Gustav Frank

Ein »Laboratorium des Menschen und der Wahrnehmung« - »im höchsten Grade poetisch und wahr zugleich«

Wissen durch Literatur im 19. Jahrhundert




  • Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen: Max Niemeyer 2002. VI, 385 S. 14 s/w Abb. Leinen. EUR (D) 86,00.
    ISBN: 3-484-10843-6.


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Methodische Sprödigkeit

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Titel und Einleitung des von Lutz Danneberg und Friedrich Vollhardt in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert 2002 herausgegebenen Sammelbandes, der im Kern auf ein Hamburger Kolloquium von 1995 zurückgeht – eine Reihe der Beiträge ist so mittlerweile als Nukleus umfangreicher Monographien und Qualifizierungsarbeiten erkennbar –, fallen reichlich spröde aus. Daß sie jeglicher Poesie, auch der akademischer Doppeltitel, entraten wollen, mag zum einen daran liegen, daß man ihnen belehrt über Weltanschauungsliteratur wie die oben im zweiten Teil der Überschrift zitierten Gemeinverständlichen Werke Ernst Haeckels zu mißtrauen gelernt hat. Das mag zum anderen auch darin eine weitere Ursache haben, daß hier die gesammelten Untersuchungen als Demonstrationen am Objekt für sich sprechen und damit zu erwartende Leistungen des Forschungsgebietes illustrieren sollen. Eine theoretisch-methodische Fundierung eines noch immer nicht selbstverständlichen Unterfangens hätte demgegenüber einer eigenen ausführlichen Stellungnahme bedurft, die angesichts einer Vielzahl kontroverser Äußerungen zu Sinn und Unmöglichkeit dieses Forschungsansatzes in konsensstiftender Form noch immer aussteht.

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Man kann diese Sprödigkeit also nicht nur als rhetorischen Kunstgriff einer empathischen Anlehnung an die Sachlichkeit des Gegenstands zuschreiben, sondern vor allem auch der Weisheit der Herausgeber zu gute halten, ihr Projekt von einer solchen Fundierung des Unternehmens zu entlasten. Denn eine solche würde sich leicht auch die Grundsatzprobleme der gegenwärtigen Selbstverständigung der Literatur-, ja der ausgehenden Geistes- als heraufkommenden Medienkulturwissenschaften aufladen, wie dies zum einen etwa Nicolas Pethes’ jüngerer Forschungsbericht für das IASL belegt: Wo Literaturwissenschaft Literatur und Wissen zum Gegenstand erhebt, gilt das heute vor allem als Index für die vielgestaltig immer wieder erneut aufbrechende Kontroverse seit der deklarierten Entgegensetzung von Natur- und Geisteswissenschaften, als Index eines unumgänglichen Diskurses der Selbstrechtfertigung. 1

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Dies scheint zum anderen auch etwa in den einleitenden Bemerkungen im Beitrag Walter Erharts auf, der in der Kategorie des Wissens das alte Problem von Text und Kontext aufgelöst und damit einer Literaturwissenschaft »nach der Sozialgeschichte« 2 den Weg gebahnt sieht (S. 257).

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Des weiteren machen Liliane Weissbergs Einlassungen zum Phantom »der wissenslosen Literatur« (S. 127) deutlich, daß umgekehrt die Erweiterung in Kontexte hinein immer auch die Grundlagenprobleme der philologischen Textarbeit hervortreibt. Die entziehen sich naturgemäß ebenso einer Abhandlung en passant. Weissbergs Erschrecken vor einer ›Literatur ohne Wissen‹ zielt auf die grundlegende Frage, wann im Rahmen der philologischen Arbeit am Text die Kategorie des Wissens (erst) sinnvoll ins Spiel kommen kann. Natürlich muß, wer immer das Kommunikationsangebot des Textes annimmt, ein Wissen von der Sprache als Voraussetzungssystem in ihrer je historischen grammatikalisch-syntaktischen, ihrer lexikalisch-semantischen sowie ihrer performativ-pragmatischen Dimension besitzen. Mit letzterer Dimension ist der Übergang zu einem Wissen gegeben, das vonnöten ist, um Literatur als Literatur und einen Text in seinen literarischen Traditionszusammenhängen zu erkennen.

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Worum es im gesamten Band jedoch vornehmlich geht, ist Wissen als Zusatzhypothese im Rahmen einer erweiterten Bestimmung des Textes im Funktionszusammenhang seiner Kultur und Gesellschaft. Aus philologischer Perspektive betrachtet können damit Dimensionen am Text erschlossen werden, die sich nicht schon den Kompetenzen für die historische Stufe der Sprache und den Stand der literarischen Formen erschließen. Vor allem auf der lexikalischen Ebene wird jedoch schnell, etwa durch Abgleich mit einem zeitgenössisches Lexikontext, deutlich, daß schon vermeintlich einfache innersprachliche Tatsachen mit komplexen kulturellen Annahmen kontaminiert sind.

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Doch welches Wissen ist für die philologische Arbeit mit literarischen Texten bedeutsam, das nicht schon durch das primäre sprachliche Material in die Texte eingetragen wird? An dieses Problem der Relevanz schließt aus philologischer Perspektive ein weiteres an: Wer erschließt die primären Quellen dieses Wissens, der Wissenschaftshistoriker, der Wissenschaftsforscher oder eben doch der Literaturwissenschaftler im und aus dem Zusammenhang seines genuinen Interesses?

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Denn mit der Bevorzugung des Begriffs Wissen, wie ihn ja auch der Titel des Bandes auszeichnet, ist eine Kategorie gewählt, die quer steht zur herkömmlichen Praxis der Kontextualisierung von Text: Wissen ist eine komplex erzeugte und verteilte Kategorie aus sozio-semiotischen Prozessen und kulturellen Praktiken, an der im 19. Jahrhundert etwa Literatur, Journalprosa und sich disziplinär konstituierende und mit ihrem Herkommen ringende Wissenschaften gleichermaßen Anteil beanspruchen können. Kulturelles Wissen ist mithin durchaus nicht außerhalb literarischer Kommunikation festgestellt und als Referenzgröße dem damaligen Literaten wie dem heutigen Literaturwissenschaftler unmittelbar abrufbar. Umgekehrt steht Literatur offenbar nicht zuletzt durch die Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Wissenschaften in vorgängigen genetischen und begleitenden, stützenden wie transformierenden, kulturellen Entscheidungs- und Auswahlprozessen sowie in popularisierenden, an öffentliche Debatten zurückbindenden und verhandelbar haltenden Austauschprozessen... –

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Diese Besprechung wird dem Band in seiner Intention folgen und ihn nicht vorab in einer theoretischen Landschaft ansiedeln. Sie wird aber auch nicht die Einzelbeiträge in die spezifische Forschungsdiskussion zu Epochen, Texten und Autoren begleiten, in der sie sich jeweils situieren. Was dann? Sie wird versuchen, zum einen die Ergebnisse zum Bandtitel »Wissen in Literatur« in eher systematischer Absicht zu erheben, zum anderen einen möglichen Zusammenhang zwischen den an der Oberfläche zunächst recht unterschiedlich angelegten und verfahrenden Beiträgen in eher historischer Absicht anzudeuten.

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Wissen vom Menschen

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Michael Titzmann setzt sich mit den Systematiken der Altersklassen im Bildungsroman, in normativen (Recht) sowie in anthropologischen Diskursen der Goethezeit auseinander. Kenntlich wird dabei zunächst, daß sowohl den literarischen Texten wie den theoretischen Entwürfen eine Art gemeinsames, auf Kollektivsymboliken beruhendes, also auf sprachlichen und symbolischen Ordnungen aufbauendes Alltagswissen zugrunde liegt, das jeweils ausgearbeitet wird. Ferner zeigt sich, »daß nicht die Literatur auf theoretisch artikuliertes Wissen zurückgreift, sondern daß der theoretische Diskurs, wenn auch selektiv, Elemente des literarischen Modells übernimmt« (S. 51). Der Vergleich der Regelmenge, die sich aus den erzählten Geschichten der literarischen Texte ableiten läßt, mit den Versuchen zur Systematisierung und Generalisierung in den philosophischen und medizinischen Anthropologien, zeigt die jeweilige Spezifizität: Was etwa ein ausdrücklicher normativer Diskurs als soziale Normsetzung nicht, nicht mehr oder nicht im einzelnen regelt, versucht ein implizit normativer Diskurs mit biologisch-natürlichen Normen zu überziehen. Was ein solcher anthropologischer Diskurs zu minimieren und entproblematisieren bestrebt ist, etwa das dynamische Lebensalter der Jugend, das entfaltet die Literatur in seiner ganzen Problematik. Dies tut sie in ihrer Mehrheit jedoch nicht, weil sie per se ordnungsresistent oder subversiv wäre, sondern um soziale Energien positiv in Erzählungen von glückenden und scheiternden Lebenswegen und biographischen Mustern ein- und aufzufangen. In der leserbindenden und -bildenden Doppelfunktion der literarischen Formung, den spezifischen rhetorischen und erzählerischen Verfahrensweisen dieses Erzähltyps, die im Beitrag etwas zu kurz kommen, besteht eine Berührung mit der aufklärerischen Pädagogik.

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Manfred Engels Beitrag ist mit dem vorhergehenden dort verknüpft, wo er die Umstände von Gelingen und Mißlingen von Jugend in Texten der Romantik, besonders bei Novalis und Hoffmann, präzisiert. Die Koevolution von Traumtheorie in der Naturphilosophie und Traumdichtung der Romantik legitimiert die Ausgestaltung der in der zeitgenössischen Anthropologie reduzierten Transgressivität, der Bedrohlichkeit und Gefährdetheit, der Jugendphase. Traumtheorie und -literatur erweisen sich als »optimal kompatibel« (S. 88), insofern ein inhaltsleerer Theorierahmen der Literatur die Lizenzen zu konkreter Ausgestaltung erteilt und somit Innovationen des Symbolsystems Literatur auf den Weg bringt, die romantische Schreibweisen von konkurrierenden abheben. Die Verknüpfung mit der Naturphilosophie erlaubt es Engel zudem, verbreitete Anachronismen in der Lektüre der romantischen Rede vom Unbewußten kenntlich zu machen: So haben die »Träume der romantischen Literatur keine individualpsychologische Erkenntnisfunktion« (S. 79).

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Kann Engel an seinen Textbeispielen den von Odo Marquard beobachteten Übergang von »Romantik-Natur« zu »Triebnatur« bestätigen, so verfolgt auch Christian Begemann im Werk Stifters die Konkurrenz von Naturkonzepten. War die Traumliteratur Voraussetzung der Herausbildung »antirealistischer Schreibweisen« (S. 89) im Zusammenhang »ihrer kosmologisch-metaphysischen Erfahrungsdimension« (S. 79), läßt sich bei Stifter ein höchst problembeladener Übergang von »Metaphysik« zu »Empirie« – so die Titelbegriffe Begemanns – nachzeichnen. In dieser Konstellation wird auf »weithin unbeabsichtigte Weise« (S. 93) – es wäre eine Überprüfung wert, inwieweit auf eine Reihe von Zeitgenossen diese auf Stifter gemünzte Beobachtung gleichermaßen zutrifft – Literatur zu »einem Experimentierfeld, in das ›Wissen‹ nicht einfach als fixe Größe eingeht, sondern in dem es zugleich erprobt, auf seine Reichweite und Tragfähigkeit befragt und mehr oder weniger heimlich bezweifelt, kurz: in dem es auch in seiner epistemologischen Problematik erscheint« (S. 93).

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Der Beitrag bringt darüber hinaus die Institutionen, Orte und Architekturen der Wissensspeicherung und -vermittlung ins Spiel und erweist sie als konstitutiv für die literarischen Zeichenkonzepte und Verfahrensweisen. So wird einerseits Wissenschaft selbst als veränderlich im historisch-sozialen Prozeß faßbar, welcher andererseits im Wissenshaushalt der Kultur nicht ohne Effekte und in der Literatur nicht unbeobachtet und unkommentiert, etwa was Kosten und Nutzen betrifft, bleibt. Angesichts einer solchermaßen recht genau in den Blick kommenden Empirie, die die Einheitsbezüge von Welt, von Natur und Mensch, zunehmend zersetzt, erscheint das Unternehmen (realistischer) Literatur weniger kompensatorisch als radikal konstruktiv.

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Wahrnehmungsgeschichte

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Damit gehören Stifters Texte einer Wahrnehmungsgeschichte des 19. Jahrhunderts an, was der Beitrag von Liliane Weissberg an der »Geburt des realistischen Blicks« weiter entfaltet. Entlang der neueren Forschung zur visuellen Kultur (Martin Jay, Jonathan Crary, Guy Debord) kann Weissberg Stifter auch hinsichtlich des Subjekts als Wahrnehmungszentrum eine ambivalente Position der Übergänglichkeit zuweisen. Seit den 1820er Jahren gerät eine in das epistemische Modell der camera obscura eingeschlossene optische Codierung von Wahrnehmung, Erkenntnis und Subjektivität ins Wanken. Das Aufkommen einer Vielzahl optischer Instrumente dynamisiert das Auge und subjektiviert die Beobachterposition. Damit vollzieht sich eine Verschiebung aus dem Bereich wissenschaftlicher Experimentalanordnungen hin zu massenproduzierten Geräten, aber vor allem Bildern für den populären Konsum. Auch dieser Moment der Übergänglichkeit, der die epistemische Grundordnung der Goethezeit tangiert und damit auch zu den Voraussetzungen der von Begemann beschriebenen ideologischen Ambivalenz Stifters zählen dürfte, schreibt sich in Stifters Wien-Bildern und eine Erzählung wie Turmalin durchgängig ein. Wieder steht der Preis der Umcodierung, der neuen Welt-Sicht, ebenso zur Diskussion wie die Friktionen aus einer Restauration des »beherrschenden Blicks« (S. 146).

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Unmittelbar daran schließt Gerhart von Graevenitz’ umfangreiche Analyse von »Wissen und Sehen« an, die das anthropologische Interesse der ersten Beiträge mit der optischen Codierung von Erkenntnis im Perspektivismus verknüpft. Hat schon Weissberg auf die Rolle der (Massen)Presse bei der Durchsetzung der neuen Wahrnehmungsordnung hingewiesen, so widmet sich Graevenitz besonders auch diesem Aspekt; im Hinblick wiederum auf die Bunten Steine von Stifter, der damit zu einer Zentralfigur des literarischen Wissens um die Mitte des 19. Jahrhunderts avanciert, und auf Keller.

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Damals traf eine sich beschleunigende Ausdifferenzierung des Wissens entlang der disziplinären Reorganisation der Wissenschaft auf ein Begehren nach Entdifferenzierung, so daß die Ebene des Subjekts weder kollektiv überschritten noch spezialwissenschaftlich unterschritten werden sollte: Der »Tendenz zur naturwissenschaftlichen Entanthropomorphisierung des Wissens über den Menschen begegnet der Wissenschaftsjournalismus der Zeitschriften mit einer suggestiven Anthropomorphisierung allen Wissens« (S. 148 f.). Die Einheit des Menschen ist nur mehr vor der moralischen Natur zu errichten, der ein spezifisches Ethikangebot der Literatur korrespondiert.

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Doch: »Die Zeitschriften üben in eine optische, eine nur optische Suggestion der Anschauungs-, Bild- und Blickeinheit alles Dispersen ein. Stifter hingegen legt den Kontruktivismus dieses Einheitsdispositivs bloß« (S. 173), was sich auch mit Begemanns Befund deckt. Keller versucht gegenüber diesem protorealistischen Programm in seinem spätrealistischen Zyklus Das Sinngedicht dann »zugleich die Konstruktionsregel und das unaufhebbar Imaginäre des Konstrukts zur Darstellung zu bringen.« (S. 189) Die funktionellen Möglichkeiten von Literatur sind also nicht einfach zwischen genereller progressiver Subversion und restaurativer Affirmation aufgeteilt.

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Literatur und Wissenschaft –
Wissenschaft oder Literatur

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Im Zuge der Ausdifferenzierung der Wissenschaften aus dem klassischen Kanon der Universität kommt vor allem den Künsten ihr fester Platz im Gefüge des kulturellen Wissens und Könnens abhanden. So ist dem heraufziehenden ersten Jahrhundert der Wissenschaften immer auch eine Positionsbestimmung der Künste im Prozeß der Wissensmehrung und des Wissenswandels aufgegeben. Mit einem Fokus auf den zugehörigen histoire- und discours-Strukturen zeichnet der Beitrag von Eckhard Höfner für den Bereich der Romania, am Beispiel zyklischer Dichtungen wie Graevenitz, von Balzac bis Zola die unterschiedlichen Versuche der Literatur nach, einen neuen Platz in der Ordnung des Wissens zu gewinnen. Dabei wird kenntlich, daß sich die Entwicklungen nicht im Modell einer linearen Progression verstehen lassen. So wird etwa eine früh in der Auseinandersetzung mit den Wissenschaften gewonnene ›Modernität‹ des perspektivischen Erzählens wieder aufgegeben zugunsten einer Rückkehr auktorialer Erzählverfahren; eine Tendenz, die auch im deutschen Sprachraum für den Übergang vom Vormärz zum Realismus, etwa bei Keller, zu beobachten wäre. 3

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In den Wechselwirkungen der Sektoren bei der Konstitution des kulturellen Wissens, insbesondere für Entwürfe der Selbstwahrnehmung von Akteuren, spielt nicht zuletzt auch die Reaktion auf die Persistenz scheinbar veralteter Programme eine große Rolle. Die Differenz von Selbstwahrnehmung und
-darstellung zur eigenen Forschungspraxis kann Ulrich Charpa eindringlich an Du Bois-Reymonds Abfertigung Goethes rekonstruieren. Die Pointe der Polemik gegen Goethe besteht in ihrem selbst seit den 1870er Jahren bereits obsolet gewordenen Fundament in der klassischen Mechanik – Bezugsgröße für die Beobachtung des Wissens sind also nie ›die Wissenschaften‹, sondern immer ein spezifischer Stand des Wissens und seiner Organisation. So zeigt sich, daß literarische oder ›literaturnahe‹ Wissensproduktion nicht per se rückständig gegenüber avancierten wissenschaftlichen Erkenntnissen sein muß, sondern daß Wissen in unterschiedliche Funktionszusammenhänge eintreten kann, die über den Status von ›epistemischen Dingen‹ 4 ebenso wie über das aptum der Rede entscheiden.

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Wissenschaft als Weltanschauung

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Zum Ausgang des 19. Jahrhunderts vollzieht sich auch in verschiedenen Bereichen der Wissenschaftslandschaft eine Revolution, die Gewißheiten des Jahrhunderts umstürzt und mit einem historischen Index versieht. So stehen jetzt nicht nur die eingangs des Jahrhunderts, wie die Analysen des Bandes zeigten, noch anzutreffenden religiösen und metaphysisch-philosophischen Weltentwürfe in Frage, sondern auch die sie mehr auf- als ablösenden Wissenschaften. Nunmehr kann einerseits etwa die Neue Physik der Jahrhundertwende beanspruchen, in die Welt-Bild-Funktion 5 einzutreten, wie andererseits die ›wissenschaftliche Weltanschauung‹ als koevolutives Begleitphänomen der älteren Naturwissenschaften des physiologischen Typs des vergehenden Jahrhunderts eindeutig zur Weltanschauung absinkt, um als Weltanschauungsliteratur Karriere zu machen. Der Vertextungs- und Argumentationsstrategien dieses Typs nehmen sich die Beiträge von Katharina Grätz (zu Ernst Haeckels Welträtsel) und Horst Thomé (in systematischer Absicht) an.

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Die Beiträge von Thomas Borgard und Peter Matussek zeigen die doppelte Funktion des vom 19. Jahrhundert ausgebildeten historistischen Dispositivs für diesen Kontext, das zwar einer Historisierung von Wissensbeständen Vorschub leistet, das aber durch seine übermächtige Archivfunktion und Musealisierungstendenz auch die Produktion ›neuen Wissens‹ hemmt. Literatur kann beide Funktionen nutzen, um genuines ›neues Wissen‹ sowohl jenseits der ›Weltanschauung‹ wie jenseits der neuen Wissenschaften durch Erweiterung der literatursprachlichen Möglichkeiten zu erzeugen. Daß Literatur somit auch in die Lage versetzt wird, dann »durch die spezifische Verwendung der in den naturwissenschaftlichen Theorien enthaltenen Figuren auch ein gemeinsames zugrundeliegendes Wissen zu enthüllen« (S. 283), weist Walter Erhart für die Figurationen der Männlichkeit um die Wende zum 20. Jahrhundert nach.

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›Widerstände der Systemtheorie‹ 6

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Durch die Beiträge, wiewohl sie in der Summe keine Geschichte des Wissens in Literatur entworfen haben, ziehen sich doch wichtige Verbindungslinien anthropologischer, wahrnehmungsgeschichtlicher wie historistischer Wissenskomplexe. Die historische Variabilität und Spezifizität des Anteils von Literatur in genetischen wie transformatorischen Phasen ist damit deutlich herausgearbeitet. Diese Arbeit setzt allerdings eine soziale Institutionen, wie Wissenschaften, publizistische Öffentlichkeit oder Literaturmarkt sie darstellen, querende Kategorie wie das ›Wissen‹ voraus. Dagegen läßt sich aus systemtheoretischer Sicht ein wenig abschätzig der Einwand eines grundsätzlichen Kategorienfehlers aller dieser Analysen erheben. Denn nach der Ausdifferenzierung in geschlossen operierende Funktionssysteme regieren Wissenschaft und Kunst unterschiedliche Leitunterscheidungen. Beide Systeme können so allenfalls ihrer eigenen Reproduktionslogik folgende Beobachtungsbeziehungen unterhalten. Wissenschaft kann zur Kunst nichts beitragen als sich innerhalb von deren kategorialen Wahrnehmungsdispositionen beobachten lassen, Kunst steht dem Wissenschaftssystem fremd gegenüber. Da ihre Leistungen allein ästhetischer Natur sind, können sie entlang einer Unterscheidung von wahr und falsch nur verfehlt werden.

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Wie die Studien des vorliegenden Bandes gezeigt haben, besitzen Wissensmengen auch außerhalb der Wissenschaften hohe kulturelle Relevanz. ›Wissen‹ als Forschungsfeld anzusetzen, erlaubt darüber hinaus, sowohl diskurs- wie auch disziplingenetische Prozesse präziser analysieren zu können. Allerdings geht das kaum mit einer ergebnis- und strukturorientierten Modellbildung wie der systemtheoretischen, sondern eher mit einer prozeß- und transformationsorientierten, wie sie den Beiträgen des Bandes zugrunde liegt. Derart kann auch einem latent teleologischen Zug im systemtheoretischen Argumentieren begegnet werden, und neben der Ausdifferenzierung geraten auch Entdifferenzierungsvorgänge nicht aus dem Blick.

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Wo die systemtheoretische Karte zur Errettung des ästhetischen Mehrwerts von Literatur gespielt wird, ist übersehen, daß sich dieser auch funktional rekonstruieren läßt als die höchst effektive interdiskursive Potenz der dichten poetischen Sprache und der rhetorischen und semiotischen Verfahren, wie das eine Reihe der Beiträge denn auch in close readings vorführt.

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Wissen – Literatur – 19. Jahrhundert

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Der Fokus auf das 19. Jahrhundert als dem Zeitalter der »Vergottung der ›Wissenschaftlichkeit‹«, als dem »Heroenzeitalter aller Naturwissenschaft, aber auch Geburtsstunde einer Reihe neuer Disziplinen« ist glücklich gewählt, um die Vielfalt der möglichen Verschränkungen von Wissen in Literatur darzustellen. 7 Schon der Beitrag Borgards über Musil macht dann den Umbruch hin zur Moderne deutlich. Der besteht in einer »Selbstrevision des wissenschaftlichen Denkens«, 8 die sich nicht zuletzt darin äußert, daß von nun an eine eigene Wissenschaftstheorie und Wissenssoziologie sowie die Selbstreflexion der Literatur als Wissensagentur im Kontext der konkurrierenden neuen Wissenschaften vom Menschen notwendig werden. 9

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Für das 19. Jahrhundert gilt dem Band zufolge eine andere epistemische Grundordnung. Wolf Lepenies hatte speziell für die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts versucht, das Zusammenspiel mit den Naturwissenschaften durch eine ›konservierende‹ Funktion der Literatur genauer zu bestimmen – vom wissenschaftlichen Diskurs als überholt und unbrauchbar ausgegrenzte Themen, Modelle und Theoreme blieben dort aufgehoben –, jedoch ohne die Frage, wozu das im kulturellen Kontext taugen soll, zu erörtern. 10 Später hat er diese Aufgabe durch eine Art Funktion des ›Aufbewahrens‹ präzisiert: Literatur als ›Zwischenlager‹ von Themen, die noch nicht (wieder) befriedigend wissenschaftlich bearbeitet werden können. 11

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Für die Geisteswissenschaften, und implizit werden sie in ihrer kulturellen Domäne meist als mit ihren Gegenständen vertauschbar betrachtet, hat die Diskussion der zwei Kulturen verschiedene Aufgaben gesehen, die mithin auch die ›schöne Literatur‹ als Ganze seit der Ausdifferenzierung der Wissenschaften beschreiben sollten. Von Kompensation war 1985 bei Odo Marquard die Rede, von Orientierung und Aufklärung als alternative Funktionen in den Erwiderungen auf ihn. Eine kompensatorische Funktion, die auf die Flurschäden des wissenschaftlich-technischen und industriellen Komplexes reagiert, oder eine Residualfunktion für obsolete Wissensbestände – Unumgänglichkeit von Literatur scheint im 19. Jahrhundert in anderem bestanden zu haben, das zeigt der Band nicht abschließend und vollständig, aber mit hinreichendem Nachdruck. Umgekehrt eröffnet er damit auch einen neuen mehrdimensionalen Zugang zur Wissenschaft als dem »laboratorio borghese« über einen primär sozialwissenschaftlichen Fokus und ein politik- wie verfassungsgeschichtliches Interesse hinaus. 12


Dr. Gustav Frank
University of Nottingham
Department of German
University Park
GB - NG7 2RD Nottingham

Ins Netz gestellt am 01.12.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

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Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Gustav Frank: Ein »Laboratorium des Menschen und der Wahrnehmung« - »im höchsten Grade poetisch und wahr zugleich«. Wissen durch Literatur im 19. Jahrhundert. (Rezension über: Lutz Danneberg / Friedrich Vollhardt (Hg.): Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert. Hg. in Zusammenarbeit mit Hartmut Böhme und Jörg Schönert. Tübingen: Max Niemeyer 2002.)
In: IASLonline [01.12.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=492>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: IASL 28/1 (2003), S. 181–231.   zurück
Man vgl. zu dieser Problematik etwa Martin Huber / Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen: Niemeyer 2000.   zurück
Vgl. dazu die im Band nicht berücksichtigte wichtige Studie von Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. Gottfried Keller: Der grüne Heinrich. München: Fink 1993.   zurück
Vgl. Hans-Jörg Rheinberger: Experiment, Differenz, Schrift. Zur Geschichte epistemischer Dinge. Marburg / Lahn: Basilisken-Presse 1992.   zurück
Vgl. zur Weltbildfunktion der Neuen Physik um 1900 Rudolf Stichweh: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1994, S. 152 f.   zurück
In Anlehnung an den Band von Albrecht Koschorke / Cornelia Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie: kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann. Berlin: Akademie Vlg. 1999.   zurück
Hermann Broch: Denkerische und dichterische Erkenntnis [1933]. In: H.B.: Schriften zur Literatur 2, Theorie. Hg. Paul Michael Lützeler. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1975, S. 43–49, hier S. 43.   zurück
Ebd., S. 48.   zurück
Vgl. auch Robert Musil: [Typus einer Erzählung] [Ohne Titel – 1910/11?]. In: R.M.: Gesammelte Werke. Hg. Adolf Frisé. Bd. 2. Reinbek: Rowohlt 1983, S. 1311.   zurück
10 
Vgl. Wolf Lepenies: Der Wissenschaftler als Autor. Über konservierende Funktionen der Literatur. In: Akzente 25 (1978). S. 129–147.   zurück
11 
Vgl. Wolf Lepenies: ›Schön und korrekt‹. Die Literatur als Bezugsgruppe wissenschaftlicher Außenseiter. In: Soziologie in weltbürgerlicher Absicht. FS für René König. Hg. Heine von Alemann / Hans Peter Thurn. Opladen: Westdeutscher Vlg. 1981, S. 90–100.   zurück
12 
So Pierangelo Schiera: Il laboratorio borghese. Scienza e politica nella Germania dell'Ottocento. Bologna: II Mulino 1987.   zurück