Jörg Helbig

Ein Standardwerk zum britischen heritage cinema




  • Andrew Higson: English Heritage, English Cinema - Costume Drama since 1980. Oxford: Oxford University Press 2003. 294 S. Gebunden. GBP 53,00.
    ISBN: 0-19-818293-7.


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Eine der auffälligsten Tendenzen im britischen Kino der 1980er und 1990er Jahre bildete das so genannte heritage cinema, das der britische Filmwissenschaftler Andrew Higson in der hier zu besprechenden Monographie folgendermaßen definiert:

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These are films set in the past, telling stories of the manners and proprieties, but also the often transgressive romantic entanglements of the upper- and upper middle-class English, in carefully detailed and visually splendid period reconstructions. The luxurious country-house settings, the picturesque rolling green landscapes of southern England, the pleasures of period costume, and the canonical literary reference points are among the more frequently noted attractions of such films […]. (p. 1)
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Beginnend mit Hugh Hudsons vielfach preisgekröntem Chariots of Fire (1981) wurden prestigeträchtige Kostümfilme wie Gandhi (1982), A Passage to India (1984), A Room with a View (1986), The Remains of the Day (1993), Emma (1996), The English Patient (1996) oder Shakespeare in Love (1998), um nur wenige zu nennen, zu einem bekannten Markenzeichen des britischen Kinos. Trotz des kritischen und kommerziellen Erfolgs dieser und vergleichbarer Filme wurde das Terrain des heritage cinema von der akademischen Forschung bislang noch kaum erschlossen. Neben Pam Cooks Fashioning the Nation: Costume and Identity in British Cinema (1996) und zahlreichen einschlägigen Aufsätzen blieb eine umfassende Monographie zum zeitgenössischen britischen Kostümfilm bislang ein Desiderat.

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Die vorliegende Monographie füllt mithin eine der gravierendsten Forschungslücken zum britischen Gegenwartskino. Mit English Heritage, English Cinema legt Higson eine von profunder Sachkenntnis getragene Pionierstudie vor, die in großer Breite Fakten über Produktion und Rezeption der behandelten Filme bereitstellt und schon jetzt als Standardwerk zum englischen heritage cinema eingestuft werden kann. Dennoch erscheint einige grundsätzliche Kritik angebracht.

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Während er in früheren Forschungsbeiträgen eine vergleichsweise enge Definition des heritage cinema vertreten hat, weitet Higson seinen Untersuchungsgegenstand nunmehr aus und setzt sich nonchalant über präzise Differenzierungen von Genrebezeichnungen wie heritage film, costume drama, historical film, period film und ähnliche hinweg: »This shouldn’t worry us unduly. They are just labels after all« (p. 9). Dies führt jedoch in der Praxis zu einer Aufweichung des Etiketts heritage cinema und zu einer gewissen Beliebigkeit. Ob Filme wie Mel Brooks’ Robin Hood: Men in Tights, Peter Greenaways Prospero’s Books, David Lynchs The Elephant Man oder Ken Russells Gothic mit dem Label heritage cinema tatsächlich adäquat beschrieben sind, wie Higsons Studie nahe legt, erscheint zumindest strittig.

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Anstatt sein Untersuchungsfeld anhand klarer inhaltlicher und formaler Kriterien abzustecken, zieht Higson Grenzen an Stellen, wo man sie nicht unbedingt erwartet. Hierzu zählt der dezidierte Bezug auf England, wodurch heritage-Filme im schottischen, walisischen und irischen Kontext aus der Betrachtung weitgehend ausgeschlossen bleiben. Auch die Bedingung, dass die zu berücksichtigenden Filme zumindest teilweise vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs spielen müssen, erscheint durchaus diskussionswürdig. Nachvollziehbar und sinnvoll sind hingegen die Beschränkung auf den Erscheinungszeitraum der 1980er und 1990er Jahre sowie der Ausschluss aller für das Fernsehen produzierten Kostümfilme.

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Zielsetzungen
und Aufbau der Studie

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Higsons Studie verfolgt mehrere Zielsetzungen. Als zentrales Anliegen kann dabei der Versuch gelten, eine möglichst vollständige Landkarte des englischen Kostümfilms der 1980er und 1990er Jahre zu erstellen. Im Zuge einer generellen Sondierung der Merkmale und typologischen Bandbreite des heritage cinema wird dessen thematisches und stilistisches Repertoire ebenso durchleuchtet wie Aspekte der filmischen Ästhetik, der Literarizität, der Rollenbesetzung sowie der spezifisch ›englischen‹ Qualität der behandelten Filme.

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Das zweite Kapitel befasst sich mit der Rezeption der Filme durch die professionelle Filmkritik und die akademische Forschung. In diesem Zusammenhang geht Higson unter anderem der Frage nach, wie die kritische Debatte um das heritage cinema die Konzepte von Englishness, nationaler Identität und nationaler Filmgeschichte reflektiert hat, und welchen Einfluss sie auf zentrale kulturwissenschaftliche Konzepte wie class und gender ausgeübt hat. Dabei wird deutlich, dass die akademische Rezeption dieser Filme ganz überwiegend durch ideologische Aspekte bestimmt wurde. Erheblich stärker als durch ihre ästhetisch-handwerkliche Qualität wurden die Filme auf der Grundlage ihrer Behandlung sozial- und sexualpolitischer Aspekte beurteilt.

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Im Anschluss hieran untersucht Higson die Frage, weshalb Kostümfilme mit englischem Hintergrund während des Untersuchungszeitraums in so hoher Zahl produziert wurden. Die Studie zeigt hier zunächst Mechanismen von Filmproduktion, Verleih, Marketing und Kinobetrieb für den einheimischen Markt auf und untersucht neben Fragen der Finanzierung und des Budgets vor allem Strategien der Vermarktung. Letztere sind auf ein vergleichsweise älteres, gebildetes Mittelschichtpublikum ausgerichtet, wenngleich Higson richtig beobachtet, dass das heritage cinema seit den späten 1990er Jahren mit Filmen wie Elizabeth und Shakespeare in Love (beide 1998) auch eine Öffnung zu einem breiteren und jüngeren Publikum anstrebt.

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Im vierten Kapitel weitet Higson den Blick auf den US-amerikanischen Markt aus. Für den dortigen Erfolg englischer heritage-Filme sieht Higson hauptsächlich zwei Faktoren verantwortlich. Zum einen setzt sich das heritage cinema bewusst von der Populärkultur ab und wendet sich im Gewand eines hochwertigen Qualitätsprodukts an ein ›Nischenpublikum‹. Hierdurch ist es anderen elitären ›typisch britischen‹ Markenzeichen wie Rolls Royce, Malt Whisky und englischen Maßanzügen vergleichbar. Zum anderen hat das heritage cinema auch gezielt amerikanische Themen und Figuren in seine Stoffe integriert und wichtige Rollen mit amerikanischen Darstellern besetzt wie Gwyneth Paltrow in Emma, Denzel Washington in Much Ado About Nothing (1993) oder Uma Thurman in The Golden Bowl (2000). Den Abschluss der Studie bilden zwei sehr fundierte und faktenreiche Fallstudien. Darin analysiert Higson ausführlich zwei der bekanntesten und erfolgreichsten heritage-Filme der 1990er Jahre, James Ivorys Howards End (1992) und Shekhar Kapurs Elizabeth (1998).

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Informativer Anhang

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Kernstück des Anhangs der Studie ist eine 125 Titel umfassende Filmographie, in die alle Kostümfilme aufgenommen wurden, die in den 1980er und 1990er Jahren erschienen sind, zumindest teilweise vor dem Zweiten Weltkrieg spielen und »some British connection« (p. 262) aufweisen. Das Kriterium des britischen Anteils legt Higson allerdings großzügig aus. So muss es sich bei den verzeichneten Filmen nicht notwendigerweise um britische Produktionen handeln, vielmehr wurden auch ausländische Filme aufgenommen, sofern sie in Großbritannien spielen oder es sich um die Verfilmung eines kanonischen britischen Texts handelt.

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Die Filmographie zeichnet sich durch einen vorbildlichen Informationswert aus. Neben Filmtitel, Regisseur, Produktionsland und -jahr weist sie zahlreiche weitere nützliche Angaben aus, die man in den meisten anderen Filmographien vergeblich sucht. Hierzu zählen Titel und Autor der literarischen Vorlage, gegebenenfalls die Person, auf deren Biographie der Film basiert, Epoche und Ort der Handlung, die gewonnenen Academy Awards sowie das Datum der maßgeblichen Besprechung des Films im Monthly Film Bulletin oder in Sight and Sound. Neben der Filmographie bietet der Anhang außerdem eine Auswahlbibliographie, einen Index sowie eine Tabelle, die alle Beiträge von Regisseurinnen, Autorinnen und Produzentinnen zum zeitgenössischen englischen heritage cinema verzeichnet.


Prof. Dr. Jörg Helbig
Alpen-Adria-Universität
Institut für Anglistik und Amerikanistik
Universitätsstr. 65-67
AT - 9020 Klagenfurt

Ins Netz gestellt am 13.09.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Uli Jung. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Jörg Helbig: Ein Standardwerk zum britischen heritage cinema. (Rezension über: Andrew Higson: English Heritage, English Cinema - Costume Drama since 1980. Oxford: Oxford University Press 2003.)
In: IASLonline [13.09.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=521>
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