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Thomas Manns »Zauberberg« in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe

Keine Editionskunst vom Feinsten

  • Thomas Mann: Der Zauberberg. Text und Kommentar in einer Kassette. Hg. von Michael Neumann. (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe 5.1 und 5.2) Frankfurt / M.: S. Fischer 2002. 1632 S. Leinen. EUR (D) 84,00.
    ISBN: 3-10-048324-3.
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»Der Zauberberg rechnet nicht nur, wie Buddenbrooks, zur Weltliteratur. Er wird heute international auch in die erste Reihe der modernen Romane gestellt«. So lesen wir auf S. 126 des Kommentarbandes. Das ist nicht falsch – aber es ist seit Jahrzehnten so selbstverständlich, daß man sich über diese Feststellung in einer neuen Edition des Zauberberg doch ein wenig wundert. Kein Zweifel, von allen Romanen Thomas Manns ist der Zauberberg vielleicht der anspielungsreichste, komplizierteste, hintergründigste und vielschichtigste Roman, und so war klar, daß dieser Roman an einen Kommentator ganz besondere Herausforderungen stellen würde. Wie war die Gleichzeitigkeit so vieler ungleichzeitiger Beziehungen und Tiefenschichten in das Nacheinander eines Kommentars zu bringen, wie war die nahezu unübersehbare Fülle von Quellen zu verarbeiten, wie konnte man einem Textgewebe gerecht werden, das auf vielfache Weise mit den übrigen Werken des Autors verflochten war? Was hat dieser Kommentarband zu bieten?

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Zunächst eine ausführliche Entstehungsgeschichte. Die ist in dieser Ausgabe in Form eines Essays gehalten – im Unterschied zu vielen anderen großen, zumeist historisch-kritisch ausgerichteten Editionen, die sich auf sachliche Hinweise zur Entstehung eines Werkes beschränken. Es mochte eine Verlockung gewesen sein, in loser erzählerischer Form einiges zur Entstehung des Romans zu sagen. Doch für wen ist eine solche Entstehungsgeschichte geschrieben? Für Neulinge, die erst an das Werk Thomas Manns herangeführt werden sollen? Muß der Benutzer einer solchen Ausgabe, bei dem man das Interesse für und ein erhebliches Maß an Kenntnissen über Thomas Mann und sein Werk ja wohl voraussetzen darf, darüber informiert werden, daß er mit Buddenbrooks »den geradezu spektakulären Beweis einer frühen Reife vorgelegt« und mit diesem Erstlingsroman ein Buch geschrieben habe, das »den epischen Großwerken des europäischen neunzehnten Jahrhunderts ebenbürtig« gewesen sei?

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Wer diesen Beginn der Entstehungsgeschichte liest, wird mißtrauisch. »Nun schreibt man Romane von Rang und Umfang der Buddenbrooks vielleicht nicht alle paar Jahre«, lesen wir weiter – auch das ist zweifellos richtig, aber was hat so etwas hier zu suchen? Daß Thomas Manns »literarischer Geschmack zu empfindlich« war, »um sich nun auf eine epigonale, wenn auch vielleicht beim Publikum erfolgreiche Produktion zu resignieren« (S. 9), will man dem Verfasser des Kommentars ohne weiteres glauben. Aber der Schlußsatz des ersten Absatzes: »Es galt also einen Weg in die Moderne zu finden, einen eigenen Weg« ist von fahrlässiger Unbedenklichkeit. Eine interpretatorische Zutat, auf die man hier gerne verzichtet hätte. Was ist denn unter »Moderne« zu verstehen? Was unter dem »eigenen Weg«? Thomas Mann hatte doch schon ein umfangreiches Novellenwerk vorgelegt, hatte mit dem Tod in Venedig seine »neue Klassizität« unter Beweis gestellt.

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Der »eigene Weg in die Moderne«: das sind Floskeln, und an Floskeln ist dieser Kommentar nicht gerade arm. Verzeichnungen bleiben nicht aus. Königliche Hoheit ist erwähnt, »ein mit viel Kunstverstand gefertigtes Intermezzo«. »Mit viel Kunstverstand verfertigt«: das läßt sich von jedem Werk Thomas Manns sagen. Und »Intermezzo«? Von Königliche Hoheit gab es nach zwei Jahren dreißig Auflagen, der Roman wurde sehr viel früher als der erste Roman in andere europäische Sprachen übertragen. Und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs waren 165.000 Exemplare gedruckt worden – damit und nicht so sehr mit Buddenbrooks war Thomas Mann in Europa bekannt geworden. Wie begründet sich die Meinung des Kommentators, daß das erste Dezennium nach Buddenbrooks »der näheren Betrachtung geradezu desaströse Züge« (S. 10) zeige?

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Ärgerlicher sind Phrasen: »Die Bezüge auf literarische Muster verflechten sich zu unerhörter Komplexität«, ist bereits auf der zweiten Seite zu lesen – Worthülsen, auf jedes Werk Thomas Manns zu übertragen. Und man könnte das auch ohne weiteres zu Musils Mann ohne Eigenschaften oder zu manchem Roman von Hermann Broch sagen. Schlimm ergeht es in einer solchen Sprache Schiller, »der die Schaffenskrise nach seiner Jugend durch Kantstudium und theoretische Arbeit zu neuer Klassik überwunden hatte« (S. 9 f.). Das sieht nach drittrangiger Literaturgeschichte aus. Schaffenskrise? Schiller hat ununterbrochen geschrieben, an seinen »Krisen«, wenn man sie denn überhaupt so bezeichnen will, waren andere schuld, nicht er. Es wird hier wohlgemerkt nicht von Thomas Manns Schiller der Schweren Stunde gesprochen, sondern von Schiller selbst. Aber auch anderes ist fragwürdig. Wenn vom »Zeichen der romantischen Sehnsucht nach der Ferne« die Rede ist (S. 18), so ist das ebenso Klischee wie der Satz von Thomas Manns »Weg ins Innerste seiner Existenz« oder der Hinweis auf »Ringen« um den geplanten Essay über Geist und Kunst und das »Scheitern« daran.

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Die ersten Eindrücke werden glücklicherweise beim weiteren Studium des Kommentars nicht verstärkt. In der Entstehungsgeschichte ist alles sorgfältig zusammengetragen, was dazu an Äußerungen von seiten Thomas Manns überliefert ist, ohne freilich zu sehr in Einzelheiten zu gehen. Aber das wird wohl auch niemand erwarten. Vieles ist jedoch – und das wiegt schwerer – einseitig gesehen: so etwa der Hinweis, daß Heinrich Mann in seinem Zola-Essay »auf wahrhaft infame Weise die Schaffenskrise nach Buddenbrooks zur Verletzung« des Bruders genutzt habe. Natürlich reichte der Bruderkonflikt weit zurück, aber viel wichtiger waren Thomas Manns enthusiastisch gehaltene Kriegsschriften, die zum grundehrlichen Volkskrieg aufgerufen hatten – und aus dem Widerspruch dazu war Heinrich Manns Kritik nur zu verständlich. Ob andererseits eine ironische Bemerkung Thomas Manns zum »Sterbestündlein« »natürlich« aufs »Konto einer aktuellen Depression« geht – wer weiß es? Und wenn festgestellt wird, daß Thomas Mann mit Settembrini »kaum mehr auf Heinrich Mann persönlich anspielt« (S. 24), dann kann man gute Gründe für das Gegenteil ins Feld führen. Kurz gesagt: in dieser Entstehungsgeschichte sind die Akzente oft sehr einseitig gesetzt, hier wird zuviel interpretiert und wird zu schnell gewertet. Entstehungsgeschichten in großen anderen Ausgaben verzichten aus gutem Grund auf solche Leserlenkungen. Alles in allem wird man sagen dürfen: Das Bekannte ist sorgfältig gesichtet und aufbereitet, und das ist Verdienst und Grenze des Kommentars zugleich. Neues kommt eigentlich nicht ans Licht.

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Der Text des Zauberberg bot keine Schwierigkeiten: der Erstdruck von 1924 wurde zugrunde gelegt, das Yale-Zauberberg-Manuskript mit den »rejected sheets« gebührend berücksichtigt. Das Kapitel »Quellenlage« gibt Auskunft über Einflüsse, Vorlagen, Herkunft realistischer Details. Ob es freilich gut war, größere Teile dieses Kapitels nach den wichtigsten Personen des Romans zu gliedern, mag man bezweifeln; denn so fällt alles heraus, was an Sachkomplexen im Roman dargestellt ist. Warum sich der Kommentator im Clawdia Chauchat-Kapitel mit Wyslings Deutung angelegt hat (S. 77), weiß man nicht recht; am Ende sind die Argumente Wyslings, daß Clawdia Chauchat vieles mit Katia Mann gemeinsam habe, überzeugender als der Versuch einer Widerlegung. Auch anderes ist fragwürdig. Was die Figur des Pribislav Hippe angeht, so steht für den Verfasser »außer Frage«, »daß derlei Überlegungen [zur geheimen Identität von Hippe und Clawdia und zu Castorps Überwindung eines bloß ›männlichen durch ein menschliches Ethos‹] auf dem Boden von Thomas Manns Leiden an der Homoerotik erwachsen sind«. Der Kommentator hält sich an Deterings Definition, daß »homoerotisch« »jede Art erotischer Verhältnisse zwischen Angehörigen desselben Geschlechts« sei, »unabhängig davon, ob es zu sexuellen Beziehungen kommt oder nicht, und [...] auch unabhängig davon, ob die homoerotische Neigung exklusiv ist oder nicht« (zit. S. 83). Panerotik. In wenigen Jahren wird man über dieses »Leiden an der Homoerotik«, ein Lieblingsthema unserer Tage, vielleicht doch schon anders urteilen als heute. Was Settembrini angeht, so ist dem Verfasser im übrigen entgangen, daß »Settembrini« im venezianischen Sprachgebrauch eine Bezeichnung für Homosexuelle ist – das hätte in seine Auffassung eigentlich ganz gut hineingepaßt. Auf vieles auch sonst unerkannt Gebliebene (etwa in Bezug auf Thomas Manns Jugendliebe Wilhelm Heinrich Timpe) hat Reinhard Pabst in seiner sorgfältigen Besprechung (erschienen in Focus vom 30. Dezember 2002, S. 44–46) hingewiesen.

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Größter Nachteil eines so konzipierten Kapitels zur Quellenlage ist aber das Herausfallen thematischer Komplexe. Dazu gehört alles Französische, gehört das Russisch-Asiatische, gehört der Nord-Süd-Gegensatz, der im Roman in einen Ost-West-Gegensatz transponiert worden ist, gehört die Gegensätzlichkeit von 18. und 19. Jahrhundert, gehören zeitgenössische kulturphilosophische Texte (von Troeltsch, die des noch sehr viel einflußreicheren Simmel, von Max Scheler und Dilthey).

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Rezeptionsgeschichten gehören seit einiger Zeit zum Standard kommentierter Ausgaben – manches deutet allerdings schon heute darauf hin, daß man auf diese in Zukunft wohl eher verzichten wird: sie gehören nicht zum Werk und halten oft Sekundäres, ja Tertiäres fest; die zum Zauberberg kann man andererseits nicht auf knappen zwanzig Seiten zureichend beschreiben. Wichtiger ist ohnehin der Stellenkommentar. Man hat den Eindruck, daß der Herausgeber hier wie auch in den anderen Kapiteln kein genaues Bild von seiner »Zielgruppe«, also vom Benutzer eines solchen Kommentars hat. Störend ist, daß minutiös aufgezählt ist, wann die Erstausgabe hinter irgendeinem Wort ein Komma hat, das der hier vorgelegte Text nicht hat, daß etwas klein geschrieben ist, was sonst großgeschrieben ist, daß im Erstdruck ein Apostroph genutzt ist und dergleichen mehr. Solche Erläuterungen, die zum Verständnis des Textes nicht das Geringste beitragen, gehören eigentlich in ein eigenes kleines Kapitel oder in einen Lesartenteil – hier verstopfen sie den Stellenkommentar mit Mitteilungen, die niemanden interessieren. Zumindest halbwegs ärgerlich ist auch, daß Allbekanntes oder in jedem einfachen Lexikon Nachzuschlagendes geboten wird. Daß ein »go on« erklärt wird mit »(engl.) Mach voran« (S. 134), ist in einer Zeit, in der jeder Volksschüler ein wenig Englisch kann, ebenso überflüssig wie der Hinweis auf eine »Patisserie« (S. 174) oder auf eine »Chaiselongue« (S. 197). Für wie dumm hält der Kommentator seinen Leser? Sollte der auch nicht wissen, was »Kadavergehorsam« (S. 297) bedeutet? Oder was ein »Studio« (S. 276) ist? Es kann nicht Sinn eines Stellenkommentars sein, das zu erläutern, was im Duden steht. Aber diese Bedenken treffen weniger den Herausgeber dieses Bandes als vielmehr die Grundkonzeption: derartige Dinge verraten editorischen Dilettantismus. Ein einziger Blick in eine der führenden historisch-kritischen Ausgaben hätte da eines Besseren belehren können.

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Das alles soll die Arbeit des Herausgebers nicht grundsätzlich schmälern. Auch im Stellenkommentar ist wie in dem Kapitel zur Quellenlage alles zusammengetragen, was sich an Wissen angesammelt hat, und die interpretierenden Partien halten sich in Grenzen. Der Verfasser hat alles ausgewertet, was für ihn erreichbar war, und der Kommentar ist in jenen Partien besonders aufschlußreich, wo Vorarbeit geleistet worden ist: etwa im medizinischen Bereich. Auch musikalische Anspielungen werden gut erklärt, etwa die vielen Wagner-Reminiszenzen. Sehr gern mehr erfahren hätte man über die Vernetzungen einzelner Themen oder Komplexe im Werk Thomas Manns: in Felix Krull etwa ist vieles von dem wieder aufgenommen, was im Zauberberg als Philosophie über das Leben erscheint. Derartige Querbeziehungen werden in diesem Kommentar zu wenig sichtbar.

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Als Sammelleistung ist der Kommentar sehr anzuerkennen. Aber Editionskunst vom Feinsten ist es sicherlich nicht, was der Herausgeber vorgelegt hat. Manches wirkt unausgereift. Daß Thomas Mann sich irrte, als er bei Castorps erstem Frühstück »das englische Fräulein zunächst zu seiner Linken, dann zu seiner Rechten« sitzen läßt, ist gleich zweimal erwähnt (Textband S. 1100, Kommentarband S. 54), und man fragt sich, warum das wohl geschehen ist. Literarhistorische Charakteristiken aber gehen oft daneben. Ein (neben der Schiller-Charakteristik auf S. 9) weiteres Beispiel für manche findet sich in einem Kurzkommentar zu Leopardi: »In der Spannung zwischen seiner Grundhaltung: einem romantischen Weltschmerz bis hin zum Nihilismus, und seinen Themen: Jugend, Frühling, Schönheit und Liebe, schuf sein strenger Formwillen Gedichte von seltener Vollendung« (S. 167 f.). Das könnte man Wort für Wort auch von Heine sagen – falsch wäre es beide Male. Leopardi als Weltschmerzdichter: ein Klischee. In der Italianistik ist das schon lange ausgeräumt. Der Verfasser hätte mehr geboten, wenn er weniger geboten hätte.

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Der Kommentator wollte alles aus der Sekundärliteratur versammeln, was ihm wichtig erschien – und so finden sich diverse Namen aus der Thomas Mann-Forschung durch den ganzen Band hin verstreut. Aber die Erfahrung zeigt: nichts läßt einen Kommentar schneller altern als Hinweise auf das gerade letzthin Erforschte – das ist in wenigen Jahren meist schon überholt. Und in dreißig Jahren wird man von den genannten Namen viele nicht mehr kennen. Ein Kommentar sollte auf Dauerhaftigkeit angelegt sein. Ob dieser es sein wird, darf man bezweifeln.