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»Sit(z)tsamkeit« oder:
Wie Räume Weiblichkeit repräsentieren

  • Michaela Krug: Auf der Suche nach dem eigenen Raum. Topographien des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800. (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 437) Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. 370 S. Geheftet. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 3-8260-2461-3.
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Raum als soziale Praxis

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Im Mittelpunkt von Krugs Dissertation steht der wahrgenommene, kulturell gestaltete und individuell gelebte Raum. Die physische Umgebung ist eben nicht eine »Gegebenheit der stofflichen Welt« (S. 18) – wie Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Friedrich Leibniz es sahen – und ebensowenig allein in das Bewusstsein des einzelnen Subjekts verlegbar, wie Immanuel Kant Raum dachte, sondern ist soziale Praxis, als die ihn Karlfried von Dürckheim und Ludwig Binswanger verstehen. Diese Ansätze werden referiert als Basis für die Themenstellung, die Beschreibung des weiblichen Raums in Romanen von Frauen um 1800. Natürlich trägt der physische Raum auch in der Realität Sinn, aber seine Potenzierung zu einem Konstrukt der sozialen Ordnung und zu einem hochgradig strukturierten Erinnerungssystem vollzieht sich eindringlicher in fiktionalen Texten. Krug analysiert folglich, ausgehend von den Theoremen des amerikanischen Anthropologen Edward T. Hall (The Hidden Dimension, 1966), die Strukturen der Räume im Text als Modell der Strukturen der ganzen Welt. Im Verlauf ihrer Untersuchung bildet sich ein Raum-Repertoire heraus, das den Prozess kultureller und besonders weiblicher Identitätsbildung repräsentiert. Raum erweist die »Inszenierung sozialer Ordnungsmuster einer Gesellschaft«, ja er entwickelt sich zur »Chiffre [...] für die heterogenen Realitäten« (S. 12). Im Blick bleibt dabei immer die Frage: Inwieweit lässt sich der Raum als ein »Psychogramm« der jeweiligen Figur und als ein »Soziogramm« lesen, besonders für vergessene weibliche Lebenszusammenhänge und »gesellschaftliche (Verdrängungs-) Prozesse« (S. 12).

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Zur Auswahl: Kanonische und
beinahe vergessene Erfolgstitel um 1800

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Aus der großen Bandbreite greift Krug die Romane von vier Autorinnen heraus, die in ihren Texten den Aufbruch der Frau (den die Autorinnen auf einer biographischen Ebene ebenfalls unternahmen) zeigen und an Figuren inszenieren, die gerade durch das »Verlassen des Hauses« und die »räumliche Progression« (S. 13) Identität gewinnen. Die jeweiligen Romane und ihre grundsätzlichen Daten sind unterschiedlich bekannt:

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1. Der Briefroman Die Geschichte des Fräuleins von Sternheim (1771) war der (anonym erschienene) Anfangserfolg der Sopie von La Roche (1730–1807) und wurde als solcher enthusiastisch aufgenommen. Wielands Vorrede etablierte das Klischee von der natürlichen weiblichen Begabung, die den geringeren »ästhetischen Gestaltungswillen« (S. 56) kompensiere. Die Geschichte, aus empfindsamen und spätaufklärerischen (sowie aus der englischen Literatur stammenden) Erzählelementen konstruiert, konnte solche Salvierungen entbehren, traf der Lebensweg der Heldin Sophie, spannungsreich zwischen die bürgerliche und höfische Lebenswelt gestellt, doch den Zeitgeschmack vollkommen. Mehrfach erwirbt sich die Protagonistin durch Altruismus Handlungsraum und schafft eigene »sozial-räumliche Modelle« (S. 121), die ihr Verführer Derby drastisch zu beschneiden sucht. Zuletzt kann sie ihren Idealpartner Seymour heiraten und im utopischen Raum von Seymourhouse einen eigenen »espace différenciel« (S. 123) jenseits der männlich dominierten Räume begründen.

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2. Der Roman Agnes von Lilien erschien zuerst 1796/97 in den Horen und dann 1797 bei Unger als zweibändige Ausgabe. Als Verfasser vermutete man abwechselnd Goethe, Schiller wie auch Charlotte von Kalb. Die Autorin Caroline von Wolzogen (1763–1847) wurde nach der Aufdeckung des Inkognito zu einer bewunderten Frau, steht aber trotz ihres umfangreichen Nachlasses bis heute unter dem »Dilettantismusverdikt« (S. 127). Struktur und Perspektive nimmt sie aus der Tradition des pietistischen Bekenntnisromans bzw. der Autobiographie (zu der 127 grundsätzliche Details wiederholt werden), denn die Ich-Erzählerin gibt als alte Frau einen Rückblick ihres Lebens. Dieser beschränkt sich auf die Adoleszenz und bietet im ersten Teil die Liebesgeschichte der Protagonistin mit dem Grafen Nordheim; der zweite Teil bringt die Suche nach der eigenen Herkunft – besonders eindringlich inszeniert als die Suche nach der Mutter – sowie die Heirat.

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3. Die Familie Seldorf erschien zunächst in Fortsetzungen in Cottas Zeitschrift Flora 1794; das Buch folgte 1795 bzw. 1796 und stand damit ganz nah zu den beschriebenen Ereignissen. Innerhalb des Frauenromans führte Therese Huber (1764–1829) als einzige die Auseinandersetzung mit der Revolution und nahm deren politische Diskurse auf, indem die Protagonistin ihren ländlichen Ursprungsort in der Vendée verlässt, um ihrem adligen Liebhaber nach Paris zu folgen, wo sie die Schrecken vor und nach der Enthauptung des Königs erlebt. Nach einer kurzen Episode, in der sie als Soldat verkleidet männliche Domänen durchschreitet, kehrt sie in den Ort ihrer Herkunft zurück und bleibt, selbst ortlos, in den Ruinen der Revolution, ohne dass der Text das weitere Ergehen der Figur klar auswiese.

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4. Anders als Laroche, Wolzogen und Huber stand Caroline Auguste Fischer (1764–1842) dem Literaturbetrieb ihrer Zeit fern, die vier Romane und wenigen weiteren Prosatexte wurden bisher wenig erforscht. Ihr Briefroman Die Honigmonathe erschien 1802; das Geschlechterverhältnis innerhalb des Bürgertums steht (wie auch in den weiteren Romanen Der Günstling, 1808, und Margarethe, 1812) im Zentrum, während der in den anderen Texten prominente Konflikt mit dem Adel stark zurücktritt.

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Das Raum-Repertoire als
Repräsentation weiblicher Identität

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Die tragenden Konzepte der Darstellung richten sich auf die Fragen: Welches Raum-Repertoire wird sichtbar? Welche soziale Praxis drückt sich darin aus? Wie verhalten sich Frauen zu dieser im Raum präsenten Praxis – bleiben sie darin eingeschlossen oder können sie diese transzendieren und eigenständig gestalten? Aus dem Raumverhalten ergibt sich das dramatische Potential der Romanhandlung, wenn die Protagonistin nicht nur metaphorisch, sondern auch im literal-wörtlichen Sinne an eine Schwelle gerät, die sie übertreten will und nicht soll, oder Räume durchquert, die ihr gemäß der kulturellen Codierung verschlossen sind. Wiederkehrende Raumelemente macht Krug auf ihre symbolische Funktion hin transparent; dazu zählen u.a. die Schwelle, das Fenster, die Bildergalerie, der Garten, die Mauer, die Höhle, die Straße und der Horizont.

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Immer mitgedacht ist in den Darstellungen des fiktionalen Raum-Repertoires der Anspruch, dass die fiktionalen Raumkonzepte historisch konkrete Pendants haben, also die Texte als anthropologisch aussagekräftige Befunde über die historischen Bewegungsmöglichkeiten von Frauen zu verstehen sind. Zu verfolgen bleibt immer auch die Frage, wie sich im Verlauf der dreißig Jahre zwischen dem frühesten Roman (von La Roche) und dem zeitlich spätesten Text (von Fischer) die Bedeutung von Räumen verschiebt und damit auch den sich fortentwickelnden Diskurs um Weiblichkeit und deren Codierung in Raumkonstanten spiegelt.

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Landgut und Pfarrhaus als idealer Herkunftsort

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La Roche und Wolzogen beginnen ihre Erzählung in der ländlichen Sphäre des Gutes bzw. des Pfarrhauses. Beide Male handelt es sich um einen »Projektionsort bürgerlicher Individualitätsvorstellungen« (S. 134); zumal das »Pfarrhaus als eine Art sozial-räumlicher Scharnierstelle beschreibt einen gesellschaftlichen Raum, der gegen eine landadlige und bäuerliche Welt abgegrenzt wird und einen gesellschaftlichen Zwischenraum markiert« (S. 136). Über einen Exkurs zur »Landpfarrerliteratur« (S. 133) werden die englischen Vorbilder dieses neuen, einen programmatisch an Rousseau orientierten Erziehungs- und Lebensstil einschließenden Gesellschaftskonzepts aufgezeigt. Der Genuss der Natur und die physiokratisch gedachte Verbesserung des Landbaus und damit der Ressourcen gehörten zusammen und galten in der englischen Gentry als verwirklicht (vgl. dazu bes. S. 72–74).

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Ein derart ideal-utopisch perspektivierter Ort wird in alle vier Romane als Handlungsort integriert, allerdings in wechselnder Breite, was auf das unvermeidliche Verschwinden dieses frühaufklärerischen Modells verweist.

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Besonders ausführlich zeigt Krug dies an dem Landgut wie auch dem Eheverständnis von Sophies Eltern (vgl. S. 66–72). Der Vater lebt als Gutsherr ganz diesem Gedanken der Verbesserung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse gemäß und vermittelt der Tochter dieses Ideal praktischer Fürsorge, das sie dann am Hof in eine verfängliche Situation bringt. Nordheim, der prospektive Idealpartner für Agnes, besitzt ebenfalls ein Landgut als Gegenraum zum Hof. Beim Abschreiten der Ahnengalerie (deren Portraits ungeachtet der aristokratischen Tradition eines solchen Gedächtnisortes schon Lavaters Forderung folgen und das Gesicht als Ausdruck des Wesens bzw. der Seele einer Person hervorheben) erklärt Nordheim das Portrait seiner Mutter, die in Abwesenheit des Vaters das Gut geführt habe: »Alles hatte Gedeihen und glücklichen Fortgang unter ihrer Aufsicht.« (S. 171) Saras Vater bewirtschaftet in der Nachbarschaft der vernachlässigten Adelsgüter – deren ausbeuterisches Wirtschaftsgebaren als klare Kritik am Ancien Regime formuliert ist – seinen Besitz zwar vorbildlich, aber in der Perspektive des Textes bleibt seine Arbeit an abstrakten Prinzipien orientiert und damit seelenlos. Wilhelmine schließlich lebt mit Julie vorübergehend auf einem Landgut, das sie kundig führt, jedoch dann verlässt, als Julie sich in die von der Mutter forcierte Ehe mit dem Offizier Olivier fügt.

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Der Kindheits- bzw. Adoleszenzraum ist bei Krug dicht beschrieben und mehrfach mit Exkursen unterfüttert, um die sozialen Einschreibungen einzelner Raumelemente zu erklären. Der Schrank etwa wird so verständlich als Verlängerung der weiblichen Existenz (vgl. S. 144) und als eine weitere Vertiefung des Innenraums, den die Frau einerseits durch häusliche Arbeit erst herstellt, in dem sie aber andererseits unreflektiert aufgeht. Bildung und der Aufenthalt im Außenraum müssen begründet werden, denn im Verbot des Draußen schlägt sich der Diskurs von der schwachen Konstitution der Frau nieder (vgl. S. 138).

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Aus dem Kindheits- bzw. Adoleszenzraum, der zugleich Stabilität und Zwang bedeuten kann, nehmen die Protagonistinnen – besonders Sophie und Agnes – die »kognitiven Karten« (S. 33) mit, die ihnen die Grundlage weiterer Entscheidungen liefern, mögen diese »Karten« auch später unangemessen sein und damit Missverständnisse erzeugen. Dergestalt tragen in den Texten die Raumkonzepte zur Dramatik der Handlung entscheidend bei.

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Der Weggang muss für Frauen explizit motiviert werden, sei es durch den Tod eines Elternteils oder die Ankunft eines Fremden, der als potentieller Partner die weibliche Identitätssuche einleitet. Mit dem Aufbruch werden andere Räume wichtig, die Krug wiederum in die Diskurse der Epoche um Weiblichkeit und Männlichkeit einordnet.

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Der krisenhafte Übergang hat besonders eine bezeichnende Zwischenstation, das Wirtshaus, das als hybride Welt – als eine »Heterotopie« (S. 154) – erscheint, in der verschiedene gesellschaftliche Schichten nebeneinander stehen.

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Raum als Psychogramm

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Speziell bei Wolzogen wird sichtbar, dass der unterschiedliche Umgang mit Raum mit den Weiblichkeitskonzepten korrespondiert; diese Entwicklung wird als Gegensatz von Mutter und Tochter plausibel in die Handlung integriert, weist aber über deren Strukturen hinaus und wird zum Epochenparadigma.

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Agnes stößt bei ihrer Suche nach Herkunft und damit Identität auf ihre bislang unbekannte Mutter, die – von Stand Prinzessin – ihren gesellschaftlichen Rang durch eine Liaison mit einem Maler verletzt hat. Die Autobiographie der Mutter, als Text im Text präsentiert, steht analog zur Identitätssuche der Tochter, die in eine ähnliche Situation gerät, diese aber ganz anders löst. Auf einem Lustschloss verlässt die Mutter unerlaubt den Garten, wird aber in dieser selbstbewussten Raumaneignung sofort frustriert, indem ihre Kräfte versagen und ein Fremder ihr zur Rückkehr verhelfen muss. Freiheitsbedürfnis und Liebe fallen damit zusammen und werden beide in den Innenraum zurückgedrängt, indem die Prinzessin nach der Heirat und der Geburt einer Tochter gesellschaftlich marginalisiert wird und sich an einem geheimen Ort aufhalten muss. Dort im »Hohlraum« (S. 189) ist die verdrängte Erinnerung an die Mutter und die weibliche Genealogie verborgen, die Agnes bei Nacht auf labyrinthischen Wegen, über mehrere Schwellen und Seitentüren hinweg, aufspürt. Hier werden Räume eindrucksvoll wie so oft in Krugs Darstellung, als Psychogramm der jeweiligen Figur sichtbar.

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Repressiver bürgerlicher Raumdiskurs

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Aber nicht nur in höfischer Perspektive verursacht die selbstbestimmte, scheiternde Liebe der Prinzessin Unbehagen; auch aus bürgerlicher Perspektive steht der Frau nur die marginalisierte Position zu. Der Tugenddiskurs der Zeit lässt keine selbstbewusste Raumaneignung zu. Für Mädchen waren Gehen und freie Körperbewegung nicht vorgesehen, die Mode zwang zur Unbeweglichkeit. Darin wird die weibliche Gehpraxis am nachhaltigsten geahndet, indem die Schwäche als Garant und Ventil weiblicher Tugend und Verführbarkeit erkannt wird. Um das Begehren zu kontrollieren, verlangt man von der Frau »Sitz/t/samkeit« (S. 185).

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Wegen ihrer hartnäckigen Suche nach der Mutter wird Agnes gefangen gesetzt; man will sie zu einer Konvenienzehe mit einem anderen als Nordheim zwingen. In dieser Situation wählt sie nicht die angebotene Flucht nach England (vgl. S. 195; die Analogie zu Sophie Sternheim und ihrem Aufenthalt im Idealland der Frühaufklärung wird ex negativo sichtbar), sondern die Duldung. Im ausweglosen Raum des Gefängnisses wendet sie sich zur imaginären Freiheit im Himmel und vermeidet damit die Verletzung realer Grenzen. Die Lebensgeschichten von Mutter und Tochter konvergieren also im Innenraum, den die Tochter aber freiwillig wählt (während er der Mutter aufgezwungen wurde). Schließlich von Nordheim befreit, reist sie mit ihm zurück zum Pfarrhaus, um ihn dort zu heiraten. Nahtlos kann der Text an den Anfang anschließen, indem er die Protagonistin in den Innenraum ihrer Jugend zurückführt und mit diesem verschmelzen lässt.

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Bürgerliche Häuslichkeit als
zerstörerische gesellschaftliche Projektion

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Der bürgerliche Diskurs situiert die Frau im Innenraum und sanktioniert vehement die Schwellenübertretung nach außen. Programmatisch wird diese Opposition von Innen / Außen in Fischers Die Honigmonathe abgearbeitet.

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Auf Betreiben der Mutter, die als Komplizin der väterlichen Macht auftritt, soll die Tochter Julie den Offizier Olivier heiraten; ihre Freundin Wilhelmine tauscht sich darüber mit ihrem Freund Reinhold aus. Über diese zwei Paare erhält der Leser ein Netz von Projektionsformen und kulturellen Überformungen von Weiblichkeit, die vorrangig in den Räumen ausgedrückt werden, die beide Frauen sich erschließen.

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Julies Bewegungsraum im Krankenzimmer der Mutter ist zu Beginn minimal; nach der Heirat schränkt ihr Mann ihn noch weiter ein, indem er sie in ein Gut mit Wassergraben verbringt, um ihrer sicher zu sein. Dennoch verliebt sich der Italiener Antonelli in sie; der Garten, in dem sie von dem werbenden Antonelli beobachtet wird, hat daher als »gezähmte Natur« (S. 307) schon einen zweideutigen Status und konfrontiert die Personen mit ihrem eigenen Begehren. Julies Geschichte endet mit der Zerstörung ihres Lebensmodells, da beide Männer ihre Liebe mit dem Leben bezahlen. Damit werden die bürgerliche Häuslichkeit und das Frauenideal als »zerstörerische gesellschaftliche Projektion« (S. 313) überführt. Die Abgeschiedenheit der Frau und die Besitzansprüche des Mannes bedeuten für die Frau ein Gefängnis, aus dem heraus sie sich kein Bewusstsein ihrer Selbst aneignen kann, sondern – herausgelöst aus den realen, historischen Lebenszusammenhängen – auf den Himmel verwiesen wird (vgl. S. 314).

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Ihre Antipodin Wilhelmine ist hingegen von Anfang an als provokante Figur konzipiert. Auf sie werden alle Projektionen gehäuft, die gegenüber selbstbewusster Weiblichkeit bestanden. Reinhold beschreibt sie als statuarisch, als Verkörperung der Liberté (vgl. S. 317); dazu passt ihr Zweifel an der angeblich natürlichen Begründung für das Verhalten der Frauen. Nicht nur kritisiert sie Frauenromane wie Elisa, oder das Weib wie es sein sollte (erschienen 1795), sondern entlarvt in einem Verweis auf die amerikanischen Sklavenhalter die vermeintlich gottgegebenen Gesetze als Ideologie zum Nutzen der Herrschenden, darin erstaunliche frühe Kritik an den amerikanischen Staaten übend (vgl. S. 321).

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Sie legt für Julie und sich ein Landgut an, das für beide Frauen zum transitären Raum wird. Wie bei La Roche und Wolzogen ist dies eine ideale Lebenswelt. Im Roman manifestiert sich bereits der Bruch mit der Tradition dieses Ortes, der aus seiner antihöfischen Konnotation befreit und zum Zwischenraum für eine autarke weibliche Existenz jenseits patriarchaler Ordnung wird. Die Pläne scheitern an den Vorbehalten Julies, die heiratet und damit die Freundin resigniert zurück lässt. Sie reist auf der Suche nach einem weiteren Lebensraum nach Italien.

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Italien als Raum jenseits dichotomischer Ordnungen

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Wilhelmines Reise ist vergleichsweise spärlich motiviert. Auch darin wird eine Entwicklung innerhalb der ausgewählten Romane und ihrer Weiblichkeitskonzepte sichtbar. Die drei anderen Romane hatten hier stets umfangreiche Begründungen aufgeboten, hinter denen die Erfahrungen reisender Frauen im 18. Jh. und das Reisen als ein Privileg des männlichen Bürgers aufscheinen. Historisch konkret lässt sich das Reiseverdikt an der Biographie der La Roche ablesen, die 1784 in die Schweiz und 1785 nach Frankreich reiste, und dafür die mehrfachen Gründe aufzählt: Wissbegierde und der Auftrag zu Begleitung einer Adligen reichen noch nicht, hinzu kommt natürlich die Erlaubnis des Ehemanns (vgl. bes. S. 326). War Reisen bis ins 18. Jh. wohlhabenden Aristokraten vorbehalten, wurde es – zumal als Fußreise (vgl. dazu schon S. 179 f.) – zum emanzipatorischen und sozialrevolutionären Gestus des Bürgers, mit dem sich der Wunsch nach erweitertem Wissen und der Aneignung von Welt jenseits der Buchgelehrsamkeit verband – davon blieben Frauen jedoch ausgeschlossen; höchstens mit dem Ausbau des Postwesens wurde für sie die Reise planbar und sicher, waren sie doch dann im Inneren des Wagens wieder domestiziert und geschützt.

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In Italien tritt die Figur in hybriden bzw. porösen Räumen auf, die aber nicht durch Zerstörung durchlässig wurden, sondern dank der Abwesenheit dichotomischer Ordnungen. Deutlich wird dies an der anderen Funktion des Fensters gezeigt: Es markiert noch die Grenze von Innen und Außen, wobei die Frau innen steht, aber die Isolation ist aufgehoben, denn vor dem Fenster liegt eine Laube und damit eine »Mischung aus Interieur und Öffentlichkeit« (S. 333). Wilhelmine kann also die Grenze gefahrlos überwinden, ohne der Verführung ausgesetzt zu sein. Sie beobachtet einen Mann, der seine Mutter betreut. In der Begegnung zwischen der selbstbestimmten Frau und dem androgynen Mann sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern eingeebnet, wie so oft in der Romantik.

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Die Ruinen der Revolution

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Der verstörendste Text im Hinblick auf die Raum- und Weiblichkeitskonzepte ist Hubers Revolutionsroman Die Familie Seldorf. Zwar werden die feudalen Schlösser von der Revolution gesprengt, so dass die übliche Frontenziehung von Hof bzw. Adel versus Bürgertum obsolet wird. Aber die Machtzentren der Revolution sind männlich-bürgerlich strukturiert, so dass für Frauen die Aneignung von Räumen weiterhin ein Problem bleibt.

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Die Entwicklung der Hauptfigur Sara ist einer Abfolge von Räumen eingeschrieben, die den Aktionsradius der anderen Figuren Sophie und Agnes sprengen. Hinfällig wird die bekannte Abfolge von Land (als dem Ort der Unschuld) zu Stadt (als dem Ort von Bewährung und Selbstfindung) und Rückkehr zum Ort der Kindheit, da Sara auf dem Land schon verführt wurde und dem betrügerischen Geliebten nach Paris folgt. Auch die Zirkelstruktur ist nur noch oberflächlich gewahrt, da die Rückkehr aufs Land keine Garantie von Glück oder Tugendhaftigkeit mehr ist, sondern nur in eine Ruine (sowohl des Selbst wie seiner Räume) führt.

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Der Vater vermittelt Sara und ihrem Bruder ein polares Geschlechtsbild, dabei die Stärke und Schwachheit betonend, die den Mann zum Führer des intellektuell und emotional anfälligen Weibes machen. Die Tochter widersetzt sich dem Versuch, sie in eine Beziehung mit dem sie liebenden Roger einzuschließen und geht eine Liaison mit einem Adligen ein. Der intakte Garten als locus amoenus (vgl. bes. S. 219, dann S. 229) ist das Raumsymbol Saras, die dort zum ersten Mal – in tiefer Einheit mit der Natur – von ihrem späteren Liebhaber beobachtet wird. Konsequent beschneidet er ihren Bewegungsraum, indem er ihr und dem Vater nach der Zerstörung des väterlichen Hauses sein Jagdhaus als Unterschlupf anbietet. Sara fällt aus dem sozial-räumlichen Lebensgefüge heraus und wird – vor allem nach dem Tod des Vaters – schutzlos. Der Text zeigt nachdrücklich, dass sie aus dem Kindheitsort – anders als Sophie und Agnes – keine Interaktionssicherheit mehr bezieht: Sie besteigt eine Anhöhe, um sich Überschau zu verschaffen. Damit wird eine Praxis zitiert, die in zeitgenössischen Beispielen als männliches Verhalten häufig vorkommt (z.B.: Goethe steigt auf das Straßburger Münster und in der Schweiz auf den Gipfel über Genf, um sich Überschau zu verschaffen und sich seiner Distanz zur Natur wie auch seiner Einzigartigkeit als Person bewusst zu werden, vgl. bes. S. 232–233). Von einer derartigen »visuellen Landnahme« (S. 234) und dem Moment der Reflexion, um das Alte zu überschauen und das Neue zu antizipieren, besonders im Blick auf den Horizont, waren Frauen ausgeschlossen.

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Das Meer der Großstadt

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Folglich fehlen der Protagonistin auch die Orientierungsmuster, um sich in der Großstadt zu bewegen. Diese selbst ist im Bild des Meeres und der Ozeanüberquerung gefasst und damit in einer Schlüsselmetaphorik, die auch in anderen Texten der Zeit auszumachen ist. Mit der Stadt als Meer und Labyrinth verbindet die Protagonistin keine Erinnerungen oder »kognitive Karten«, die sie zunächst auch nicht braucht, da ihr Liebhaber sie in einer Wohnung unterbringt, wo das schon bekannte Raumsymbol der wohlgefüllten und -geordneten Schränke erneut auf die Vergegenständlichung der Frau und ihr Aufgehen im Innenraum, auf ihr Erstarren in aufopferungsvoller Liebe verweisen. Diese bürgerliche Raumvorstellung der abgeschlossenen Privatheit wird als illusionär erklärt, indem die Revolution von der Straße auf diesen nur scheinbar wohlgeordneten Innenraum übergreift, als ein Soldat von der aufgebrachten Menge auf der Schwelle zusammengehauen wird. In diesem Augenblick gelingt der Protagonistin die stark sanktionierte Überschreitung der häuslichen Schwelle, sie wird in die Ereignisse der Straße hineingezogen.

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Die Daten der Revolution wie deren Weiblichkeitskonzepte werden mit der Lebensgeschichte Saras vermittelt. Historisch verbürgt ist die Teilnahme von Frauen an der Revolution, die über eigene Zeitungen und Klubs sich organisierten und eingriffen, z.B. im Marsch der Marktfrauen am 5./6. Oktober 1789 nach Versailles. Vom Wahlrecht wie von der Wahl zum Konvent blieben sie ausgeschlossen, auch wurden sie mit dem Dekret vom 30.4.1793 wieder aus der Armee entfernt, im Oktober 1793 wurde ihnen das Tragen von Hosen verboten, im Mai 1795 erging ein Ausgehverbot (vgl. passim S. 249 f., 266).

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Sara wird in die Kämpfe hineingerissen und verliert dabei ihre Tochter. Ihren Zustand ohne Pflichten als Frau und Mutter perspektiviert der Text negativ: Sie sieht ihr »gesellschaftliches Daseyn zerstört« (S. 251); nachdem sie miterlebt hat, wie der König hingerichtet wird (am 21.1.1793), verfällt sie in einen Zustand des Wahnsinns. Fazit dieser Handlungsentwicklung bleibt: Die Politik bringt »Zerrbilder politisierter Weiblichkeit« (S. 255) hervor. Sara kann im öffentlichen Raum keine eigenen Positionen durchsetzen, sondern ist von der männlich-bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Überdeutlich wird diese schmerzliche Erfahrung in der Szene auf der Schwelle eines Hauses inszeniert, wenn sich Mann und Frau begrüßen und das Ritual des Übergangs von öffentlich zu privat vollziehen: Der Mann überreicht der auf ihn wartenden Frau die Waffen – plakativer Ausdruck eines dichotomischen Modells, das auch weiterhin gilt.

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Sara schließt sich den Revolutionstruppen an und kann so – als Soldat Verrier – den männlichen Raum wenigstens in Verkleidung betreten. Umgehend erwirbt sie männliche Eigenschaften (Stärke, Tapferkeit); in diesem raschen Wechsel ist die vehemente Kritik an den Geschlechterzuschreibungen schon enthalten, denn diese werden als variable Zuschreibungen, als Maske begreifbar. Das Soldatenleben ist dennoch eine kurze Erfolgsgeschichte in Saras Leben, sie wird Kapitän und kommt zurück zum Schloss ihres Liebhabers, das eine Ruine ist und damit ihre vergangenen Illusionen repräsentiert. Ihre Truppe kämpft mit Rebellen, unter denen ihr Bruder Theodor ist. In den Ruinen als Erinnerungsort und in der Konfrontation mit dem Bruder vollzieht sich die Rückkehr in die weibliche Rolle, ohne dass die familiäre Ordnung wieder hergestellt werden kann. Sara stellt die politische Brüderlichkeit über die familiäre und übergibt den Bruder den Kameraden (die ihn später hinrichten). Dann erst kommt der Bruch, denn sie verliert ihre gerade gewonnene Stärke. Die Verkleidung macht die Willkürlichkeit der weiblichen und männlichen Rollen sichtbar, die als übergeworfenes Konstrukt verbildlicht werden. Mit der Rückkehr in die Ruine, zusammen mit dem Kind des Bruders, wird die Kreisstruktur nur oberflächlich hergestellt, weil sie nicht – wie Agnes in Wolzogens Roman – eine heile Welt findet. Der Raum ist porös, die Ruinen des Schlosses machen fortwährend die Brüchigkeit der eigenen Geschichte deutlich, über die Sara jetzt aber reflektieren kann, weil sie nicht mehr in einen illusionären häuslichen Innenraum eingeschlossen ist. In der Gruft, in der die Ehefrau ihres Liebhabers beigesetzt ist, erlebt sie bei Unwetter und Blitz erneut einen Schub von Wahnsinn, so dass sie bis zuletzt – das Ende bleibt offen – die Fremdheit und das Unversöhnbare ihrer Biographie lebt. Mit dieser Verweigerung eines »happy end« bricht der Roman mit den anderen Verständigungstexten der Zeit.

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Fazit

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Krugs Buch, als Dissertation entstanden, ist lesenswert und informativ, macht sie die vier Titel doch unter einer kulturhistorischen Perspektive zugänglich, ohne nach dem kanonischen Rang zu fragen. Angesicht der Details, denen sie durch ihre aspektereiche Kontextualisierung und historische Einordnung immer neue Aussagen zum Raumprogramm abgewinnt, vernachlässigt der Leser diese Frage gern, gewinnt er doch auf andere Texte übertragbare Einsichten in die Funktion von Räumen.

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Dank der zahlreichen aussagekräftigen Zitate entsteht ein Eindruck eines jeden Romans, der dessen Lektüre beinahe ersetzt. Hier stellt sich die Frage, ob Lesbarkeit oder konzise Knappheit das Ziel sind. Kürzungen hätten der Darstellung gut getan, ohne die sehr informativen Exkurse zu Epochenkonzepten, die unerwartete Querverbindungen öffnen, zu verlieren. Dennoch: Ihre These, dass die Aufladung von Räumen mit sozialen Ordnungen und Codes es erlaubt, darin Epochenparadigmen abzulesen, wird plausibel und führt zu einer umfassenden Bestandsaufnahme von typischen Raumelementen und ihrer symbolischen Funktionen, die sich verallgemeinern lässt.