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Zu einem kommentierungsbedürftigen Romantik-Lehrbuch

  • Detlef Kremer: Romantik. (Lehrbuch Germanistik) Stuttgart u.a.: J. B. Metzler 2001. 339 S. Kartoniert. EUR (D) 19,95.
    ISBN: 3-476-01972-1.
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Was kann, was soll man
von ›Lehrbüchern‹ erwarten?

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Literaturgeschichtliche ›Lehrbücher‹ bzw. ›Einführungen‹ stellen deren Verfasser vor eine schwierige, zur allseitigen Zufriedenheit kaum lösbare Aufgabe, denn dieses Genre wissenschaftlicher Prosa soll höchst unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen gerecht werden. Studierende der Germanistik, an die sich ein solches Buch in erster Linie richtet, sollen über eine literaturgeschichtliche Epoche in verständlicher Form die wichtigsten Sachinformationen über Autoren, Texte, epochenspezifische diskursive Strukturen und deren Kontexte erhalten, und gleichzeitig sollen ihnen methodisch nachvollziehbare Wege zur eigenständigen Anwendung des Wissens auf nicht explizit behandelte Texte und Probleme gewiesen werden. Dies ergibt sich nicht nur aus der unumgänglichen Begrenzung des Umfangs, sondern auch aus dem hochschuldidaktischen Ziel der Befähigung zum selbständigen Transfer exemplarischen Wissens.

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Mögliche Adressaten eines solchen ›Lehrbuchs‹ sind neben den Studierenden aber auch Deutschlehrer und Deutschlehrerinnen, die den Stoff zwar schon kennen, sich im Rahmen einer Weiterbildung aber über den gegenwärtigen Diskussionsstand der Forschung informieren wollen, und – nicht zuletzt – die in der Hochschullehre tätigen Fachkollegen, die vor der Frage stehen, welche Bücher sie ihren Studierenden zur Vor- und Nachbereitung der Lehrveranstaltungen oder zur Examensvorbereitung guten Gewissens empfehlen können, und sich dabei nicht nur für die didaktische Qualität, sondern auch für die fachwissenschaftliche Position interessieren, die in einem solchen Werk verbreitet wird.

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Allen diesen Erwartungen gerecht zu werden, kommt einer Quadratur des Zirkels gleich. Die folgenden Bemerkungen zu Detlef Kremers Einführung in die Literatur der Romantik werden sich besonders auf die Erwartungen im Hinblick auf den Universitätsunterricht konzentrieren, und ich bin mir dabei bewusst, dass die Quadratur des Zirkels eine nicht vollständig zu lösende Aufgabe ist; es gibt freilich mehr oder weniger gute Annäherungen an die Lösung.

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Annähernde Vollständigkeit mit
signifikanten Fehlstellen

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Detlef Kremers »Lehrbuch Germanistik« zur Romantik lässt im Hinblick auf die Vollständigkeit und Ausführlichkeit der behandelten Aspekte kaum Wünsche offen. In – einschließlich der Einleitung – insgesamt 8 Kapiteln werden fast alle relevanten Aspekte des Themas angesprochen. Dem Kapitel 2 über den »Historischen und sozialgeschichtlichen Kontext« (S. 8–39) folgt ein Kapitel 3, das über den Romantikbegriff, über das Problem der Einheit und der Binnendifferenzierung der Epoche und über Stationen der Romantik-Forschung informiert (S. 40–58); ein weiteres Kapitel 4 behandelt »Philosophische und wissenschaftliche Aspekte der Romantik« (S. 59–88), dem dann noch ein Kapitel 5 über »Grundfiguren der romantischen Poetik« folgt (S. 89–113), das die grundlegenden Begriffe, angefangen von ›progressiver Universalpoesie‹ bis zu ›Neuer Mythologie‹ in wünschenswerter Breite erläutert.

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Der zweite Teil des Buches widmet sich dann in drei umfangreichen Kapiteln (6,7,8) den Hauptgattungen Epik, Dramatik und Lyrik mit Informationen zu einer jeweils großen Anzahl von einzelnen Texten, wobei das Kapitel 7 über das Drama in der Romantik (S. 209–267) besonders verdienstvoll ist, weil Kremer hier einer Gattung der romantischen Literatur, die in der Rezeptions- und Forschungsgeschichte vergleichsweise wenig Beachtung gefunden hat, den ihrer Bedeutung entsprechenden Platz einräumt und bedenkenswerte Ansätze zu einer angemessenen Analyse und Bewertung der einschlägigen Texte, insbesondere zur Selbstreflexion der Medialität von Dramentext und Theater entwickelt (vgl. S. 210).

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Im Hinblick auf die Fülle und Breite der Informationen und der behandelten Aspekte bleibt also kaum eine Lücke. Es fällt allerdings auf, dass Kremer in der Gliederung des Materials an drei für das Verständnis der Romantik nicht unbedeutenden Stellen keine eigenen Abschnitte vorgesehen hat: In Kapitel 2 fehlt ein eigener Abschnitt über den religionsgeschichtlichen Kontext der Romantik, konkret über die Auseinandersetzung mit dem Christentum unter den diskursiven Bedingungen am Ende des 18. Jahrhunderts, und in Kapitel 4 fehlt ein Abschnitt über die grundlegenden Argumentationsmuster der Transzendentalphilosophie, ohne die m.E. der Zusammenhang der verschiedenen Einzelaspekte und Denkfiguren der Romantik nicht zu verstehen ist.

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Ebenso vermisst man in Kapitel 4 einen eigenen Abschnitt, in dem – in Anknüpfung an Kapitel 2 – das politische Denken der Romantik im Zusammenhang mit den geschichtlichen Ereignissen von 1789 bis 1830 hätte erläutert werden können. Die Folge ist, dass Kremer diese Aspekte an verschiedenen Stellen, wo sie sich unvermeidbar aufdrängen, ansprechen muss, ohne dass ein Leser, der dieses Buch als erste Einführung benutzt, eine Vorstellung von ihrem systematischen Ort in der Romantik bekommt. Dies hat allerdings Ursachen, die in Kremers Fassung des Romantikbegriffs zu suchen sind, auf die noch später einzugehen sein wird.

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Die angestrebte Vollständigkeit hat gegenüber vergleichbaren Büchern sicherlich den Vorzug, dass ein Studierender über eine sehr große Zahl von Einzeltexten informiert wird. Dies bringt allerdings den Nachteil mit sich, dass ausführlichere Analysen von einzelnen Texten, in denen die methodischen Schritte, die zu den Aussagen führen, deutlich erkennbar werden, fehlen. Im Hinblick auf die Übertragung des Wissens auf eigenständige Textarbeit hätte man sich eine etwas andere Gewichtung der Darstellungsmethoden gewünscht. Hier wäre weniger oft mehr gewesen.

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Phantastik, Imagination, Allegorie,
Manierismus – das Problem undefinierter Grundbegriffe
bei der Erläuterung von ›Romantik‹

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Während also bei der Vollständigkeit der Informationen – abgesehen von den eben genannten drei Leerstellen – kaum Wünsche offen bleiben, ist das Buch im Hinblick auf die Zielsetzung eines selbstständigen Transfers von exemplarischem Wissen nicht ganz überzeugend geraten. Dies ist m.E. nicht allein in der didaktischen Grundentscheidung – Priorität der Vollständigkeit gegenüber dem Exemplarischen – begründet, sondern in der wissenschaftlichen Konzeption selbst.

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Das grundlegende Problem zeichnet sich schon auf der ersten Seite der Einleitung ab, wo Kremer in einem Nebensatz eine erste Kurzdefinition von ›Romantik‹ einfließen lässt, indem er sie als »charakteristisches Zusammenspiel einer weitgehend manieristischen Traditionen verpflichteten Poetik der Imagination und des Phantastischen mit einer allegorischen und selbstreflexiven Komponente« bezeichnet (S. 1), und zur Abgrenzung zur ›Weimarer Klassik‹ dann fortfährt: »Gegenüber den klassizistischen Einheits- und Ordnungsvorstellungen der Weimarer Klassik Goethes und Schillers verfügt die Romantik mit ihrer Aktualisierung manieristischer Heterogenie über ein hinreichend trennscharfes Profil.« (Ebd.)

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Damit werden auf engstem Raum mehrere Begriffe aufgerufen, die dem Fachkollegen eine ungefähre Vorstellung davon zu vermitteln vermögen, wo sich Kremer innerhalb der Romantikforschung positioniert. Was aber fängt ein durchschnittlicher Studierender damit an? Dieser wird sich, wenn er ein wenig informiert ist, daran erinnern, dass es sich hier möglicherweise um Begriffe handelt, die in bestimmten fachwissenschaftlichen Zusammenhängen, entweder allgemeinerer literaturtheoretischer Art oder in bestimmten Richtungen der Romantikforschung, eine definierte Bedeutung haben, und er wird danach suchen, wo im Buch eine präzise Explikation mit nachvollziehbarer Positionierung innerhalb dieser Forschungsrichtungen gegeben wird; aber dabei wird er nicht so recht fündig werden.

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Die Schwierigkeiten beginnen bei den Begriffen des ›Phantastischen‹ und der ›Imagination‹. Da es zum Begriff des ›Phantastischen‹ eine in der Literaturwissenschaft etablierte und bewährte Begriffsfassung strukturalistischer Provenienz gibt, die auf Tzvetan Todorov zurückgeht, 1 erwartet man entweder einen expliziten Anschluss an diese Begriffsfassung oder eine begründete Abgrenzung davon. Da Kremer Todorov an keiner Stelle seines Buches nennt, versteht er den Begriff des ›Phantastischen‹ wohl anders, aber man sucht vergeblich nach einer Präzisierung. Auf S. 44 wird noch einmal – durch Fettdruck ausdrücklich hervorgehoben – die »Theorie der Imagination und Phantastik« als zentraler Aspekt einer »Einheit der Romantik« hervorgehoben, aber nur vage mit der Erläuterung »Abgrenzung von den aufklärerischen Konzepten der Naturnachahmung und moralischen Ausbildung des Menschen« versehen, und erst auf S. 101 ff. erfolgt eine – für Studierende allerdings eher verwirrende – Erläuterung im Kontext der Abwendung der Romantiker vom aufklärerischen Konzept der Naturnachahmung. Wenn es demnach um das Verhältnis von ›Phantasie‹ im Sinne von ›Einbildungskraft‹ – in der Bedeutung der Psychologie des 18. Jahrhunderts – zur Vernunft und zur Dichtung in der Romantik im Gegensatz zur Aufklärung geht, dann fragt man sich freilich, warum Kremer mit dem Wort ›Phantastik‹ immer auch das aus dem Lateinischen kommende Wort ›Imagination‹ verbindet, ohne dass der Leser je Klarheit darüber bekommt, ob es sich hier um Synonyme handelt oder um zwei verschiedene Bedeutungen. Das macht aber ein eigenständiges Weiterarbeiten mit diesen Begriffen sehr schwer.

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Vergleichbare Probleme gibt es bei dem Wort ›allegorisch‹. Erst auf S. 106 ff. wird man auf der Suche nach einer Erläuterung fündig, bekommt aber auch hier keine Klarheit, weil Kremer den Begriff in verwirrenden Verbindungen gebraucht: »Wo immer in diesen Texten von Büchern und Schrift die Rede ist, steht dies in einem allegorischen, selbstreflexiven Zusammenhang.« (S. 106) Die Stellung im Satz legt nahe, dass hier ›selbstreflexiv‹ eine Art Erläuterung von ›allegorisch‹ ist. Wie aber soll man das verstehen? Ganz unverständlich wird es im nächsten Satz: »Romantische Texte arbeiten mit Anspielungen, die in sich wieder variiert sind und nicht nur auf eine allegorische Verdoppelung, sondern auf eine allegorische Vervielfältigung ausgehen.« (Ebd.) Der Grund für diese Unklarheit bzw. Unverständlichkeit wird erkennbar, wenn man sieht, dass Kremer auf den folgenden zwei Seiten von Johann Wolfgang Goethe über Ludwig Tieck und Karl Wilhelm Ferdinand Solger zu Walter Benjamin und Gerhard Kurz eine Reihe objektsprachlicher Wortverwendungen der Goethezeit und beschreibungssprachlicher Fassungen der Literaturwissenschaft des 20. Jahrhunderts so miteinander verbindet, als meine die Verwendung desselben Worts auch denselben Begriff.

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Eine andere Seite der problematischen Konzeption wird sichtbar, wenn man dem Verweis auf den Begriff des ›Manierismus‹ nachgeht. Die Abgrenzung von Romantik und Weimarer Klassik geschieht ja in der zitierten Textstelle auf S. 1 mit Hilfe der Begriffsopposition von ›Manierismus‹ und ›Klassizismus‹, und dies wird auf S. 44 noch einmal wiederholt: »Gegenüber der zeitgleichen Weimarer Klassik hält die Romantik Distanz, indem sie klassizistische Einheitspostulate durch eine Aktualisierung manieristischer Figuren unterläuft.« Damit stellt sich Kremer in eine bestimmte Tradition der Manierismus-Forschung, die mit den Namen Ernst Robert Curtius und Gustav René Hocke verbunden ist und in der versucht worden ist, den kunstgeschichtlichen Epochenbegriff des ›Manierismus‹ zu einem generellen Stilbegriff der europäischen Literatur zu erweitern, der in Gegenbewegungen zum ›Klassizismus‹ in verschiedenen Epochen, so auch in der Romantik, in Erscheinung getreten ist.

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Diese Zuordnung der Romantik zum ›Manierismus‹, die in der deutschen Romantikforschung vor allem von Marianne Thalmann aufgegriffen und weitergeführt worden ist, ist ein umstrittener, aber durchaus respektabler und fruchtbarer Ansatz der Romantikforschung mit aufschließender Kraft. Meine Einwände richten sich deswegen nicht gegen Kremers Entscheidung, den Manierismusbegriff zur Erläuterung des Romantikbegriffs heranzuziehen. Kritisiert werden muss aber, dass er diese Entscheidung als bewusste Wahl für eine bestimmte Forschungstradition nicht kenntlich macht. Der Name von Gustav René Hocke fällt auf S. 44 nicht; er wird erst nebenbei auf S. 100 erwähnt. Und, was noch gravierender ist, im Überblick über die Forschungsgeschichte (Kap. 3.5) wird diese Richtung der Romantikforschung nicht explizit namhaft gemacht, obwohl sie doch einen zentralen Punkt von Kremers Epochendefinition liefert.

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Wo positioniert sich Kremer in der
Romantikforschung?

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Generell ist dieser Forschungsüberblick, je näher Kremer in die Gegenwart kommt, immer unbestimmter in den Formulierungen, so dass Kremers eigene Position innerhalb der Romantikforschung nur indirekt erschließbar ist. Wenn man aber etwas in einem Einführungsbuch den Studierenden vermitteln sollte, dann auf jeden Fall die Norm, dass es sich bei der Wahl von Forschungsansätzen mit den damit verbundenen Fassungen des Gegenstandes um Entscheidungen handelt, die andere Möglichkeiten ausschließen und deswegen begründet werden müssen. Dies gehört zum Grundbestand von methodischen Einstellungen und Reflexionswissen, der in einem Studium angeeignet werden soll.

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In Kremers Buch ist hingegen eine Tendenz erkennbar, innerhalb bestimmter Forschungsansätze klar definierte Begriffe in die Offenheit eines umgangssprachlichen Gebrauchs zurückzuführen und dann allzu locker miteinander zu kombinieren. So wird beispielsweise zur sozialgeschichtlichen Kontextualisierung der Romantik in der Einleitung von »Veränderungen der Ständegesellschaft, die wesentlich durch eine undurchlässige Schichtenhierarchie gekennzeichnet war, hin zu einer funktional, d.h. nach Leistungskriterien differenzierten, mobilen und durchlässigen Gesellschaft« gesprochen (S. 2), und dies klingt so, als würde Kremer diese Kontextualisierung nach der Luhmann’schen Systemtheorie vornehmen wollen – was ja ein durchaus brauchbarer Ansatz sein könnte.

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Bei weiterer Lektüre, vor allem des Kapitels 2, zeigt sich dann aber relativ schnell, dass es sich hier um ein blindes Motiv handelt, weil Kremer in dem Bestreben, irgendwie alles, was zur Beschreibung des Epochenwandels zwischen 1770 und 1830 in den letzten Jahrzehnten begrifflich angeboten worden ist, angefangen von ›Verzeitlichung‹ (Reinhart Koselleck) über ›defensive Modernisierung‹ (Hans Ulrich Wehler) bis zum ›Nationalismus‹, aufbietet, ohne einen nachvollziehbaren Anschluss an ein Paradigma zu markieren, das es erlauben würde, diese heterogenen Begriffe als definierte Analyseinstrumente mit bestimmten Grenzen und Möglichkeiten zu erkennen. Für dieses Verfahren sei nur ein weiteres Beispiel von vielen möglichen zur Illustration genannt: Carl Schmitts Buch »Politische Romantik« wird auf S. 24 an einer Stelle genannt, an der die eigentliche These Schmitts zur Romantik nicht so recht deutlich wird. Dort aber, wo Kremer einen höchst erläuterungsbedürftigen Begriff en passant einführt, der ins Zentrum von Carl Schmitts Romantikbegriff führt, nämlich den Begriff des »subjektiven Occasionalismus« (S. 27), bleibt dieser ohne Verweis auf dessen Herkunft und gänzlich unerläutert so stehen, als ob sich dessen Bedeutung von selber verstünde.

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Autonomiekonzept und
Realitätsbezug der Romantik

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Der Bezug der Romantik auf den geschichtlichen Kontext kann aus diesen methodischen Gründen nur vergleichsweise locker formuliert werden, wobei Kremer wieder Begriffe aus der Systemtheorie heranzieht, um zunächst den für ihn zentralen Aspekt der ›Autonomisierung‹ der Literatur einführen zu können. So heißt es auf S. 6:

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Unter dem Postulat einer weitreichenden Autonomieästhetik etabliert sich die Literatur der Frühromantik als ein eigenständiges Teilsystem, das auf einer entschiedenen Distanz zu anderen kulturellen Systemen besteht. Die Autonomisierung des literarischen Diskurses ist seit dem Sturm und Drang der 1770er Jahre zu beobachten. Sie erreicht einen Höhepunkt in Klassik und Romantik seit den 1790er Jahren. Die Autonomie des romantischen Textes besteht auf der [sic!] Unmöglichkeit, in philosophische, religiöse, ökonomische oder politische Diskurse übersetzt werden zu können, ohne seiner spezifischen Literarizität entledigt zu werden.
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Hier hätte Kremer zur Präzisierung wenigstens zwei einschlägige Publikationen der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts heranziehen können, in denen die Möglichkeiten einer systemtheoretischen Fassung des Autonomiepostulats ausgelotet werden, nämlich Gerhard Plumpes Ästhetische Kommunikation der Moderne 2 und Karl Eibls Die Entstehung der Poesie 3 . Dabei hätte klar gemacht werden können, dass das Autonomiepostulat nicht – wozu Kremer immer wieder tendiert (vgl. z.B. S. 89) – mit ›Selbstreferentialität‹ verwechselt werden darf, sondern als eine besondere Form von Referentialität, verbunden mit dem Geltungsanspruch spezifisch poetischer Aussagen über die Wirklichkeit mit dem Willen zur Wirkung im politisch-sozialen Handeln, aufgefasst werden muss. Hierzu hätte es freilich einer genaueren Herleitung der frühromantischen Fassung des Autonomiepostulats aus dem Kontext der philosophischen, religiösen und politischen Diskussion bedurft.

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Kremer weist aber gerade diese geschichtlichen Kontextualisierungen der Frühromantik mit dem Vorwurf der »Blindheit« gegenüber der »ästhetischen Struktur des Phantastischen und der Imagination« als unzureichend zurück (S. 55), und er verstellt sich durch die einseitige Fixierung auf das Konzept der ›Selbstreferentialität‹ nicht nur den Blick dafür, dass sich die Romantiker mit ihren Texten durchaus auf Wirklichkeit bezogen haben und in die Wirklichkeit eingreifen wollten, sondern er gibt damit auch ohne Not eine Möglichkeit preis, die von ihm ausführlich behandelten Einzelaspekte romantischer Naturphilosophie, hermetischer Tradition, Sprachtheorie, Psychologie und Poetik, zu denen er eine Fülle interessanter und wichtiger Informationen gibt, in einem grundlegenden Denksystem zu verorten und damit als Zusammenhang verständlich zu machen.

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Die Akzentuierung der ›Selbstreferentialität‹ der romantischen Literatur ist dem Verfasser allerdings sehr wichtig, weil dieser Punkt, wie sich aus dem Duktus des ganzen Buches ablesen lässt, für ihn die Deutung der Romantik als Beginn der modernen Literatur absichert. Die damit verbundene implizite Vorstellung einer teleologischen Entwicklung zu einer ›eigentlichen‹ Literatur der Moderne, die auf Wahrheitsanspruch und moralische Wirkung verzichtet, die in den 90er Jahren vor allem Karl Heinz Bohrers Romantikdeutungen genauso bestimmt hat wie seine Polemik gegen die DDR-Literatur im deutsch-deutschen Literaturstreit, bedürfte einer eigenen Diskussion, die hier nicht geführt werden kann.

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Es ist aufschlussreich zu beobachten, dass Kremer in den Kapiteln über die Textgattungen und die einzelnen Texte die These von der ›Selbstreferentialität‹ der Romantik angesichts der Texte immer wieder relativieren muss. Einerseits konstruiert er innerhalb der Romantik eine zeitlich gestufte Entwicklung von der Betonung der ›Autonomie‹ und ›Selbstreferentialität‹ in der Frühromantik hin zu einer erneuten Anbindung an heteronome Systeme und Zwecksetzungen in der Spätromantik, von ihm bevorzugt auf die »katholische Spätromantik« eingeschränkt (S. 49). Andererseits entgeht ihm beispielsweise bei Novalis nicht, dass es schon in diesem Werk, das ja doch im Zentrum der Frühromantik steht, eine Spannung von ›Autonomie‹ und ›Heteronomie‹ gibt.

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Aber es gelingt nicht, diese Spannung in ihrem Zusammenhang präzise zu fassen. So heißt es zu den Hymnen an die Nacht einerseits: »Bei aller Dominanz des Ästhetischen kann kein Zweifel an einer Orientierung Hardenbergs am christlichen Glauben bestehen.« (S. 283) Und deshalb gesteht er die »Berechtigung einer immer noch sinnzuschreibenden Lektüre für Hardenbergs Lyrik« zu (S. 288). Andererseits wird gesagt: »Ohne die christliche Grundierung von Hardenbergs Lyrik in Abrede stellen zu wollen, muß darauf insistiert werden, daß es ihm in erster Linie um eine poetische Fassung des Christentums geht.« (S. 287). Einverstanden, aber kann nicht gerade diese Poetisierung des Christentum als Versuch gedeutet werden, das Christentum neu zu begründen und zu retten?

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Ebenfalls im Lyrikkapitel, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, findet sich eine aufschlussreiche Bemerkung zu Ludwig Tiecks Gedicht Waldhornsmelodie: »Hörst! wie spricht der Wald dir zu, / Baumgesang / Wellenklang: / Komm und finde hier die Ruh.« Kremer behauptet hier, dass die Wörter »Baumgesang« und »Wellenklang« »nicht auf eine Außenwelt« referieren (S. 290), sondern die »angesprochene Verschmelzung« »selbstreferent« ausstellen. Das ist schon deswegen problematisch, weil es sich hier nun einmal um Sprachzeichen handelt, die unvermeidlich einen Referenten haben, den Wald und das Wasser. Wenn Kremer dann sagt, dass Tiecks Konzept ein »Naturbegriff« zugrunde liege, »der nicht mit der sinnlich wahrnehmbaren Oberfläche der Dinge identisch ist, sondern einen hermetischen, d.h. verborgenen Zusammenhang der gesamten Schöpfung meint« (ebd.), so zeigt sich, dass es doch um eine ›Referenz‹ geht, nämlich um die auf die Natur als Einheit und Ganzheit.

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Und da die verwendeten Zeichen sprachlich und nicht nur musikalisch sind, verweisen sie auch auf ein präzise bestimmbares naturphilosophisches Konzept. Wenn das Rauschen der Bäume mit dem Rauschen der Wellen des Meeres in Beziehung gesetzt wird, verweist das Gedicht auf die Vorstellung der Einheit des Anorganischen mit dem Organischen auf der Basis des Flüssigen, und indem dieses Rauschen als »Gesang« und »Klang« bezeichnet wird, verweist es auf die Einheit dieser Natur mit der musikalischen Sprache des Menschen, dies aber in einem Medium, das selbst nicht vollständig Musik ist, sondern bedeutungstragende Sprache in schriftlicher Fixierung. Die typisch romantische ›Selbstreflexivität‹ dieses Gedichtes ergibt sich demnach nicht aus einem – ohnehin nicht möglichen – Verzicht auf ›Referentialität‹, sondern aus der Markierung der Grenze, die dem Medium Sprache bei dem Versuch gesetzt ist, sich von der ›Referentialität‹ zu lösen.

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Fazit

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Kann das Buch als »Lehrbuch« Studierenden empfohlen werden? Fortgeschrittene Studierende, die schon ein umfangreicheres Basiswissen über die Epoche und vor allem schon ein ausgeprägtes eigenes Wissen über die Forschungsgeschichte sowie ein ausgearbeitetes Methodenwissen erworben haben, werden in diesem Buch eine Fülle von Informationen und Anregungen finden, vor allem dort, wo die eigenen Forschungsinteressen des Verfassers stark ausgeprägt sind. Hier sind – neben dem schon erwähnten Kapitel über das Drama der Romantik – die Abschnitte über die »Zeichenhaftigkeit der Natur« (S. 64 ff.), über die Sprachtheorie der Romantik (S. 69 ff.) und über die »Romantische Psychologie« (S.80 ff.) besonders hervorzuheben. Man wird diese Empfehlung aber auch bei Fortgeschrittenen immer mit dem Hinweis verbinden müssen, dass die methodische Grundlegung und der Argumentationsduktus des Buches nicht nachgeahmt werden sollen. Als erste Einführung für Anfänger ist das Buch hingegen nicht empfehlenswert, weil es zu viele unerläuterte Begriffe und Entscheidungen voraussetzt und deswegen ein eigenständiges Arbeiten eher behindert als befördert.



Anmerkungen

Vgl. Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature fantastique. Paris 1970.   zurück
Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne. Band 1: von Kant bis Hegel. Opladen 1993.   zurück
Karl Eibl: Die Entstehung der Poesie. Frankfurt/M. / Leipzig 1995.   zurück