Sigrid Krämer

Nicht alle Chancen genutzt




  • Renate Schipke: Scriptorium und Bibliothek des Benediktinerklosters Bosau bei Zeitz. Die Bosauer Handschriften in Schulpforte. Wiesbaden: Harrassowitz 2000. 143 S. Leinen. EUR 58,00.
    ISBN: 3-447-04207-9.


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Ein wenig beachteter Bestand

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Nicht häufig findet man in den Handschriftenbeständen der heutigen Bibliotheken derart geschlossenen Fonds, wie es der Bestand des ehemaligen Benediktinerklosters Bosau in der heutigen Bibliothek der Landesschule von Schulpforte darstellt. Und es ist einer derjenigen Bestände, der – weil in der ehemaligen DDR liegend – seit dem 19. Jahrhundert kaum die ihm gebührende Beachtung und Bearbeitung gefunden hatte.

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Schulpforte (oder Schulpforta), gelegen nahe Naumburg an der Saale, war seit 1543 die Heimat der berühmten Fürstenschule gewesen, die neben vielen anderen bedeutenden Persönlichkeiten auch Klopstock und Nietzsche besucht hatten. Bislang konnte man sich über die dortigen Handschriften nur in einer Publikation von 1883 unterrichten 1 , wo über 59 Handschriften und andere Dokumente berichtet wurde. Nun hat sich dankenswerterweise Renate Schipke in der Arbeitsstelle »Zentralinventar mittelalterlicher Handschriften bis 1500 in den Sammlungen der DDR (ZIH) der Deutschen Staatsbibliothek, jetzt der Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz« dieses bedeutsamen Fonds angenommen und die Handschriften nach den »Richtlinien Handschriftenkatalogisierung der Deutschen Forschungsgemeinschaft« (S. 7) beschrieben.

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Das Kloster Bosau

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Der vorliegende Band ist in vier Kapitel gegliedert: Geschichte des Klosters in Umrissen – Das Scriptorium – Die Bibliothek – Katalog der Handschriften. Doch im Grunde ist es ein normaler Handschriftenkatalog mit einer kurzen Einleitung zur Geschichte des Klosters und der dort hergestellten Handschriften. Die Überschrift ›Scriptorium‹ täuscht ein wenig, weil sie Erwartungen erweckt, die nicht so recht erfüllt werden.

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Das Benediktinerkloster Bosau war »im Kern einer alten slawischen Burganlage« (S. 13) durch Bischof Dietrich I. (1111–1123) von Naumburg in der Nähe von Zeitz zwischen 1114 und 1121 gegründet woden. Und es war das einzige Kloster der Diözese Naumburg, das bis in die Neuzeit hinein existiert hat. Es war von Anfang an kein armes Kloster, sondern besaß seit seiner Gründung einen beachtlichen Grundbesitz. Der erste Abt von Bosau, Ekkebert (ca. 1114 / 21) war um 1200 aus dem Reformkloster Hirsau gekommen, und mit ihm wohl nicht nur die Hirsauer Consuetudines sondern auch andere Gewohnheiten, etwa die Kunst des Schreibens und der Herstellung von Handschriften.

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Zwischen dem 12. und dem 14. Jahrhundert gab es im Kloster Bosau etwa 30 bis 40 Mönche. Im 13. Jahrhundert entging auch dieses Kloster – wie viele Klöster in Deutschland – nicht dem Niedergang durch den Verfall der Sitten und der klösterlichen Zucht. Erst durch eine Intervention von Papst Innozenz IV. im Jahre 1246 konnte die alte Ordnung wieder einkehren. Bis 1541 – dem Beginn der Säkularisation in Sachsen – war Bosau von den Visitationen der kurfürstlich sächsischen Beamten verschont geblieben. Doch dann erfolgte eine Zwangsinventarisierung. Unter dem ersten evangelischen Bischof von Naumburg, Nikolaus von Amsdorf (1542–1546) wurden die Kleinodien abgeliefert, nicht aber die Bücher. Im Jahre 1551 wurde die Verwaltung der Klostergüter durch den letzten katholischen Bischof von Naumburg, Julius von Pflug (1546–1564), der in Zeitz residierte, übernommen. Dieser besaß als Gelehrter eine eigene umfangreiche Bibliothek, in der auch Handschriften nicht fehlten. In seinem Testament von 1563 vermachte Pflug diese Bibliothek »dem Hochstift zur dauernden Aufbewahrung im Zeitzer Schloss« (S. 40). Dahin kamen 1565 auch die Bosauer Bücher und Handschriften. Sie blieben aber dort stets ein gesonderter Bestand und gelangten bereits 1573 auf Anordnung des Kurfürsten in die Schulbibliothek der neugegründeten Fürstenschule im ehemaligen Zisterzienserkloster Schulpforte. Auch hier blieben die Bosauer Bücher ein gesonderter Bestand und »weiterhin an einer speziell gesicherten Stelle aufbewahrt« (S. 41). Während des 30jährigen Krieges waren die Bosauer Handschriften für einige Zeit im Dom von Naumburg ausgelagert, zusammen mit der übrigen Bibliothek von Schulpforte. Eine Plünderung der Bibliothek von 1631 verschonte aber den Bosauer Bestand. Erst 1651 kamen die Handschriften wieder an ihren ursprünglichen Ort, Schulpforte, zurück, wo sie seit 1573 gelagert waren. Und dort sind sie bis auf den heutigen Tag geblieben.

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Ein Stück Alltagskultur

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Vom Inhalt her ist es kein spektakulärer Bestand. Von den 32 in diesem Band vorgestellten Handschriften gehören 21 noch dem 12. Jahrhundert an. Am 23. April 1185 schenkte Konrad I., Abt von Bosau seinem Kloster eine Anzahl von Handschriften, die in einer Schenkungsurkunde festgehalten und die zum Teil noch heute nachweisbar sind (A 1, A 2, A 3, A 7, A 9). Die Schenkungsurkunde hat sich erhalten in einer Abschrift aus dem 14. / 15. Jahrhundert in der Handschrift Dresden, Sächsische Landesbibliothek, L 90. Doch sicher hatte es bereits vor dieser Schenkung dort Handschriften gegeben. Bosau hat nicht nur für den eigenen Bedarf Handschriften hergestellt, sondern auch »die in der Nähe befindlichen Klöster« (Mildenfurt, Altzelle, Marienthal) versorgt (S. 25).

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Der Inhalt der Texte geht nicht über das für die Zeit übliche hinaus; es handelt sich um Kirchenväter (Augustinus, Ambrosius, Hieronymus, Flavius Josephus, Orosius, Gregorius papa), Bibeltexte und Liturgica. Die Texte sind überwiegend lateinisch. Eine späte Handschrift (A 29), wohl aus dem Benediktinerinnenkloster St. Nicolai in Eisenach stammend, enthält Texte in deutscher Sprache. Eine weitere späte Handschrift (A 30) wurde teilweise im Benediktinerkloster Abdinghof in Paderborn geschrieben. Beide Bände kamen wohl erst später nach Bosau. Unter den Fragmenten (A 34‹2›) finden sich zwei Blätter mit Priscians Institutiones aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts.

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Auch die Ausstattung bleibt im Rahmen des üblichen. Es sind an den Abschnittsanfängen einfache Ranken- und Zierinitialen. Sie scheinen sich den allgemeinen Initialformen der Handschriften aus den durch Hirsau geprägten Formen anzugleichen, was Schipke mit Vergleichen von Handschriften aus dem südwestdeutschen wie auch dem rheinischen Raum zu belegen versucht. Die Abbildungen der Tafeln 1 bis 6 geben hiervon Zeugnis. Ausgesprochen illustrierte Handschriften finden sich nicht in diesem Bestand. Die meisten Handschriften tragen noch ihre spätmittelalterlichen Einbände aus »Schweins- oder Kalbsleder, mit oder ohne Stempelschmuck« (S. 31). Eingehende Untersuchungen darüber aber stehen noch aus. Aus den verschiedenen Zeiten finden sich in vielen Handschriften noch die mittelalterlichen Besitzeinträge, sowie einzelne mittelalterliche Signaturen. Die Abbildungen geben Beispiele von Schriftproben aus den verschiedenen Jahrhunderten wieder, vor allem solche mit Initialen, darüber hinaus von Einbänden und Abreibungen von Einbandstempeln. Zwei Tafeln zeigen die verschiedenen Besitzeinträge.

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Beschlossen wird der Band durch ein Initien-, ein Personen-, Orts- und Sachregister sowie eine Signaturenkonkordanz der noch erhaltenen alten Bibliothekssignaturen.

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Schreiber und Leser

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Gewünscht hätte man sich ein tieferes Eingehen auf die paläographischen Gegebenheiten. Auch die kunsthistorischen Aussagen bleiben im vagen (»rheinisch geprägtes Formengut«, ein »an aus Frankreich, England oder auch dem Maasgebiet stammenden Vorbildern orientiertes Gestalten«, S. 29). Immerhin können einige interessante Beobachtungen weitergegeben werden: Drei Schreiber von Handschriften aus dem 12. Jahrhundert nennen sich namentlich. Es sind dies Luthelm (A 11, A 12‹?›, A 13‹?›, A 18, A 19, A 20) und Erkenbert (A 10), die urkundlich festgelegt werden können (zwischen 1168 / 85), sowie Symeon (A 22), urkundlich nachweisbar zwischen 1185 / 89. Aus späterer Zeit nennt sich der Abt von Bosau, Petrus II. ex oppido Stossen (1485–1507) als Schreiber von Teilen von Handschriften. Vereinzelte Handschriften aus der Blütezeit des Skriptoriums im 12. und 13. Jahrhundert sind auch in anderen Bibliotheken zu finden (S. 17). Aus diesem Zeitraum sind noch 10 Handschriften in Schulpforte vorhanden. Fünf Handschriften gehören in das Spätmittelalter und drei ins 16. Jahrhundert. Existiert hat das Skriptorium von Bosau wohl bis ins 16. Jahrhundert.

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Interessant sind die häufigen Hinweise auf »Bleistiftkorrekturen von e. Hand des 15. Jh.« (S. 69), »Bleistiftzeichnung eines Gesichtes« (S. 52), »vereinzelt Anmerkungen mit Bleistift von e. Hand des 15. Jh. a. R.« (S. 56), »Umrisszeichnungen mit Blei« (S. 57) u.ö., was die Frage aufwirft, wann der Bleistift erfunden wurde. Laut Meyers Enzyklopädischem Lexikon, Bd. 4 (Mannheim 1972), S. 332 gibt es den ersten Bleistift mit einer hölzernen Ummantelung seit etwa 1565, also keinesfalls bereits im 15. Jahrhundert. Allenfalls gab es vorher eine Art von nicht gefasstem Bleigriffel. 2

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Schluss

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Das Wort ›Scriptorium‹ im Titel des Buches erweckt größere Erwartungen bezüglich der paläographischen Einordnung der Handschriften und ein tieferes Eingehen auf die handschriftenkundlichen Besonderheiten einer Landschaft, die bislang nur wenig beachtet worden ist. Natürlich gibt es für diesen mitteldeutschen Raum bislang nicht allzu viel Vergleichsmaterial, wobei Schipke selbst darauf hinweist, dass sich »bisher unentdeckte Scriptorien besonders im mitteldeutschen Raum« noch aufspüren lassen könnten (S. 31 Anm. 51). Dem eigentlichen Scriptorium sind ganze zwei Seiten gewidmet!

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So legt man den Band beiseite mit dem leicht unguten Gefühl, dass nicht alle Chancen, die das Material geboten hätte, auch genutzt worden sind.


Dr. Sigrid Krämer
Ossiacher Str. 13
DE - 80687 München

Ins Netz gestellt am 13.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Arno Mentzel-Reuters. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Sigrid Krämer: Nicht alle Chancen genutzt. (Rezension über: Renate Schipke: Scriptorium und Bibliothek des Benediktinerklosters Bosau bei Zeitz. Die Bosauer Handschriften in Schulpforte. Wiesbaden: Harrassowitz 2000.)
In: IASLonline [13.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=452>
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Anmerkungen

Paul Böhme: Nachrichten über die Bibliothek der Kgl. Landesschule Pforta. 2: Handschriften einschl. Urkunden (Schulprogramm Nr. 223) Naumburg 1883, S. 1–18.   zurück
Ein interessanter Hinweis zu diesem Problem findet sich in einem Band über die Kanzlei Ludwigs des Reichen (S. 46): »Der Staub und Schmutz, die sich im Laufe der Zeit in den eingeritzten Linien festsetzten, täuschen vielfach Linierung mit Blei oder Rötel vor« (vgl. Beatrix Ettelt-Schönewald: Kanzlei, Rat und Regierung Herzog Ludwigs des Reichen von Bayern-Landshut (1450–1479), Bd. 1, München 1996).   zurück