Wolfgang Braungart

Der Reiz des Populären




  • Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 2003. VI, 580 S. Gebunden. EUR 49,95.
    ISBN: 3-476-01759-1.


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Dies ist ein mutiges, ein risikobereites Buch, es hat in der Forschungslandschaft nichts Vergleichbares. Es macht sich vielfach angreifbar, aber es wird die Diskussion voranbringen. Populäre Kultur ist kein enges Forschungsreservat. Viele Disziplinen wenden sich ihr zu, also sind auch hier viele Disziplinen beteiligt. Populäre Kultur wird hier nicht als Pop-Kultur verstanden, und das Buch läßt sich auch nicht auf postmoderne Tändeleien ein. Genauso wenig läßt es sich seine Ansätze und Fragestellungen von der englischen und amerikanischen Popularkultur-Forschung bzw. von den Cultural Studies vorgeben, ignoriert sie aber auch nicht – ebenso wenig wie die europäischen und deutschen Traditionen der empirischen und sozialgeschichtlichen Kulturwissenschaft, der Volkskunst, der historisch-hermeneutisch orientierten Literatur- und Kunstwissenschaften.

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Zum Aufbau

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Die umsichtige, abwägende, stets wirklich argumentierende Einführung des Herausgebers versucht Grund in die Sache zu bringen (S. 1–22). Von konzeptioneller Bedeutung für das Handbuch ist, wie Hügel betont, »die ästhetische Funktion Populärer Kultur und folglich ihre Differenz zur alltäglichen Lebensweise« (S. 2, Hervorhebung von mir, W. B.). Damit werden soziale Aspekte und Funktionen des Populären nicht bestritten, aber eben nicht ins Zentrum gerückt. Der »Reiz des Populären« liegt für Hügel darin, daß »in der Rezeption zwischen den Registern des Sozialen und des Ästhetischen hin und her« geschaltet werden kann (ebd.). Freilich kann man sich fragen, was ›ästhetisch‹ dann genau meint. Denn man kann durchaus die Auffassung vertreten, daß soziale und kulturelle Äußerungen als solche immer ästhetisch (in einem weiteren Sinne) sind: gestalthaft, expressiv, symbolisch.

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Demgegenüber sieht Hügel das Ästhetische des Populären in Analogie zum Ästhetischen der Kunst: »das Populäre [ist] ein Bereich [...], der wesentlich auch ästhetisch, also jenseits sozialer Prägung funktioniert«. Dieses »also jenseits« verstehe ich nicht. Es gibt für das Ästhetische kein jenseits des Sozialen und auch nicht des Kulturellen. Dieser Bereich des Populären »stellt [...] für die Selbstorganisation einer Gesellschaft einen gewissen Luxus dar und ist folglich auch für die einzelnen am Populären Teilhabenden Luxus. Ohne ein gewisses Maß an Wohlhabenheit wird Populäre Kultur sich daher nicht entfalten können.« (S. 6) Das Populäre als surplus, als, durchaus ›schillernd‹, Reich der Freiheit jenseits des Reiches der Zwecke? Wenn man mit Hügel die »unumgänglich notwendige Rezeptionsfreiheit« des Populären betont (ebd.), wie will man sie begründen? Transzendental-philosophisch? Man muß sich nur Jugendgruppen mit ihrem Konformitätsdruck anschauen und die Freizeitradler reiferen Alters, die in ihren knallig bunten Trikots und ihren Radlerhosen stecken wie die Wurst in der Pelle, dann beschleichen einen rasch Zweifel an dieser These von der Rezeptionsfreiheit. Gewiß ist es üblich geworden, das Hedonistisch-Spielerische etwa der Mode besonders herauszustreichen. Aber so ganz schief war denn doch nicht, was Horkheimer / Adorno zur Kulturindustrie eingefallen ist. Und schließlich: Wohin gehört die häufig erbauliche oder moralisierende Jahrmarktsliteratur der Frühen Neuzeit, wohin gehören die ›populären‹ religiösen Drucke, die Votivmalerei? Nicht zur populären Kultur? (Bezeichnenderweise fehlt ein Stichwort ›Religion‹!)

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Hügel konstruiert das Populäre als Ausdifferenzierungsphänomen der Moderne in Analogie zur Ausdifferenzierung des kulturellen Teilsystems Kunst (S. 12). Es wird also nicht von seiner sozialen Trägerschaft her bestimmt (S. 14). Als ästhetisches Phänomen ist das Populäre auch der (ästhetischen) Kritik zugänglich (S. 10). Es ist naiv, die Grenzen zur und den »Wert der Hochkultur [zu] übersehen« (S. 8, S. 13). Dieses Plädoyer für Wertung ist mutig und gefällt mir. Wertung muß sein und geschieht auch immer – etwa implizit in der bloßen Selektion –, selbst wenn man das nicht weiß. Folgerichtig plädiert Hügel für eine »Hermeneutik des Populären« (S. 15f.) und für einen »prozessualen Begriff« Populärer Kultur, bei dem es mehr um »Teilhabe« als um »Identitätsfindung oder [...] Selbstvergewisserung / Selbstinszenierung« gehe (S. 16).

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Das wird leichter verständlich, wenn man Hügel darin folgt, »Unterhaltung als bestimmende Zugangsweise zur Populären Kultur« (S. 16 ff.; meine Hervorhebung) anzusehen. ›Unterhaltung‹ soll also die differentia spezifica des Populären sein, wobei mir freilich nicht recht einleuchten will, warum, zumal unter den Bedingungen einer entfalteten Kultur-, Vergnügungs- und Eventindustrie, ›Identitätsfindung‹ und ›Selbstvergewisserung / Selbstinszenierung‹ damit nicht vereinbar sein sollen. Wenn man der These vom mehr oder weniger offensichtlichen Narzißmus der ›Erlebnisgesellschaft‹ folgt (Gerhard Schulze), dann wären ›Selbstvergewisserung‹ und ›Selbstinszenierung‹ doch genau das Versprechen der Flow-Erlebnisse populärer Event-Kultur. Freilich darf man ›Identität‹ und ›Selbst‹ dann nicht mehr definieren wie in den Hochzeiten der Subjekt-Philosophie um 1800.

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Populäre Kultur demnach als ausdifferenziertes kulturelles Teilsystem mit der zentralen Funktion der Unterhaltung, die ihre spezifische Ästhetik bedingt: so läßt sich dann auch von einem kulturellen Phänomen und einer kulturellen Praxis sprechen, die erst im 19. Jahrhundert entsteht. Aber was genau wäre ›Unterhaltung‹? Meint ›Unterhaltung‹ etwa ›Zerstreuung‹ im Sinne Benjamins? Sollte man entsprechend also auch von Kunst erst sprechen, wenn sie mit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu einem autonomen kulturellen Teilsystem ausdifferenziert ist und sie sich selbst so wahrnimmt?

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Populäre Kultur beginnt für Hügel etwa um 1850, fällt somit zusammen mit der Entstehung der modernen ›Massenkultur‹ (K. Maase). Sechs historische Phasen versucht Hügel zwischen 1850 und 2000 voneinander abzuheben, wobei er für die letzte Phase 1970 bis 2000 durchaus ästhetische Praktiken geltend macht, die in der Postmoderne- / Popmoderne-Diskussion auch eine Rolle spielen.

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Systematik der Artikel

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Hügel unterscheidet elf Gesichtspunkte, die eine implizite Systematik der verschiedenen Artikel insgesamt abgeben sollen: Zunächst gehe es um ›Konzepte der Populären Kultur‹; hier kommen, der liberalen und pluralistischen Konzeption des Handbuchs entsprechend, verschiedene Akzentsetzungen und methodische Zugangsweisen bzw. Konzepte zum Zug – Alltagskultur, Erlebniskultur, Freizeitkultur, Jugendkultur, Kulturindustrie, Massenkultur, Soziokultur, Subkultur, ›The People‹, Unterhaltung, Volkskultur; sie werden im zweiten Teil des Handbuchs (S. 23–89) von unterschiedlichen Autoren dargestellt. Dann benennt Hügel eine Reihe von ›Grundbegriffen‹ im engeren Sinne (von ›Action‹ bis ›Zukunft‹); schließlich ›Orte‹, ›Speicher- und Darbietungsmedien‹, ›Distributionsmedien‹, ›Geräte‹, ›Distributionswege‹, ›Sparten‹, ›Rezeptions- und Funktionsfiguren‹, ›Medien- und Genrefiguren‹, ›Erzählweisen‹. Man sieht schnell, daß diese Systematik nicht wirklich trennscharf ist. Das ›Buch‹ fehlt z.B. ganz, dafür gibt es die ›Buchgemeinschaft‹. Die Zeitung erscheint nur unter den Speicher- und Darbietungsmedien, nicht unter den Distributionsmedien. Unter ›Sparten‹ gibt es zwar Film, Musik, Sport, Theater, Werbung, aber z.B. nicht Religion oder Tanz, unter den ›Orten‹ z.B. Stadion und Volksfest, aber nicht die Kneipe und den Jugendklub usw.

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Der Herausgeber sieht solche Lücken selbst, und man mag sie auch damit entschuldigen, daß das große Forschungsgebiet der Populären Kultur in der Tat erst allmählich schärfere Konturen gewinnt, es folglich nicht einfach ist, für speziellere Themen und Gebiete kundige Bearbeiter zu finden. Schwieriger scheint mir die Kategorie der ›Erzählweise‹, unter der auch die visuellen und multimedialen Medien (Videoclip) versammelt sind. Hier scheint ein textualistischer Kulturbegriff durch, der in semiotischer und hermeneutischer Hinsicht grundsätzlich kaum haltbar ist, erst recht nicht, wenn man, wie Hügel, das Ästhetische an der Populären Kultur so energisch betont.

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Der Hauptteil – ein Lexikon

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Alle diese systematischen Gesichtspunkte – außer ›Konzepte‹ – schlagen sich aber in der Ordnung des Buches dann nicht mehr nieder. Der große Hauptteil bietet unter der nun allgemeinen Rubrik ›Grundbegriffe‹ (S. 91–539) in bloßer alphabetischer Ordnung all die Artikel, die Hügels Einleitung noch systematisch gruppiert hat. Diese Artikel präsentieren sich eher als gegliederte Essays. Zu Beginn wird jedoch immer eine kurze Definition gegeben. Die Artikel sind im großen und ganzen von sehr beachtlicher Qualität; Hügel ist es fast immer gelungen, für das jeweilige Stichwort ausgewiesene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu finden. Die Autoren setzen jeweils individuelle Akzente; ein systematischer Aufbau der Artikel ist nicht vorgegeben (ganz anders also als beim soeben abgeschlossenen ›Reallexikon‹). Die jeden Artikel abschließenden Literaturhinweise sind nützlich, ufern freilich bisweilen zu sehr aus und hätten stärker auf das Wesentliche konzentriert werden können.

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Spekulieren kann man, ob der Verlag dem Herausgeber etwas mehr Zeit hätte lassen sollen. Zwar kann man in der Tat über das Stichwortregister manche Themen, denen kein eigener Artikel gewidmet wurde, doch auffinden, dennoch sollte man bei einer zweiten Auflage überlegen: Warum das Stichwort ›Sex‹, aber nicht ›Erotik‹ und ›Liebe‹? Warum nicht ›Exot und Exotik‹? Warum ›Androide‹, aber nicht ›Science Fiction‹? Warum nicht so grundlegende Stichworte wie ›Transgression‹ und ›Mythos‹, warum den ›Virtuosen‹, aber nicht das ganze Gewerbe der Schausteller und des fahrenden Volkes? Warum der ›Westerner‹, aber nicht der ›Western‹? Warum nicht ›Fastnacht‹ und ›Karneval‹? Warum ›Walkman‹, aber nicht ›Wallfahrt‹? Noch einmal: Die Ausblendung des religiösen Sektors irritiert, gerade weil säkularreligiöse Phänomene wie z.B. ›Kult‹ und ›Star‹ zugelassen werden. Hier folgt das Handbuch zu sehr einem einfachen Säkularisierungsmodell. Das sollte man bei einer zweiten Auflage überdenken.

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Etwas mehr Sorgfalt im Lektorat hätte das Projekt verdient gehabt (wo z.B. ist ›Lau‹ [2000] in der Bibliographie?). Der Anhang enthält eine Bibliographie, die z.B. von Rudolf Schenda zwar einen Aufsatz (›Der Bilderhändler und seine Kunden im Mitteleuropa des 19. Jahrhunderts‹) enthält, aber nicht seine grundlegende Untersuchung ›Volk ohne Buch‹, es enthält ein Namen-, Sach- und Titelregister.

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Eine Schneise ist geschlagen, ein Forschungsfeld fürs erste abgesteckt, eine herausfordernde und doch auch integrative These gewagt: ein bemerkenswerter Anfang!


Prof. Dr. Wolfgang Braungart
Universität Bielefeld
Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft
Postfach 100131
DE - 33501 Bielefeld

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Ins Netz gestellt am 23.06.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Christine Haug. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Wolfgang Braungart: Der Reiz des Populären. (Rezension über: Hans-Otto Hügel (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart / Weimar: J. B. Metzler 2003.)
In: IASLonline [23.06.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=606>
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