungenblut‹ (›Völsungen‹, Matthias Teichert, S. 649-653, hier S. 651) ebenso wie die gewitzten Asterix-Comics von René Goscinny und Albert Uderzo (S. 708, S. 714).

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Vorbilder und Konzept

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Führt man sich nun die vielen Narrative der nordischen Mythologie vor Augen, die in die populären Kulturen und Mythen des Alltags gewandert sind, könnte man dazu neigen, in Roland Barthes ›Mythen des Alltags‹ (›Mythologies‹, 1957) eine Art Leittext für das vorliegende Nachschlagewerk zu sehen. Jedoch dürfte dieses stärker noch von Hans Blumenbergs ›Arbeit am Mythos‹ (1979) beeinflusst sein (s. u. a. 8 sq., S. 342, S. 738) und dessen Einsichten, dass Mythen nicht auf einen authentischen Anfang zurückgeführt werden können, d. h. immer schon rezipierte sind und dass sie durch die ikonische Konstanz einiger weniger Motive weiterleben. Und, teilweise in Anlehnung an Blumenberg, ist denn auch nordische Mythologie, so wie sie im vorliegenden Lexikon vermittelt wird, schon beginnend mit Sturlusons ›Prosa-Edda‹, nichts in Urtexten Festgeschriebenes, nichts Statisches, nichts, was vor kreativer (Um-)Deutung und noch nicht einmal vor dem Zugriff wildester Vereinnahmungen geschützt werden müsste. Nein, nordische Mythologie, ein dynamisch wachsender Bestand an Texten und Bildern, inkorporiert all ihre Rezeptionen, alle Anverwandlungen und Transformationen. Vieles davon ist erratisch, undeterminiert, zufällig, gesunken, wie die der nordischen Mythologie entlehnten ›Namen und Benennungen‹ (Schulz, S. 415-423) belegen. Denn zu ihnen zählen selbst solche für neu entdeckte Monde und, aufgrund des regionalen Bezuges dann doch schon naheliegender, für Ölfelder in der Nordsee.

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Das Lexikon ist ebenso sehr aus philologisch-literaturwissenschaftlicher wie aus kulturwissenschaftlicher Perspektive konzipiert. Exemplarisch sichtbar wird ein dezidiert philologisches Interesse in dem Beitrag über Edda-Übersetzungen (Timme, S. 136-157) oder wenn am Beispiel der Ragnarök die »Textgestalt der mittelalterlichen Quellen« ins Zentrum des Interesses gerückt wird und nicht die »Frage nach älteren, mündlich überlieferten Weltuntergangsvorstellungen« (Heesch, S. 505). Eine kulturwissenschaftliche Signatur erlangt der Band vor allem durch das gelungene Bestreben, das Gesamt der Lebensbereiche und kulturellen Objekte in den Blick zu nehmen, den Popularisierungen nordischer Mythologie – beispielhaft seien hier nur die zahlreichen, beinahe in jedem Artikel aufgeführten Belege aus der Metal-Musik genannt (u. a. S. 29, S. 227, S. 408 sq., S. 461 sq., S. 710 sq.) – breiten Raum zu gewähren und so auch der Intermedialität der Rezeption die ihr zustehende Bedeutung zuzuweisen. Hervorgehoben wird der kulturwissenschaftliche Anspruch auch durch die zahlreichen Illustrationen, für die die Autoren auf das umfängliche Reservoir der Edda-Sammlung am Institut für Skandinavistik der Goethe-Universität Frankfurt am Main zurückgreifen konnten. Zu den vielfältigen Objekten mit ›Edda‹-Bezug, die hier gesammelt werden und das kulturelle Gedächtnis zu einem nicht unbeträchtlichen Maße als Bildgedächtnis ausweisen, gehören viele der Alltagskultur an: z. B. Spielzeug, Postkarten und Reklamebilder. Nicht wenige sind Kuriosa. Jedoch sind, offensichtlich durch Platzmangel bedingt, viele Abbildungen von sehr kleinem Format; somit sind manche Texte aufgrund kleinster Schriften kaum lesbar, Bilddetails, etwa randständige Figuren oder symbolträchtige Ornamentik (s. z. B. S. 224) nicht erkennbar. Überdies können die Abbildungen im Fall großformatiger, aber auch schon mittelformatiger Gemälde die Kraft und Wucht des Mythologischen, den Habitus einzelner Figuren sowie Atmosphärisches nur eingeschränkt vermitteln wie z. B. im Fall von Johann Heinrich Füsslis (Timme, S. 233-238) Gemälde ›Thor im Kampf mit der Midgardschlange‹ (S. 235). In kommentierenden und erläuternden Bildunterschriften wie auch im fortlaufenden Text wird jedoch zumeist das für die Interpretation Unerlässliche erläutert.

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Das in der Regel bedachtsam und ausgewogen argumentierende, sorgfältig und treffsicher formulierende Nachschlagewerk zeugt – für eine rezeptionsgeschichtliche Perspektive wünschenswert, doch nicht selbstverständlich – von großem Respekt für die Leistungen der Gelehrten vergangener Zeiten. Beispielsweise werden obsolete Interpretationen wie die unter den mythentheoretischen Ansätzen über lange Zeit dominanten, heute als überholt geltenden naturmythologischen Deutungen (s. u. a. S. 42, S. 127, S. 269, S. 445, S. 528-530) mit spürbarer intellektueller Neugier und Nachsicht vorgestellt. So sehr auch immer wieder die Zeitgebundenheit aller Rezeption betont wird (z. B. S. 279, S. 684, S. 686), weicht das Lexikon bei allem dennoch ideologiekritischer Strenge nicht aus. Es benennt auf unmissverständliche und auch notwendige Weise verschiedene, nicht immer leicht voneinander zu trennende rechtskonservative, nationalromantische, nationalreligiöse, (deutsch-)nationale, völkische, nationalistische, rechtsextreme oder nationalsozialistische Positionen. Besonders deutlich erkennbar ist der diskurs- und ideologiekritische Ansatz in den Beiträgen ›Propaganda‹ (Zernack, S. 486-498), ›Völkische Bewegung‹ (Uwe Puschner, S. 643-648), ›Frauenbilder‹ (Schulz, S. 191-219) sowie ›Kontinuität‹ von Heesch (S. 320-334), der im Titel seines Beitrags offensichtlich auf den ideengeschichtlich belasteten Begriff der ›Tradition‹ verzichtet und eine klare Kritik an essentialistischen Deutungen nordischer Mythologie und an deren Suggestion überzeitlicher Gültigkeit vorträgt.

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Eine Neubewertung der nordischen Mythologie

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Das größte Verdienst des Bandes – aus dem Frankfurter Projekt ›Edda-Rezeption‹ hervorgegangen und in der ihm zugewiesenen Reihe ›Edda-Rezeption‹ erschienen – liegt aber wohl in einer weitreichenden Rehabilitierung und Neubewertung der nordischen Mythologie und in dem für sie erzielten Bedeutungsgewinn. Zwar unterstreichen die Herausgeberinnen zu Recht, dass »Referenzen auf nordische (meist für ›germanisch gehaltene‹ Mythen) als ›national‹ und ›modern‹ zugleich gelten konnten« (Einleitung, S. 11). Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass viele mit nordischen Mythen weniger Vertraute diese, insbesondere wenn sie als germanische verstanden werden, eher mit dem Rückständigen, Reaktionären und Chauvinistischen assoziieren. Im vorliegenden Handbuch wird hingegen nachhaltig deutlich, dass die nordische Mythologie und ihre Deuter ebenso für Modernes, Vorwärtsgewandtes und Zukünftiges stehen können. Nordische Mythen werden beispielsweise in den Dienst ökologischer und feministischer, progressiv-linker und kapitalismuskritischer Einstellungen genommen. Sie versinnbildlichen auch – dies dürfte einige Leser besonders überraschen – die Technik eines neuen Zeitalters. So wird z. B. aus dem einst brutalen Völundr der Mythologie als »Sinnbild der Industrialisierung« ein »harmlose[r] Schmied« (›Werbung‹, Schulz, S. 740-746, Zitat S. 743), und so werden Ende des 19. Jahrhunderts in Schweden, beruhend auf der »Assoziation der Telefonleitungen mit den Schicksalsfäden«, die Telefonistinnen der Telefonvermittlung als Nornen dargestellt (›Nornen‹, Jung, S. 427-434, Zitat S. 433). Dass dessen ungeachtet die nordische Mythologie bis heute einen schweren Stand hat, erklärt sich auch durch die immer noch zu beobachtende Dominanz und »Omnipräsenz graeco-römischer Götter und Helden« (Einleitung, S. 13). Denn weit entfernt waren für viele (und sind es weiterhin) die oft als düster empfundenen nordischen Götter von den Göttern der klassischen Antike. Zu nachhaltig sind Letztere und ihre untergegangene Weltzeit des Glücks, der poetischen und bildhaften Weltdeutung, der Lebensfülle und beseelten Natur, des Schönen und der Anmut, des Zaubers, der Freude und der Wonne gefeiert worden. Den vielen Lobpreisern der Antike werden im vorliegenden Band jedoch kenntnisreich Autoren gegenübergestellt, die der nordischen Überlieferung ein größeres Gewicht beimaßen als der antiken und sie von deren Einfluss befreien wollten, allen voran, von epochaler Bedeutung, Johann Gottfried Herder (Sergej Liamin, S. 285-293) und, viel zu wenig bekannt, Paul Henri Mallet (Zernack, S. 374-393) mit seinem wirkmächtigen »entgrenzten Begriff des Nordens« (S. 390). Größte Bedeutung unter den für die Rezeptionsgeschichte der nordischen Mythologie grundlegenden In-Bezug-Setzungen von nordischer und griechisch-römischer Mythologie kommt jedoch der Betonung der antiken Mythologie als eines hinsichtlich ihrer Narrative wie auch ihrer Bilder wirkmächtigen Referenzsystems zu. Dies tut sich im Bestreben kund, die »nordischen Götter in Analogie zum antiken Pantheon zu systematisieren« (S. 21), zeigt sich aber auch in vielen Einzelvergleichen, z. B. von Freyia mit Venus (S. 222 sq.), von Wotan mit Dionysos (S. 319), von Loki mit Prometheus (S. 371 sq.) oder von Nornen mit Parzen oder Moiren (S. 429).

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Desiderate

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Nicht vorschnell sollte man die zweifelsohne nicht leicht erarbeitete, wesentlich auf der rigorosen Beschränkung auf sehr wenige Lemmata gründende Architektur des Bandes kritisieren. Und doch hätte sich der Rezensent drei weitere Artikel gewünscht: ›Griechisch-römische Mythologie‹, ›Christentum‹ und ›Mittelalterrezeption‹. Ebenso wie die griechisch-römische Mythologie, deren Bedeutung für die Rezeption der nordischen Mythologie evident ist, verdienten auch die vielfältigen Beziehungen nordischer Mythen zu christlichem und biblischem Erzählen eine Zusammenführung unter eigenem Lemma: Zahlreich sind hier die Parallelen und Analogien, Vergleiche und Gleichsetzungen, (ikonographischen) Anleihen, Überblendungen und Überschreibungen (nur wenige Stichworte: nordische Mythologie als »überwundener Vorläufer der christlichen Weltordnung« (S. 93); Jesus als wiedergeborener Baldr (S. 509); Odin, überblendet mit Christusvorstellungen (S. 527). Ein eigener Artikel ›Mittelalterrezeption‹ schließlich könnte die vielen Autoren aufrufen, die wohl in erster Linie als Rezipienten eines wie auch immer verstandenen Mittelalters gelten, wie z. B. Friedrich de la Motte-Fouqué (Böldl, S. 187-191), Schöpfer eines eigenen »Mittelalterkosmos« (S. 191), in dem altnordische Überlieferungen neutralisiert werden, oder Ludwig Uhland (Baden, S. 634-643), Vertreter einer romantischen Mittelalterrezeption, und ebenso William Morris (Heather O’Donoghue, S. 393-396) mit seinem »deep-rooted medievalism« (S. 393).

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Ein Nachschlagewerk für ein breites Publikum

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Das Lexikon ist wohl vordringlich für ein spezialisiertes Fachpublikum, vornehmlich Nordisten und Altgermanisten geschrieben. Dies ergibt sich schon durch die dem Thema gemäße Bedeutung skandinavischer Schriftsteller und Maler, die nur folgerichtig mit einem eigenen Lemma bedacht werden, so die dänischen Autoren Johannes Ewald (Joachim Grage, S. 173-176) und Adam Oehlenschläger (id., S. 467-472). Der einzige Länderartikel im Übrigen ist Island gewidmet (Gylfi Gunnlaugsson, S. 300-317). Doch spricht das Lexikon über engere Fachkreise hinaus ausdrücklich auch ein »breites interessiertes Publikum« (S. 16) an. Wesentlich zu dessen Gewinnung tragen bei: das Gewicht, das dem Alltagskulturellen, hierbei insbesondere auch dem Heiteren, Ironischen und Schrägen, beigemessen wird; der reich ausgebreitete Bilderfundus; die von den Herausgeberinnen herausgestellte Freude an ihrem Projekt (S. 19), die sich dem Leser mitteilt; vor allem aber ein in der Regel ansprechender Stil, unterstützt durch den weitgehenden, heute so seltenen Verzicht auf eine Zurschaustellung modisch verstiegener Theorien und ihrer Fachvokabeln. Und gerade diese Mäßigung lässt das Nachschlagewerk insgesamt, auch ohne dass ein imperativer theoretischer Überbau konstruiert worden wäre, als theorie-, begriffs- und diskurssicher erscheinen. Methodische Sicherheit gründet hierbei wesentlich auf der strikten Weigerung, bei der Deutung von Mythen auf unbewiesene Prämissen zu rekurrieren, Lücken in Mythen mittels haltloser Rekonstruktionen aufzufüllen, Mythen zu harmonisieren und zu vereinheitlichen (S. 44, S. 436, S. 441 sq.). Doch das dergestalt hohe wissenschaftliche Niveau des Bandes, der hiermit verbundene für ein Lexikon ungewöhnlich weitgehende Verzicht auf Komplexitätsreduktion und die so unterschiedlichen und ambivalenzenreichen Rezeptionszeugnisse einer sehr anpassungsfähigen Mythologie, die eine in hohem Maße kontextsensitive Aufnahme erfordern, stellen für den Leser nicht unerhebliche Anforderungen dar.

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Weiterführendes

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Die Bibliographie am Ende des Buches ist dreigeteilt. Im Anschluss an die Sparte ›Editionen und kommentierte Ausgaben der mittelalterlichen Schriftquellen‹ (S. 757-773), die von besonderem Wert ist, werden ›Aktuelle Nachschlagewerke‹ (S. 773-774) und ›Abgekürzt zitierte Quellen und Literatur‹ (S. 774-780) aufgeführt. Zentrale Orte der bibliographischen Dokumentation sind jedoch die Artikel selbst, deren jeweils an ihr Ende platzierte reiche Literaturhinweise wahre Fundgruben darstellen und auch zu kulturgeschichtlichen Quereinstiegen anregen können (s. etwa die Hinweise zum Mythos des Nordens und zur Kulturgeschichte der Nördlichkeit, S. 465 sq.).

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Ein sehr schlankes Register (S. 781-789), das sich im Wesentlichen auf »Namen und Begriffe aus Mythologie und Heldensage« (S. 781) beschränkt, beschließt den Band. Zu den Namen, deren Trägern kein eigener Lemmastatus gewährt wird, die aber einen Registereintrag erhalten und den Nutzer in die unterschiedlichsten Artikel führen – es ist dies die überwältigende Mehrheit – zählen Huginn und Muninn, die Raben Odins, Mímir, Hüter der Quelle der Weisheit, Sleipnir, Odins achtbeiniges Pferd, ebenso wie Sif, Gattin des Donnergottes Thor, aber auch nur einmal im Band genannte wie die Walküre Skögul oder der Hahn Fialarr. Als Begriffe werden Figuren wie Elfen, Schwanenmädchen und Zwerge verstanden, Motive und Motivkomplexe wie der Fimbulwinter oder die Wilde Jagd, auch Attribute und Symbole wie der Apfel und die Mistel. Den »Namen von Autoren und Künstlern, [...] Institutionen und Werktiteln«, aber auch »mythologischen, religionsgeschichtlichen und wissenschaftlichen Konzepten u. ä.« (S. 781) bleibt ein Eintrag verwehrt. Für ein rezeptionsgeschichtliches Nachschlagewerk mag dies paradox erscheinen, wird aber durch den eklatanten Platzmangel verständlich. Doch steht im Netz ein ausführliches Register, das all diese Namen und Konzepte berücksichtigt, bereit (vom Rezensenten eingesehen unter https://winter-verlag.de/de/assets/public/9783825368746/Register.pdf, 20.1.2020; zu möglichen Websites s. a. S. 781).