Uwe Schütte

Revolution und Reaktion




  • Hans-Thies Lehmann / Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2003. XVII, 525 S. Gebunden. EUR 49,95.
    ISBN: 3-476-01807-5.


[1] 

Das Inkommensurable und Provokante der Texte von Heiner Müller, so wird acht Jahre nach seinem Tod immer klarer erkennbar, liegt nicht nur begründet in der klaren politischen Parteinahme des Autors für die Idee des Kommunismus, sondern primär in der komplexen Physiognomie des Werks und seiner prozessualen Poetik.

[2] 

Zu seinen Lebzeiten war Müller in beiden Teilen Deutschlands verleumderischen und nicht selten degoutanten Angriffen ausgesetzt. 1 Die Attacken auf Müllers Person seit dem Fall der Mauer waren nicht zuletzt zu verstehen als Reaktionen auf die bemerkenswerte mediale und kulturpolitische Präsenz des Autors, der in den neunziger Jahren kaum noch schriftstellerisch arbeitete, dafür aber neben seinen Tätigkeiten als Intendant des Berliner Ensembles und Verbandsfunktionär regelmäßig als Interviewpartner und Talkshowgast auftrat. 2

[3] 

Nachdem der Tod Müllers den oftmals medienwirksam kalkulierten Provokationen Müllers als auch den Angriffen seiner Gegner ein Ende bereitet hat, kann das in seiner Komplexität noch keineswegs völlig erfaßte Werk nun endlich ungetrübt von feuilletonistischen ›Nebenkämpfen‹ in den Fokus einer wissenschaftlich ausgerichteten Beschäftigung rücken. Zwar hatte die Forschung schon vor längerem (von Müller selbst vorgegebene) Stichworte wie etwa ›Geschichte als Material‹, ›Text als Maschine, ›Werk als Prozeß‹ oder ›Theater als Totenbeschwörung‹ aufgenommen, doch die ganze ästhetische Tragweite und Bedeutung des Müller’schen Oeuvres wird erst seit neuestem deutlicher erkennbar.

[4] 

Die 1980 erschienene Monographie von Genia Schulz 3 lieferte der Müller-Philologie entscheidende Anstöße, an die Monografien wie jene von Frank-Michael Raddatz 4 oder der von Theo Buck und Jean-Marie Valentin herausgegebene Sammelband 5 anknüpfen konnten, um Erkenntnisgewinn bringende Schneisen in das Werk zu schlagen.

[5] 

Die ab 1998 von Frank Hörnigk herausgegebene Werkausgabe des Suhrkamp Verlags bündelte die oft verstreut erschienenen Texte und machte erstmals zahlreiche Gedichte und Prosatexte aus dem Nachlaß zugänglich. Dies bereitete der Forschung eine solide (wenngleich aufgrund der Kategorisierungs­schwierigkeiten bei vielen Texten zugleich umstrittene) Grundlage, der seit 2001 die exzellente Biographie Jan-Christoph Hauschilds 6 an die Seite zu stellen ist. Norbert Otto Eke lieferte 1999 erstmals eine auf weitgehend gesicherten Fundamenten ruhende Einführung 7 , während ein jüngst erschienener Sammelband von Christian Schulte und Brigitte Maria Mayer 8 eine facettenreiche Bestandsaufnahme des aktuellen Kenntnisstandes liefert.

[6] 

Ein neues Standardwerk

[7] 

Das von Hans-Thies Lehmann und Patrick Primavesi herausgegebene Heiner Müller Handbuch erscheint so zu einem Zeitpunkt, an dem die Müller-Forschung einen erfreulichen Boom erlebt. Das Handbuch, ein opus magnum in mehrfacher Hinsicht, repräsentiert zweifellos das neue, unabdingbare Standardwerk der Müller-Forschung. Mit über 500 Seiten unternimmt es den bisher voluminösesten Versuch einer Gesamtdarstellung des Werks. Gewonnene Forschungsergebnisse sind auf übersichtliche Weise gebündelt, ergänzt durch eine ganze Reihe neuer Einsichten.

[8] 

Hervorzuheben ist die undogmatische, den Texten gegenüber offene Herangehensweise der Beiträger, fast durchweg ausgewiesene Müller-Experten. Dadurch wird die so produktive wie provozierende Widersprüchlichkeit des Autors verständlich, die von den Herausgebern in der Einleitung folgendermaßen auf den Punkt gebracht wird:

[9] 
Revolutionär und marxistisch denkend, hat [Müller] Motive einer ›konservativen‹ Kulturkritik, eine Kritik der Aufklärung und die Arbeit am Mythos in sein Schreiben aufgenommen, so dass man ihm auf der einen Seite ein Beharren auf dem Sozialismus, auf der anderen Seite seine Faszination durch ›rechte‹ Autoren wie Ernst Jünger und Carl Schmitt vorhielt. (S. IX).
[10] 

Dementsprechend geht im Kapitel »Müller und die Tradition« ein Beitrag von Thomas Weitin dem Einfluß von Jünger auf Denken und Werk Müllers nach – ein Einfluß, der, wie Weitin nachvollziehbar nachzeichnet, ausgeht von der beide Autoren verbindenden Sichtweise des 20. Jahrhunderts als einer Epoche der Gewaltgeschichte. Weitere Beiträge dieses Kapitels untersuchen die Beziehungen zwischen Müller und Referenzautoren wie Brecht, Seghers, Hölderlin und Shakespeare, wie auch die Texte Müllers allgemeiner im Kontext von griechisch-römischer Antike, Klassischer Moderne und russsischer Literatur verortet werden.

[11] 

Darunter besonders hervorzuheben ist Rainer Nägeles Text zum Spannungsverhältnis zwischen Müller und Klassischer Moderne. Anhand der Leitbegriffe ›Aufklärung‹, ›Zäsur‹, ›Sprachgestus‹, ›Theater der Grausamkeit‹ und ›Maschine‹ bestimmt Nägele das literarisch Extreme an den Texten Müllers als eine subversive Reaktion auf die literarische Tradition, argumentiert also aus formaler Perspektive, anstatt wie in der Forschung sonst üblich die politische Radikalität des Ausgesagten oder Dargestellten, also inhaltliche Kriterien, zugrundezulegen.

[12] 

Überaus hilfreich für ein vertieftes Verständnis der Texte Müllers ist insbesondere das zweite Kapitel des Handbuchs, das übergreifende Aspekte des Werks in polyperspektivischer Weise in den Blick nimmt. Insgesamt 16 Abschnitte umfasst dieses Kapitel, das keine kategorische Unterscheidung zwischen literarischen Gattungen, theoretischen Texten oder Interviewäußerungen vornimmt.

[13] 

Gaetano Biccari oblag es, Müllers politische Stellungnahme auf den Punkt, genauer: auf die Begriffe zu bringen; angesichts der breiten Ausgangslage und nicht unerheblichen Brisanz des betreffenden Korpus eine diffizile Aufgabe, die Biccari jedoch auf bemerkenswerte Weise meisterte. »Geschichte und Gedächtnis im Drama«, »Utopie, Unzeit, Verlangsamung« und »Verausgabung, Opfer, Tod« sind weitere Abschnitte, die ganz zentrale Gravitationspunkte der Texte umreißen.

[14] 

Während die Beiträge zu den »Frauenfiguren« oder dem »Mythologischen Personal« weitgehend erforschte und bekannte Sachverhalte konzis zusammenfassen, bieten beispielsweise die Einträge zu »Landschaft, Natur« (Carl Weber) und »Die Bildenden Künste« (Wolfgang Storch) interessante, bisher vernachlässigte Perspektiven. (Am Abschluss des letzteren Eintrags findet sich im übrigen auch ein Abdruck der Zeichnung, die Müller als Vorlage der Bildbeschreibung diente.)

[15] 

Herzstück & Lücken

[16] 

Das Herz des Handbuches bilden jedoch die Einzel­darstellungen des Werks, die insgesamt rund 250 Seiten umfassen. Da angesichts des umfangreichen Werks Müllers pro Stück / Text nur wenige Seiten Platz zur Verfügung stehen, läßt dies zwangsläufig kaum mehr als eine kurze Synopsis der Forschungsergebnisse zu. Komplexe literarische Gebilde wie Philoktet, Quartett oder die Bildbeschreibung können auf drei Seiten kaum angemessen diskutiert werden.

[17] 

Da manche Interpreten allerdings mehr Raum zugewiesen bekommen (oder beansprucht?) haben – so etwa Volker Bohn sieben Seiten für Germania Tod in Berlin oder Jean Jourdheuil sechs Seiten für die Hamletmaschine –, wird dem Benutzer gelegentlich eine erfreuliche Vertiefung des Textverständnisses ermöglicht. Trotz gewisser Inkonsistenzen ist den Herausgebern insgesamt ein angemessener und akzeptabler Kompromiß geglückt.

[18] 

Höchst unbefriedigend allerdings ist der beschränkte Rahmen, der den Darstellungen von Lyrik und Prosa eingeräumt wurde. Offenkundig folgen die Herausgeber mit der Relegierung lyrischer und erzählerischer Texte einer bedauerlichen Tendenz der bisherigen Forschung, darin lediglich einen Neben- oder Randbereich des eigentlichen, sprich: dramatischen Werkes zu sehen. Diese Fehleinschätzung scheint sich zudem in der Entscheidung zu spiegeln, das nicht-dramatische Korpus in drei Sammelkategorien abzuhandeln, deren Einteilung nicht ganz nachvollziehbar ist (»Prosaschreiben, Traumtexte, Verse«, »Die spätesten Gedichte« & »Kleine Texte«).

[19] 

Zu wenig ist bisher die Bedeutung des Lyrikers Müller gewürdigt worden, genauso wenig wie die eigentümliche Rolle der Prosa als Brückenschlag zwischen poetischen und dramatischen Diskursformen. Zwar muss betont werden, dass Nägeles Eintrag »Prosaschreiben, Traumtexte, Lyrik« mit neuen, durchaus überraschend wertvollen Einblicken in die behandelten Texte aufwarten kann, doch bleibt es unbefriedigend, wenn ein – nicht nur im Kontext des Müllerschen Werkes – so gewichtiges Stück Literatur wie Mommsens Block lediglich en passant behandelt wird.

[20] 

Verdienstvoll wiederum ist das nachfolgende Kapitel über »Theaterarbeit, Hörspiel, Musik«, nicht zuletzt weil es die für die Physiognomie des Werks so konstitutive Facette des Interdisziplinär-Intermedialen ins Blickfeld rückt, so etwa die jeweils separat behandelten Kollaborationen mit Robert Wilson und Heiner Goebbels. Das Kapitel untersucht Einzelwerke wie Wolfgang Rihms Vertonung der Hamletmaschine (Regine Elzenheimer), enthält aber auch motivisch angelegte Beiträge wie »Stimme / Musik« (Martin Zenck).

[21] 

Indem Zenck den literarisch-musikalischen Echowirkungen zwischen dem markanten Klang der Stimme Müllers (als Vorleser / Vorträger eigener Texte) und den Vertonungen in den Bereichen Jazz und Neuer Musik nachgeht, wird ein breites, man möchte sagen: vielstimmiges Bild der Wechselbeziehungen zwischen Text und Ton vermittelt.

[22] 

Während weitere Einträge in dieser Richtung willkommen wären, ist die Notwendigkeit und Anlage des nachfolgenden Kapitels zur internationalen Rezeption eher fragwürdig. Nicht alle der Einträge vermitteln einen so interessanten Eindruck von den Wirkungsweisen und -möglichkeiten der Texte außerhalb des deutschen Sprachraums wie der von Carl Weber verfasste Eintrag zu den USA. Weber, der führende Übersetzer und Vermittler Müllers im nordamerikanischen Raum, zeigt die Probleme der Wirkung von Müllers Theater in dem politisch-kulturellen Raum auf, der sich bei Müller als geografische Manifestation des von ihm Abgelehnten in sein Werk eingeschrieben hat. 9

[23] 

Dass man daneben auch über die Rezeption Müllers in Australien und Flandern (durchaus kompetent!) informiert wird, scheint allerdings mehr beliebigen Gründen denn tatsächlicher Notwendigkeit geschuldet, während wiederum beispielsweise die Absenz von Großbritannien im Reigen aller wichtigen europäischen Länder verwundert.

[24] 

Ob für diese Lücke organisatorische Gründe verantwortlich sind oder sie vielmehr zurückzuführen ist auf die Inkompatibilität Müller’scher Texte mit dem britischen Theaterbetrieb, der – als Spiegel der gesamtkulturellen Situation im Vereinigten Königreich – deutschsprachiger Kultur eher reserviert gegenübersteht und aufgrund der erbarmungslosen Kommerzialisierung vornehmlich auf publikumsschonende Stücke setzt, bleibt der Spekulation überlassen.

[25] 

Handreichungen
für weitere Forschung

[26] 

Abgeschlossen wird das Handbuch schließlich durch einen extensiven Anhang, der sich zusammensetzt aus einer konzisen Zeittafel, die die ausführlicheren biografischen Informationen eingangs des Handbuchs komplementiert, gefolgt von einer Liste sämtlicher Theaterinszenierungen und einem kommentierten Verzeichnis der nach Müllers Texten entstandenen Hörspiele. Hilfreich und in dieser Form erstmals publiziert wird die Liste der auf Textvorlagen Müllers basierenden Kompositionen. Auf ein chronologisches Verzeichnis der publizierten Gespräche und Interviews folgt schließlich die 50seitige Bibliografie, welche sämtliche Publikationen übersichtlich auf den neuesten Stand bringt.

[27] 

Namens-, Werk- und Begriffsregister runden das Handbuch ab und machen es zu einer unabdingbaren Handreichung und ersten Anlaufstation für alle Forscher, die sich mit den Texten auseinandersetzen möchten. Anzuraten ist eine Beschäftigung mit Heiner Müller nicht zuletzt deshalb, weil seine Texte einen Verständnisraum öffnen, der es ermöglicht, die zerstörerischen Homogenisierungstendenzen präziser zu erfassen, welche auch an der graduellen Erodierung von Bildung und Kultur ihren Anteil haben.


Dr. Uwe Schütte
Aston University
School of Languages and Social Sciences
Aston Triangle
GB - B4 7ET Birmingham

Besuchen Sie den Autor auf seiner Homepage!

Ins Netz gestellt am 29.05.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von der Redaktion IASLonline. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Lena Grundhuber.

Empfohlene Zitierweise:

Uwe Schütte: Revolution und Reaktion. (Rezension über: Hans-Thies Lehmann / Patrick Primavesi (Hg.): Heiner Müller-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart: J. B. Metzler 2003.)
In: IASLonline [29.05.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=593>
Datum des Zugriffs:

Zum Zitieren einzelner Passagen nutzen Sie bitte die angegebene Absatznummerierung.


Anmerkungen

Beispielhaft erwähnt sei Hans Dieter Zimmermanns Polemik »Heiner Müller, der preisgekrönte Terrorist«, in der Müller als ein Sympathisant und Propagandist des Terrorismus gebrandmarkt werden soll. In bewußter Verdrängung oder ignoranter Unkenntnis des Unterschieds zwischen Autor und Erzählinstanz versucht Zimmermann unter anderem anhand von Todesanzeige den tragischen Selbstmord Inge Müllers zu einem perfiden persönlichen Angriff auf die moralische Integrität Müllers zu instrumentalisieren: »Ist Müller gänzlich unfähig, das Leben und den Tod eines anderen mitzufühlen und mitzuleiden? Wehrt er sich gegen die ›Schwäche‹ der Empfindung durch Aggressivität? Ist er Sadist?« Vgl. Hans Dieter Zimmermann: Der Wahnsinn des Jahrhunderts. Die Verantwortung der Schriftsteller in der Politik. Stuttgart: Kohlhammer 1997, S. 91.   zurück
So trat Müller in der Kochsendung von Alfred Biolek auf und ließ sich am 29.9.1993 in der Reihe »BILD bei deutschen Dichtern« porträtieren. Vgl. Michael Töteberg: Medienmaschine. Publikationsstrategien und Öffentlichkeitsarbeit oder: Wer bedient wen? In: Text & Kritik 73 (1997), S. 174–181.   zurück
Genia Schulz: Heiner Müller. Stuttgart: Metzler 1980.   zurück
Frank-Michael Raddatz: Dämonen unterm Roten Stern. Zu Geschichtsphilosophie und Ästhetik Heiner Müllers. Stuttgart: Metzler 1991.   zurück
Theo Buck / Jean-Marie Valentin (Hg.): Heiner Müller. Rückblicke, Perspektiven: Frankfurt 1995. Besondere Erwähnung verdient insbesondere der umfangreiche Band, der aus der 1998 abgehaltenen Konferenz in Bath resultierte: Ian Wallace / Denis Tate / Gerd Labroisse (Hg.): Heiner Müller. Probleme und Perspektiven. Bath-Symposion 1998. Amsterdam: Peter Lang 2000.   zurück
Jan-Christoph Hauschild: Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel. Eine Biographie, Berlin: Aufbau 2001.   zurück
Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Stuttgart: Reclam 1999.   zurück
Christian Schulte und Brigitte Maria Mayer (Hg.): Der Text ist der Coyote. Heiner Müller. Bestandsaufnahme (es 2367) Frankfurt / M.: Suhrkamp 2004.    zurück
Vgl. etwa »New York oder Das eiserne Gesicht der Freiheit«, in: Frank Hörnigk (Hg.): Heiner Müller Material, Leipzig: Reclam 1989, S. 95–99.   zurück