Lothar Schneider

Verkehr als Gegenstand und Text




  • Johannes Roskothen: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne. München: Wilhelm Fink 2003. 350 S. Kartoniert. EUR 40,90.
    ISBN: 3-7705-3773-4.


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Innerhalb der überbordenden Literatur zur Kultur der Weimarer Republik und zur Moderne ein eigenes Gebiet abzustecken und einen konturierten Standpunkt zu finden, ist schwer geworden. Johannes Roskothen gelingt dies mit einer kulturwissenschaftlich orientierten Untersuchung, die sich »eine Poetik der zirkulierenden Oberfläche des Verkehrs« (S. 26) zur Aufgabe nimmt.

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Die Moderne
als Verkehrszustand

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Dabei versteht Roskothen die Sphäre kollektiven wie individuellen Transports nicht als weiteres Bild in der Galerie der Epoche, sondern als deren spezifische Signatur, formuliert er doch im ersten Kapitel seines »Versuch[s], die Moderne als Verkehrszustand zu denken« (S. 29) als These: »In der Sphäre des massenhaften, technologisch optimierten Zirkulierens gerinnt Moderne zu sinnlichen faßbaren Denkfiguren, die im Bereich der Künste aufgegriffen und differenziert werden.« (S. 22) und ergänzt in etwas unglücklicher Pointierung: »Die geschichtsphilosophisch exponierte zweite deutsche Republik [...] erprobt nicht weniger als den totalen Verkehr« (S. 23).

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Die Literarisierung
von Verkehrsphänomenen

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Damit werden – so Roskothen in (etwas problematischer) Berufung auf die Systemtheorie –»kulturelle Ordnungsmuster« (S. 27) kenntlich, die Lebenswelt und Literatur gleichermaßen bestimmten, ohne daß beide Erscheinungsformen freilich vorschnell identifiziert werden dürften. Zwar handele es sich beiderseits um ein Denken, das sich einem »metaphysische[n] Diskurs« (S. 26) mit seiner Begründungsstruktur verweigere und sich statt dessen auf eine Analytik der Oberfläche und die Beschreibung transitiver Phänomene konzentriere, aber dies bedeute keinen Verzicht auf Differenzierung. Vielmehr sei »die Literarisierung von Verkehrsphänomenen selbst Ingredienz der diskursiven Engführung namens ›Verkehr‹, indem sie einen weiteren – den poetischen – Faden in das Diskursgebilde hineinverwebt.« (S. 27).

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Die Durchführung dieser Aufgabe der »Konkretion eines epistemisch Grund- und Ziellosen« (S. 26) erfolgt in einer Reihe von Interpretationen, die aufbauend auf den Befunden literaturwissenschaftlicher und technikgeschichtlicher Forschungen kanonische Autoren der Moderne in der Perspektive des spezifischen Interesses der Untersuchung neu lesen und um eine Reihe weniger bekannter literarischer und journalistischer Texte ergänzen. 1 Auf das einleitende Kapitel, in dem (in Reihenfolge) Robert Müller, E.T.A. Hoffmann, Robert Musil, Siegfried Kracauer, Rainer Maria Rilke (mit Malte Laurids Brigge) und schließlich Alfred Döblin als exemplarische Denker moderner Verkehrsproblematik vorgestellt worden waren, folgt eine tour d‘horizon durch die Metropolen des neunzehnten Jahrhunderts und die Klassiker ihrer Beschreibung. Lichtenberg, Heine, Engels und schließlich Edgar Allen Poe stehen für London; Paris und Wien, die schon im ersten Kapitel literarisch präsent waren, werden nun sparsamer und im Wesentlichen mit historischen Fakten konturiert. Die dadurch entstandene Leerstelle wird mit einem Exkurs zu James Joyces‘ Ulysses gefüllt, bevor das expressionistische Berlin in Texten von Alfred Wolfenstein und Paul Gurk, das vorrevolutionäre Rußland durch Andrej Belyjs Städteroman Petersburg und abschließend dann New York in den Fokus der Analyse rücken.

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Obwohl Roskothen dezidiert von literaturhistorischen Verlaufsfiguren absieht und eine typologische Textordnung bevorzugt, erscheint es doch problematisch, mit John Dos Passos‘ Manhattan Transfer von 1925 und Franz Kafkas Verschollenem von 1912 / 13 zwei Romane zu parallelisieren, von denen sich einer seines Gegenstands beschreibend vergegenwärtigt, während der andere seine Wirklichkeit imaginiert; zumal Roskothen in seiner Schlußbemerkung, daß »im Gegensatz zu Dos Passos‘ vibrierendem Manhattan [...] Kafkas amerikanischer Verkehr letztlich diesseits des Atlantiks [flute]« (S. 246), die Sinnhaftigkeit dieses Vergleichs selbst wieder kassiert.

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Analyse der
Berliner »Verkehrssituation« in den
1920er und 1930er Jahren

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Nach dem Blick auf das große Ganze folgt im dritten Kapitel eine einlässliche Analyse der Berliner ›Verkehrssituation‹ der 20er und 30er Jahre. Dies ist der stärkste Teil der Arbeit: Neben ›üblichen Verdächtigen‹ wie Kracauer, Kästner, Döblin und Joseph Roth werden unbekanntere oder im gegebenen Kontext seltener genannte Autoren wie Hermann Kesser, Wilhelm Hausenstein, Karl Jaspers, Joseph Goebbels und – erneut – Paul Gurk mit zeitgenössischen Dokumenten und historischen Informationen kontextualisiert, so daß sich ein plastisches Bild der »kulturellen Hauptstadt Europas« (S. 235) dieser Epoche einstellt.

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Da die übergreifende Konzeption der Untersuchung selektiven Umgangs mit dem Material bedingt, erscheint der Verweis auf vernachlässigte Texte leicht als Qusiquilie. Dennoch stellt sich zumindest die Frage, warum z.B. Walter Benjamin zwar auf der Beschreibungsebene permanent präsent ist, seine Einbahnstraße jedoch lediglich im (selektiven) Literaturverzeichnis verzeichnet wird, während Bertolt Brecht wiederholt genannt wird, sein Lesebuch für Städtebewohner aber gänzlich fehlt, obwohl es die urbane Erfahrung der ›Verkehrsgesellschaft‹ zwar nicht am namensgebenden Objekt beschreibt, aber doch prototypisch exemplifiziert. Schließlich zitiert der Verfasser in seiner Darstellung des Gleisdreiecks, eines Lieblingsobjekts der Forschungen zur Neuen Sachlichkeit, zwar ein Gedicht von Günter Grass aus dem Jahr 1960, das gleichnamige ›Simultangedicht‹ von Franz Mehring 2 bleibt jedoch unberücksichtigt.

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Daß Johannes Roskothen mit dem Verkehr ein zentrales Thema der Moderne exponiert hat, erscheint unmittelbar plausibel; daß er mit seiner Darstellung ein Kompendium klassischer Texte und charakteristischer Orte geliefert hat, macht sie interessant – und gerne wird man bei der Lektüre die eine oder andere Trouvaille zur Kenntnis nehmen.

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Versuch einer
Kulturanthropologie des
modernen Verkehrs

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Aber Roskothen will mehr: In einem vorgeschalteten Kapitel mit den sperrigen Titel »Kulturwissenschaftlicher Erkenntnisanspruch und poetisches Sujet. Methodische Prämissen« zitiert er Friedrich Vollhardts polemische Forderung, mit kulturwissenschaftlicher Theoriebildung im Bereich der Literaturwissenschaft so lange inne zu halten, bis eine Reihe ›gelungener‹ Untersuchungen die Dignität und Praktikabilität der formulierten Ansätze nachgewiesen haben, und nimmt die Herausforderung an (vgl. S. 18).

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Damit beansprucht Roskothen für sein Buch nicht nur wissenschaftlichen Gehalt, sondern reklamiert zugleich den Modellcharakter seiner Untersuchung – und das Modell ist ambitioniert: Roskothen will Inhalte nicht nur sagen, sondern – entsprechend der Poetik jener klassischen Moderne, der er sich verpflichtet fühlt (vgl. S. 100) – sie auch zeigen. Konkret bedeutet dies, daß der Text seinen Inhalt nicht nur beschreibt, sondern ihn zugleich auf Textebene inszeniert. Wird den konventionellen Regeln wissenschaftlicher Prosa in der Kapitelgliederung noch Rechnung getragen, erweisen sich die Ausführungen selbst als Folge von Stasen und Bewegungen, die der transitiven Ordnung des Verkehrs, dem Fluß seiner Bewegung und seinen Stockungen folgen.

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Doch auch dieser »Versuch einer Kulturanthropologie des modernen Verkehrs« (S. 200) unterliegt letztlich jenen Beschränkungen seines diachron organisierten Mediums, die Roskothen als Schwierigkeit simultanistischer Romane benennt (vgl. S. 230 f.). Zumindest traditioneller Lektüre erscheint der Ort eingeführter Sachinformationen bisweilen kontingent, Rekurrenzen stellen sich ein, materiale Querverweise versprechen die Lösungen, deren Aufgaben nicht gestellt werden. Schließlich werden verbale Brücken gebaut, die kausale Nexus suggerieren und unvermittelte Bezüge zu einer »abstrakte[n], nicht substanzhafte[n] Totalität« (S. 98) herstellen, die unbefragt im Hintergrund schillert. 3

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Dabei treibt Roskothen seine forcierte Sprache bisweilen zur Stilblüte. Formulierungen wie »unschuldige tabula rasa« (S. 27) oder »Hobelspäne des Erzählens« (S. 221) erscheinen dem Rezensenten ebensowenig gelungen wie die Vorstellung, daß Wilhelm Hausenstein »die Katze seines Wahrnehmungsschemas aus dem Sack [läßt]« (S. 300). Schließlich stellen Sätze wie »Der Blick auf Franz Biberkopf zoomt einen Mosaikstein des transitorischen Gewimmels, auf den der Dampfhammer zumindest metaphorisch niedersaust« (S. 274) den verständnisbemühten Leser vor eine nicht unbeträchtliche Rekonstruktionsaufgabe.

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Zwischen
wissenschaftlicher Konvention und
ästhetisierender Darstellung

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Mag Vieles an der Unentschiedenheit des Textes zwischen wissenschaftlicher Konvention und ästhetisierender Darstellung auch dem institutionellen Zwang einer Habilitationsschrift geschuldet sein, es hätte für die Publikation doch eliminiert werden können. Wenn der Autor allerdings auf S. 214 einen Text von Paul Gurk ankündigt, bei dessen Interpretation S. 218 ff. sich aber herausstellt, daß er bereits S. 186 eingeführt worden war, liegt der Verdacht nahe, daß der Autor selbst gelegentlich den Überblick verloren haben könnte.

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Roskothens Untersuchung ist eine Hybride, ein weiteres Exemplar einer Textgattung, die weitgehend auf ›konventionellen‹ Forschungsergebnissen aufruht und sich diese einverleibt, um sie im eigenen Theoriespiel zu reformulieren. Das ist ein durchaus probates und legitimes Verfahren, doch werden dabei die eigenen Prämissen nicht systematisch ausgewiesen und zur Diskussion gestellt. Dies geschieht mit der Begründung, daß dann ein Theorierealismus behauptet würde, der seinerseits relativiert werden müsse, was schließlich zu einem infiniten Regreß führe. (Und man ist sich bewußt, daß auch diese These nur einen letzten Basiliskenblick des perhorreszierten ›metaphysischen Wahrheitsdenkens‹ darstellt. 4 ) Im Rahmen der von Roskothen postulierten und exemplifizierten »Oberflächenlektüre« (S. 68) vertritt ein Gewebe von Anspielungen, Namensnennungen und Kryptozitaten, die die Solidarität der ›Diskursgemeinschaft‹ einfordern und ihren Mitgliedern als Schibboleth dienen, die Stelle systematischer und historischer Rekonstruktion und Exposition. Will der Leser auf diesen Zug nicht aufspringen, so bleibt ihm nur der Trost im Material – aber da läßt sich einiges finden.


Dr. Lothar Schneider
Justus-Liebig-Universität Gießen
Institut für Neuere deutsche Literatur
Otto-Behagel-Straße 10
DE - 35394 Gießen

Ins Netz gestellt am 03.07.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserer Fachreferentin Prof. Dr. Christine Haug. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Lothar Schneider: Verkehr als Gegenstand und Text. (Rezension über: Johannes Roskothen: Verkehr. Zu einer poetischen Theorie der Moderne. München: Wilhelm Fink 2003.)
In: IASLonline [03.07.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=610>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Daß Roskothen als Anhang des Buches nicht eine Auswahl dieser Texte, sondern Joseph Roths Gleisdreieck und Siegfried Kracauers Unterführung wiedergibt, bleibt unverständlich.   zurück
Dabei findet sich Mehrings Name im Literaturverzeichnis.   zurück
In einer Arbeit, die Moderne durch den Gegensatz zu aller Rede von ›Substanz‹ charakterisiert und ihren funktionalen Charakter in den Begriffen von der Oberfläche, Ornament und Transitivität zu fassen sucht, befremdet eine unkritische Rede von »anthropologische[n] Urmustern« (S. 51).   zurück
Dagegen weiß ein pragmatisches Verständnis inhaltlicher Prämissen und methodischer Setzungen nicht nur um das Faktum ihrer diskursiven Bestreitbarkeit, sondern kommt ihr durch deren Offenlegung sogar entgegen.   zurück