Stefan Metzger

Rhetorik und Kalkül

Rüdiger Campe zur Geschichte der Wahrscheinlichkeit 1654-1814




  • Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. (Wissenschaftsgeschichte) Göttingen: Wallstein 2002. 472 S. Broschiert. EUR 54,00.
    ISBN: 3-89244-593-1.


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Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist ist der Titel, unter dem die Habilitationsschrift Rüdiger Campes erschienen ist. Sie ist eine Fundgrube, die originelle Einsichten und Aussichten eröffnet, gerade in der Arbeit an Text und Detail. Dies belohnt die Lektüre, auch wenn naturgemäß die Basisthese des Bandes – oder jedenfalls Wesentliches davon – andernorts vielleicht schneller und leicht gängiger zu haben wäre.

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Der Ansatz:
Rhetorik und Kalkül

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Zweimal 7 Kapitel entfalten

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die Ausgangsthese dieses Buches: Die Wahrscheinlichkeit der mathematischen Probabilität siedelte gerade auf dem Gelände der alten Wahrscheinlichkeit der Dichter, Redner und Logiker; sie zehrte von der alten Terminologie der Wirklichkeit. Die neue Probabilität der Mathematik war auch keineswegs möglich ohne die Beihilfe und Neuerung der Redner und Logiker. Zugespitzt kann man sagen: Erst die Rhetoriker und Philosophen haben sich darum bemüht nachzuweisen, dass die mathematische Modellrechnung des Glücksspiels die Struktur dessen sei, was man meint, wenn man von Wahrscheinlichkeit spricht. (S. 9)
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Das sind zwei starke Punkte: Aus der Wahrscheinlichkeit der Rhetorik und Topik erwächst ein mathematischer Kalkül, der auf Wahrscheinlichkeit hin interpretiert wird. Und aus diesen Interpretationen entsteht der moderne Roman – und mit ihm der Wirklichkeitsbegriff der Moderne.

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Ein ambitioniertes Projekt. So nahe liegend die Assoziation der verschiedenen Aspekte von »Wahrscheinlichkeit« ist – es zeigt sich schnell, das sie sich nicht im Handstreich herstellen lässt.

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Die Methode:
Interdiskursive Termanalysen

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Campe zieht ein breites interdisziplinäres Korpus von mathematischen und moralphilosophischen, juristischen und naturwissenschaftlichen, rhetorischen und ökonomischen, pragmatischen und literarischen Texten heran, das sich nicht von eingefahrenen Bahnen und Arbeitsteilungen gängeln lässt.

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Spätestens durch die Diskursanalyse sind Texte aller Couleur zum Gegenstand kulturwissenschaftlicher Analysen geworden, natürlich auch in dem Feld, das gerne als »Wissensgeschichte« apostrophiert wird und auf dem Campe sich aufstellt. Er schlägt dabei, durchaus moderat dekonstruktivistisch geschult, aus den vielfältigen Texten immer wieder Pointen, die sie nicht auf einen vermeintlich intendierten Kern beschränken, der aus den Fortschrittsgeschichten der Wissenschaftsgeschichtsschreibung abgeleitet wäre, sondern nimmt auch ihre Ränder ernst als Indikatoren einer diskursiven Vernetzung. Und Campe hängt den Anspruch erfrischend tiefer, indem er nicht der landläufig laxen Praxis folgend, von einem »Diskurs der Wahrscheinlichkeit« oder dergleichen spricht, sondern »Wahrscheinlichkeit als einen Ausdruck (vulgo Term) versteht, dessen diskursive Funktionen er nachgehen will. Das hat den Vorteil, dass gar nicht erst überzogene Erwartungen wie die der Hyperstruktur eines Diskurses evoziert werden. Zugleich bewegt er sich dabei in einem Zwischenbereich, der genauso die gelehrten Diskurse wie die Ordnungen der Alltagssprache durch pragmatische Regelungen vermittelt.

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Wie es der moderat diskursanalytische Zugriff nahe legt, arbeitet Campe durchgehend literaturwissenschaftlich. In luziden close readings analysiert er die Texte, in denen sich die moderne Konzeptualisierung von Wahrscheinlichkeit vollzieht. Ihre Literarizität wird nie ausgeblendet, im Gegenteil. Daraus folgt, dass die diskursive Term-Analyse immer auch interdiskursive Strukturen zu Tage fördert.

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Das schlägt durch auf den Gegenstand. »Wahrscheinlichkeit« wird zu einem Diskursoperator, der keinen sachlich-begrifflichen Kern, keinen »Sinn« hat, sondern eine Leerstelle für Interpretationen und interdiskursive Austauschoperationen schafft. »Die Interpretation der Glücksspiel- als Wahrscheinlichkeitstheorie ist als diskursiver Vorgang zu beschreiben.« (S. 125) Bei alle dem bleibt Campe auf hermeneutischem Boden und folgt in den Einzelanalysen konsequent dem Autorenprinzip.

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Campe folgt der bewährten Heuristik, einen Schnitt zu legen und die mehr oder weniger kühnen Metaphorisierungsprozesse zu untersuchen, die dieser evoziert. Zeitlich liegt der Schnitt Ende des 17. Jahrhunderts, wo sich Campe zufolge eine Jahrtausende lang bewährte Verquickung von Wahrscheinlichkeit und Rhetorik aufspaltet, indem zugleich die aristotelische Abgrenzung von scientia und historia erodiert. Sachlich liegt der Schnitt in der Ausgrenzung eines mathematischen Kalküls, der sich am Modell des Glücksspiels entwickelt und zum Definiendum der Wahrscheinlichkeit avanciert.

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Die wissensgeschichtliche Funktion
des Terminus Wahrscheinlichkeit

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Die Ordnung der Wahrscheinlichkeit ist Campe zufolge immer die Ordnung gewesen, unter der »Vortheoretisches sich auf theoretisch Gewußtes bezieht« (S. 13). Seit der Antike war das Wahrscheinliche eine einheitliche Sphäre, in der sich die Wirklichkeit verbindlich konstituierte: einmal als die aller Theorie zunächst entzogene Welt, zum anderen als die durch technisch-rhetorisch versicherbare Welt (z.B. vor Gericht). So hat es in der Tat tiefgreifende Folgen, wenn am Ende des 17. Jahrhunderts die mathematische Theorie auf die Sphäre der Wahrscheinlichkeit ausgreift; wobei auch klar ist, dass die Empirisierung und Szientifizierung von Bereichen, die zuvor den pragmatischen artes zugeschlagen worden waren, mit Beginn der Neuzeit schon ähnliche Prozesse in Gang setzen. Dennoch gewinnt die Verschränkung von scientia und ars bzw. historia erst mit dem Objekt Zufall eine neue Qualität. Sie schlägt letztlich auch durch auf das Verständnis von Gesellschaft, die sich zur Massengesellschaft wandelt und mit ihren systemischen Verwaltungsorganen im 19. Jahrhundert dann prägend wird.

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Campe gliedert seinen Text gemäß der Ausgangsthese in zwei Teile, die zwei einander überlappende Phasen der Entwicklung darstellen; dass die Einteilung strikt ist, wird man ob der engen Verschränkung der Teilthesen nicht erwarten, obschon eine zeitliche statt einer sachlichen Gliederung hierbei neutraler und stimmiger wäre.

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Die erste Phase:
Interpretation des Glücksspiels

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Der erste Teil widmet sich der diskursiven Analyse der verschiedenen Interpretationen, die sich an die Spieltheorie als Modell der Wahrscheinlichkeit anschließen. Die Pointe liegt dabei in der These, dass sich der Wahrscheinlichkeitskalkül innerhalb der topisch-rhetorischen Tradition entsteht, zunächst eine Art von Blase in ihr bildet, die mit zunehmendem Aufwand als Kern von Wahrscheinlichkeit interpretiert wird, um sich schließlich von dieser Tradition mehr und mehr abzunabeln. Naturgemäß hat sich auch die Wissenschaftshistoriographie diesem Kalkül gewidmet; aber Campe zielt auf den Interpretationsprozess, der bisher zu Unrecht als historisches Epiphänomen marginalisiert worden und nunmehr in sein volles Recht als der Kernbereich der Wahrscheinlichkeitstheorie einzusetzen sei.

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Campe zeichnet den Weg von der Emanzipation des Glücksspiels aus dem Bann moralisch-theologischer Kondemnation bis hin zu den theoretischen Ansätzen eines Jacob Bernoulli oder eines Leibniz nach. Calvins Lehre von der Privatvorsehung und die juristische Theorie der sog. Konditionalverträge, deren Erfüllung vom Eintreten vertraglich festgelegter Ereignisse abhängt, gehören zu den Faktoren, die das Glücksspiel zum Gegenstand theoretischen Interesses machen.

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Pascal und Huygens sind diejenigen, die zuerst diese Theoretisierung leisten. Campe weist sehr detailliert nach, dass die Glücksspieltheorie, die Pascal im Kontext seines berühmten Wettarguments entwickelt, rhetorische Funktion hat. Nachdem Pascal zunächst mit dem Topos des Unendlichen argumentiert, führt er eine Rechnung ein, die durch den Übergang zum Unendlichen gerade wieder sinnlos wird. Wie eine wittgensteinsche Leiter erscheint die Rechnung und verschwindet wieder in einem rhetorischen Kontext.

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Huygens und dann auch Spinoza analysieren das Glücksspiel mit Blick auf Gerechtigkeitsfragen: es geht um Gleichverteilung. Entscheidend ist nach Campe dabei, dass sich hierbei Wahrscheinlichkeit und Gerechtigkeit gegenseitig zu definieren beginnen. Leibniz psychologisiert den Kalkül und bindet ihn an Erwartungen, an Ängste und Hoffnungen – ganz Optimist sieht er das Spiel viel eher als lustvolle Erfahrung von Möglichkeiten denn als Last und Laster, wie es Pascal tat.

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Hatte schon Arnauld bei seinen Logifizierungsversuchen der Argumentation im Falle kontingenter Ereignisse auf Ciceros Topik zurückgegriffen, so tut dies ganz prominent eine der Hauptschriften der Wahrscheinlichkeitstheorie, Jacob Bernoullis Ars conjectandi. Dieser stellt seine mathematischen Überlegungen nämlich letztlich nur mit einem einzigen Ziel an: eine Quantifizierung des Gewichts von Argumenten zu gewinnen. Auch wenn sein Ansatz, wie Campe betont, noch inkonsistent und Fragment bleibt, so hebt Bernoulli doch auf einen entscheidenden Punkt ab. Alle Wahrscheinlichkeitsberechnung muss von einer Gleichverteilung von Möglichkeiten ausgehen, und diese im wörtlichen Sinne maßgebende Voraussetzung muss immer zunächst hergestellt werden – z.B. durch Geräte wie den Würfel.

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Bernoulli ging davon aus, dass Wahrscheinlichkeiten durch hinreichend viele Versuche empirisch bestimmt werden müssten, ein Weg, der für den Rationalisten Leibniz nicht gangbar war. Leibniz’ logica probabilium – oft angekündigt, fragmentarisch an verschiedenen Punkten immer wieder angegangen, aber nie vollendet – wäre, wie Campe hervorhebt, der Schlussstein in seinem System gewesen. Die »wahrhaftige Topik« hätte eine Berechnung des Kontingenten genauso wie eine Berechnung der Beweisgründe erlaubt. Eine ›logica probabilium‹ ist ein Ziel vieler Ansätze im 18. Jahrhundert. Ihre Funktion liegt, so legt Campe nahe, in der Erzeugung einer Leerstelle im Diskurs, die eine unendliche Reihe von Interpretationen freisetzt.

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Der Komplex einer Ausbildung und Abgrenzung eines Wahrscheinlichkeitskalküls wird zum Abschluss des ersten Teils mit einer Analyse von Defoes Robinson Crusoe abgerundet.

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Die zweite Phase:
Die Wahrscheinlichkeit der Narration

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Der zweite Strang der diskursiven Entwicklung des Terms Wahrscheinlichkeit, den Campe untersucht, führt in die Ästhetik. Sie schließt an die alte Metapher des Scheins des Wahren an, die wiederum zwischen splendor veritatis und bloßem Schein changiert. Als eine neue rhetorische Evidenzform, verwandt der enumeratio, also der abschließenden Zusammenraffung aller Argumente zu einer augenfälligen finalen Bekräftigung des Appells, stellt Campe hier zunächst die Diagramme, Landkarten und vor allem die Tabellen heraus.

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Die Darstellung der Statistik fungiert in der Tat in den »Policeiwissenschaften«, der Soziologie und Volkswirtschaft als Erscheinung des body politic, und zwar mit der Suggestion, keiner weiteren Entzifferung zu bedürfen. Diese Rhetorik der Tabelle, die das nackte Leben dem tabellarisch evidenten Staat einverleibt – der Verweis auf Agamben erübrigt sich –, verfolgt Campe bis hin in ihre Implementierung in den Roman, konzedierend, dass es sich hier eher um Kuriositäten, wenn auch nicht ohne Indikatorfunktion, handelt.

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Dass Wahrscheinlichkeit eine der zentralen poetologischen Kategorien der sich emanzipierenden Gattung des Romans ist, ist ebenso bekannt wie der Umstand, dass ihre Regellosigkeit Theoriebedarf erzeugt, auf den die Vorreden und Romantexte mit der Kategorie Wahrscheinlichkeit antworten. Und dabei wird, wie Campe ausführt, auch (wenngleich nicht ausschließlich) auf die Wahrscheinlichkeit des Spielkalküls zurückgegriffen. So wie auf der Seite der Mathematik eine breite Debatte über die Anwendbarkeit des Spiels – paradigmatisch ist dabei das sog. Petersburger Problem – entsteht, so reflektiert der Roman darüber, wie es mit der Wahrscheinlichkeit bestellt ist, die Unwahrscheinlichkeiten des Konkreten, Erzählten mit seinen besonderen Umständen durch ein allgemeines Spielmodell fassen zu können.

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Hier wird die Debatte reflexiv. Campe diskutiert die Rahmung, die der mathematisch-ludistische Wahrscheinlichkeitsbegriff damit erfährt, als eine Fortschreibung der traditionellen Figur der unwahrscheinlichen Wahrscheinlichkeit, also der Abweichung des Konkreten von den allgemeinen topischen Erwartungen, die es nicht zu fassen vermögen. Die entscheidende Wendung sieht er in der Distanz, die nun durch eine Beobachterperspektive eingezogen wird. Aus ihr zeigen sich gerade die Unwahrscheinlichkeiten der herrschenden Ordnungen, und zwar aus den Versuchen, eine jeweils angemessene Modellierung des Falles durch ein Spielmodell zu gewinnen. Exemplifiziert wird dies an Wielands Agathon und Fieldings Tom Jones mit seiner Konjekturalstruktur, die Roman und Historie, einzelnes privates Leben und Staat verbindet.

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Entkopplungen:
Lambert, Kant, Kleist

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Die Distanzierung des Beobachters gegenüber den Möglichkeiten des Spiels markiert die Voraussetzung dafür, dass sich die Verbindung aus Ästhetik und Kalkül allmählich wieder zu lösen beginnt. Das geschieht nicht erst bei Goethe, dessen Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten Campe als Beispiel einer Erläuterung des Unwahrscheinlichen durch Unwahrscheinliches herausstellt. Den ersten Ansatz macht er bei Johann Heinrich Lambert aus, der in seinem Neuen Organon Leibniz’ Programm einer ›logica probabilium‹ explizit verabschiedet.

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Lambert nähert sich dem Begriff der Wahrscheinlichkeit, wie er es bei allen abstrakten Begriffen tut, nämlich metaphorologisch, d.h. er untersucht die herrschenden Sprachgebräuche in Alltags- und Wissenschaftssprache und versucht, daraus den Bedeutungsumfang zu erschließen. Dieses Verfahren ist bei Lambert nicht spezifisch für die Wahrscheinlichkeitstheorie und wurzelt in seiner Epistemologie, die sich in einem Bereich vorläufiger Propädeutik ansiedelt und damit Argumentationsbedingungen herstellt, die für eine neue, konjekturale Rhetorik typisch sind. Dieser Kontext bleibt bei Campe weitgehend implizit.

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Den Kern der Metapher liefert im Falle der Wahrscheinlichkeit die Glücksspieltheorie. Dieses Verfahren ermöglicht es Lambert, die eine entscheidende Distanz zwischen Wahrscheinlichkeitskalkül und allgemeiner Sprache zu konstatieren. Eine Anwendung des Kalküls mit seiner numerischen Wahrscheinlichkeit p (mit 0 < p < 1) auf die Prädikate lässt sich sprachlich nicht darstellen, weil die Kopula keiner Gewichtung fähig ist. So erzeugt gerade die metaphorische Einheit der Probabilität die Dispersion von Formalismus und Sprache.

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Lambert stellt auch heraus, dass die Anwendung von Wahrscheinlichkeitskalkülen immer schon eine Zurichtung der Welt voraussetzt. Wie schon Bernoulli feststellte, wird sie auf Homogenität hin interpretiert, so z.B. bei der Fehlerrechung, die Lambert auszuformulieren beginnt. Campe deutet auch an, wie Lambert in seiner Systematologie mit der Kategorie der Durchgängigkeit eine ähnliche Homogenisierungsperspektive entwickle. Er verfolgt diese Spur, die ins Zentrum von Lamberts Metaphorologie führte, nicht weiter. Auch hier ließe sich zeigen, wie Lambert mit dem Begriff des Systems eine Epistemologie und Ontologie des Vorläufigen entwickelt. Es geht, um mit seiner Lieblingsmetapher zu sprechen, um die Konstruktion wahrscheinlicher Perspektiven, die aber nie endgültig sein können. Dies eröffnet dann die Perspektive auf eine ganz andere Strategie der Fortschreibung von Leibniz’ ›logica probabilium‹, die sich nicht strikt am Wahrscheinlichkeitskalkül orientiert, sondern aus dem Erbe der Rhetorik eine Theorie des Konjekturalen entwickelt.

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Eine ähnliche Metaphorisierung des Probabilismus lässt sich bei Kant feststellen. Campe stellt zwei Stellen heraus, an denen sich Kant auf Wahrscheinlichkeitskalkül und Statistik bezieht: einmal Kants Konzept einer »Normalidee«, die als Konstruktion eines Mittelwertes aus verschiedenen Wahrnehmungsbildern entstehen soll; und zum anderen das Heranzitieren der statistischen Tabellen als Illustration seiner Geschichtsphilosophie, die bekanntlich damit arbeitet, die intentionalen Handlungen vieler Subjekte durch ein regulatives Quasinaturgesetz eines geschichtlichen Fortschritts zu beschreiben. Im ersten Falle wird allerdings nicht klar, wo über die bloße große Zahl hinaus die Anbindung an die Wahrscheinlichkeitstheorie und die in ihr implizierte Zeitlichkeit der Erwartung liegt. Im zweiten Fall entspricht die Tabelle der Theorie des Bildungstriebes im Falle von Organismen und fungiert als Illustration von Kants Theorie des Regulativen. Dass es zu einer Entkopplung von Wahrscheinlichkeitskalkül und philosophischem Diskurs kommt, wird in beiden Fällen nicht eben deutlich.

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Campe beschließt den Band mit einem Blick auf Kleist. Die rätselhaften, als plötzliche Gewalteinbrüche unerklärlichen Ereignisse werden in der Tripelanekdote Unwahrscheinliche Wahrhaftigkeiten in eine Serie überführt, deren Wahrscheinlichkeit der Erzähler gar nicht mehr verbürgen will, sondern die als Experimentalanordnung dem Leser überantwortet werden.

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Permanentes Paradox

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Als Ausblick greift Campe auf die Definition der Wahrscheinlichkeit bei Poisson und Laplace zurück. Er interpretiert die Verschränkung subjektiver und objektiver Wahrscheinlichkeit in deren Texten als das Basisproblem des Wahrscheinlichkeitsdiskurses, das auch und gerade definitorisch nicht stillgestellt werde. Das Verhältnis von Kalkül und Interpretation, von Kalkül und Rhetorik bleibt prekär. In dem Maße, wie Wahrscheinlichkeit durch den Kalkül definiert ist, in dem Maße überredet sich die Rhetorik selbst, sie ohne Murren an die zuständigen Institutionen zu delegieren, weil sie, solange diese mit ihren Rechnungen nicht zu Ende kommen, vorläufig ihr Geschäft weitertreiben kann. Die Institutionen, das sind jetzt die datensammelnden Archive und Behörden, die bei Laplace die Stelle Gottes einnehmen und, wenn sie nur erst alle Daten hätten, die moderne Welt und insbesondere die Massengesellschaft berechneten, der einstweilen die Rhetorik der Massenmedien dient.

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Fazit

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Wie sehr die Lektüre von Campes Text gerade durch Detaileinsichten belohnt, kann und muss nochmals wiederholt, aber natürlich hier nicht vorgeführt werden. Das leistet nur die Mühe der Lektüre. Und eine Mühe ist sie. Das hat mit der Komplexität zu tun, die Campe dem Phänomen abgewinnt. Das hat aber auch damit zu tun, dass dabei die Klarheit des Textes manchmal leidet. Was, um nur ein marginales Beispiel zu nehmen, das Petersburger Problem ist, erfährt man aus dem Text nur ansatzweise. Sicher, die Habilitation ist nicht die Gattung, die Jargon und Hyperkomplexismus verabschiedet; dennoch wäre Widerstand gegen die Enigmatismen der Germanistik keineswegs ein Schaden, hier wie vielerorts.

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Hat man sich der Lektüremühe aber unterzogen, bekommt man material- und geistreiche Einblicke in eine Kategorie, deren Geschichte im 19. Jahrhundert keineswegs zu Ende ist. Nicht nur prägt sie die modernen Massengesellschaften und ihre mediale Rhetorik; die abnehmende Lesbarkeit einer nur mehr wahrscheinlichen Welt erzeugt auch eine andere Natur, die von der Evolutionstheorie, der statistischen Mechanik der Thermodynamik und schließlich im aktuelle physikalischen Weltbild von der probabilistischen Quantentheorie beschrieben wird. Und hier kehren, meist zu ihrem Schaden geschichtsvergessen, die wirklichkeitsmodellierenden Interpretationen des Kalküls wieder.


Dr. Stefan Metzger
Universität Konstanz
Fachgruppe Literaturwissenschaft / SFB 511
Postfach 5560 D163
DE - 78434 Konstanz

Ins Netz gestellt am 30.05.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Prof. Dr. Dietmar Till. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Stefan Metzger: Rhetorik und Kalkül. Rüdiger Campe zur Geschichte der Wahrscheinlichkeit 1654-1814. (Rezension über: Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen: Wallstein 2002.)
In: IASLonline [30.05.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=505>
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