Elke-Maria Clauss

Textspuren




  • Inka Kording / Anton Philipp Knittel (Hg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003. 299 S. Kartoniert. EUR 19,90.
    ISBN: 3-534-15813-X.


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Kleist und kein Ende

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Der Dichter Heinrich von Kleist und sein Werk stoßen nach wie vor auf das ungebrochene Interesse der Nachwelt. Literarisch, musikalisch, biographisch und in germanistischen und interdisziplinären Erörterungen versucht man immer wieder erneut dem Phänomen Kleist auf die rätselhaften Spuren zu kommen. So etwa mit der erst jüngst erschienenen Biographie Rudolf Lochs, des ehemaligen Direktors der Kleist Gedenk- und Forschungsstätte in Frankfurt an der Oder, so Henning Boetius mit seiner neuen Novelle Tod am Wannsee, Awet Terterjan mit seiner im letzten Frühjahr in München uraufgeführten Oper Das Beben, so schließlich in zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen. 1

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An Kleist und seiner Position zwischen Klassik und Romantik lässt sich wunderbar aufzeigen, was die bürgerliche ›Sattelzeit‹ im Übergang zum 19. Jahrhundert literatur-, kultur-, geistes-, sozial- und mentalitätsgeschichtlich recht eigentlich bestimmte und was Kleist zum Dichter der ›Moderne‹ macht, dessen ›Aktualität‹ immer wieder beschworen wird. Denn als scharfsinniger Beobachter seiner Zeit und seiner häufig leidvollen Erfahrungen mit ebendieser registrierte Kleist seismographisch genau ihre Ordnungen und Gesetze, um sie in seinem Werk ästhetisch erneut probeweise zu inszenieren. Seine Verfahrensweisen wie seine Themen zeigen deutlich den krisenhaften Ordnungs- und Orientierungsverlust um 1800.

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Ergebnis sind die berühmten Experimentalanordnungen seiner Dramen, Novellen und Anekdoten. Diese Versuchsreihen unterschiedlicher Couleur, bei denen sich der Leser auf gar nichts mehr verlassen kann – der Erzähler ist unzuverlässig, ironische Brechungen sind an der Tagesordnung –, zeigen das Subjekt im Spannungsfeld von Intimität und Öffentlichkeit; sie entwerfen Lebenspläne und deren Scheitern; sie beschreiben öffentliche und private Prozesse der Wahrheitsfindung; sie erproben die Bedeutung von Individualität und Eigentümlichkeit; sie fragen nach der Rolle der Geschlechter und einer Sprache des Gefühls und der Leidenschaften. Kurz: Kleist und kein Ende!

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Die Auswahlkriterien

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Der vorliegende Sammelband von Anton Philipp Knittel und Inka Kording weiß um die Vielzahl der Kleist-Publikationen und profiliert sich auf bestimmte Weise:

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1. Er stellt sich explizit in die Tradition der beiden 1967 und 1981 von Walter Müller-Seidel herausgegebenen Vorgängerbände, die ebenfalls in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in der Reihe »Wege der Forschung« erschienen. 2

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2. Er beschränkt sich auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen.

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3. Er bietet drei eigens für diese Publikation verfasste Forschungsberichte zu Amphitryon, Penthesilea und Michael Kohlhaas.

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Zur Tradition der Reihe

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Walter Müller-Seidels wissenschaftsgeschichtliche Überschau mit Beiträgen von 1884 bis 1963 (1. Band) und von 1966 bis 1978 (2. Band) beschränkte sich explizit auf Aufsätze und Essays unter Ausschluss von Auszügen aus Monographien und nahm dafür in Kauf, »daß damit ein repräsentativer Querschnitt der gesamten Kleistforschung nicht erwartet werden kann«. 3 Knittel und Kording beziehen sich in ihrer »Einleitung« wiederholt auf die Vorgängerbände, weichen jedoch von dem punktuellen Zugriff – wie ihn Aufsatz und Essay haben – ab, ohne darauf hinzuweisen. Exakt die Hälfte der Beiträge entstammt Monographien (Gallas, Müller, Theisen, Földényi und Greiner). Nun gibt es gute Gründe für eine solche Entscheidung, doch der Leser erfährt sie nur in der Ausnahme. So etwa, wenn die Beiträgerin Helga Gallas (1981) zu Recht gewürdigt wird »als eine der Ersten in der Kleist-Forschung [, die] konsequent und stringent die psycho-strukturalistischen Theorien Jaques Lacans applizierte« (S. 10).

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Solche Einordnungen und Zuordnungen der Einzelbeiträge in die wissenschaftliche Diskussion, die ja dann zugleich Begründungen der Auswahl darstellen, wünschte man sich mehr. Warum kann man beispielsweise nicht erwähnen, dass der Aufsatz von Jürgen Schröder (1985) eine wichtige Station in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Novelle Der Findling bezeichnete, führte doch nicht zuletzt dessen »Plädoyer für Nicolo« und sein »Stellvertreter«-Prinzip (S. 43) zu einer Neubewertung der Novellenfiguren, die heute schon als tradierter Fokus auf die Novelle gelten darf. Die Beiträge eines Sammelbandes, gar die eines Forschungsüberblicks, bedürfen der sorglichen Pflege der Herausgeber; wo sie – wie hier – fehlt, schleicht sich leicht ein Gefühl von Beliebigkeit ein:

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Eine Anthologie aller bemerkenswerten Beiträge zur Kleist-Forschung des letzten Vierteljahrhunderts war allerdings auch nicht intendiert, wobei eine über jeden Zweifel erhabene Auswahl der Beiträger unseres Erachtens genauso wenig möglich wie nötig ist. So kann eine Konstruktion organischer Ganzheiten und stringenter Kausalitäten auf biographischer Ebene oder innerhalb der weit verzweigten Forschungsliteratur nicht das Ziel eines Sammelbandes zu Texten eben jenes Dichters sein, der gerade durch paradoxale Schreib-Formen, durch die immer neue Infragestellung kohärenter, geschlossener Sinnsysteme oder durch eine zu Irritationen und Verzeichnungen führende offene Text-Struktur die permanente und neue Deutungen zeitigende Ré-lécture seiner Werke provoziert. (S. 8 f.)
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Niemand wird ernsthaft eine zweifelsfreie Kanonisierung der aktuellen Forschungsliteratur verlangen, wohl aber einen Einblick in die Gründe der präsentierten Auswahl. Dies mit der besonderen paradoxalen Schreibweise Kleists zu begründen, befreit nicht von der Aufgabe eines Herausgebers, seinen Lesern problemorientierte und in den Kontext der Wissenschaft eingebundene Fokussierungen zu bieten.

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Zur Beschränkung auf
literaturwissenschaftliche Fragestellungen

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Einsichtig erscheint die von den Herausgebern pointierte literaturwissenschaftliche Fragestellung, der theaterpraktische Erörterungen und Inszenierungen zu Kleist ebenso zum Opfer fielen wie medienästhetische, journalistische, musikhistorische oder bildkünstlerische Zugänge. 4 Das mag man bedauern, zumal beispielsweise die Inszenierungen des Regietheaters immer wieder Impulse für die Wissenschaft setzten, auch der interdisziplinäre Zugriff interessante Perspektiven zeitigte, doch in Anbetracht der Fülle der Kleistrezeptionen ist dieses Kriterium der Wahl verständlich.

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Die Beiträge des Bandes beschäftigen sich hauptsächlich mit der Novellistik und Essayistik des Kleistschen Werks, die dramatischen Texte hingegen sind nur selten als Schwerpunkt ausgewiesen (so etwa bei Wolf Kittler über den Prinz von Homburg und die Hermannsschlacht, bei Gernot Müller über die Penthesilea). Ob hier eine aktuelle Konjunktur des erzählerischen Werkes aufscheint und sich damit eine rezeptionsgeschichtliche Orientierung im Sinne eines modernen Kanonisierungsprozesses verrät, auch dies wird – leider – von den Herausgebern nicht weiter thematisiert. 5

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Dabei tritt der poststrukturalistische Ansatz der meisten Beiträge deutlich zu Tage: die potentiell unendlichen Bedeutungsvarianten, der über die Textintention hinausgehende Bedeutungsüberschuss, die Priorität der Schrift, die Unabschließbarkeit der kulturellen Zeichenaktivität und damit in summa das Versagen aller Sinn- und Deutungssysteme, letztlich die Uninterpretierbarkeit Kleistscher Texte. Für den Interpreten respektive Leser gibt es kein adäquates Textverstehen mehr: »Every reading is a misreading« (J. Culler). Umso schwieriger, bei solch überwiegend einhelligem, der Methode geschuldetem Fazit, die Einzelbeiträge entsprechend zu würdigen. Im Inhaltsverzeichnis chronologisch nach Erscheinungsdatum sortiert (1981–2001), genügt es durchaus nicht, wenn die Herausgeber einzig »die Bewegung der Auseinandersetzung mit den Texten« (S. 10) statuieren:

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Ausgehend von der Faszination einer scheinbar deutlichen [...] Text-, Handlungs- oder Figurenkonstellation wird der Versuch unternommen, entweder mit einer detailgenauen motivischen oder ästhetisch-strukturellen Analyse das Unbeschreibbare so präzise wie möglich zu um-schreiben oder aber die Textur heuristisch so ›sinnvoll‹ wie möglich um-zu-schreiben, zu interpretieren, um letztlich doch das Versagen aller Sinn- und Deutungssysteme konstatieren zu müssen. (S. 10 f.)
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Der gemeinsame Bezugspunkt vieler Beiträge liegt über solche Herangehensweise hinaus in der Rekonstruktion der impliziten anthropologischen Versuche und Reflexionen des Kleistschen Werks selbst, dem prekären Verhältnis von Schreiben, Sprechen, Lesen, Sehen, Wahrnehmen und der Registratur seiner literarischen Strategien und ihrer genuin poetischen Verwendungsweisen, an deren Ende allerdings neben der Vielzahl von Teilbefunden und ihrer historischen Kontextuierung vor allem die Krisen jeder Erkenntnis stehen.

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Schreiben, Sprechen,
Lesen, Sehen, Wahrnehmen

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So überzeugen die Beiträge von Gernot Müller »Die Penthesilea als poetisches Programm« (1995) und von László Földenyi »Grazie/Schlüsselloch« (1999), die sich beide dem Gesichtssinn, dem Akt des Sehens widmen. Müller untersucht die Penthesilea als Hauptwerk der Phöbus-Journal-Phase und fragt nach der dort propagierten Verbindung der Künste. In konzisen Untersuchungsschritten verfolgt er die Kleistschen Bildverweise: Gemäldeallusionen der Tragödie, emblematische picturae, der Bildmythos von Pygmalion und das Bildelement des Panoramas. »So bildet die Teichoskopie des 3. Auftritts dadurch die Gelenkstelle des gesamten dramatischen Geschehens, als [sic] sie als Einzelszene paradigmatisch das ›Musternetz‹ der Tragödie durchspielt« (S. 101). Als Urbild solchen Netzes gilt Müller Breysigs Rundgemälde, das 1800 auf dem Berliner Gendarmenmarkt das antike Rom nachstellte.

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Geht es Müller um den panoramatischen Blick, dem das Ferne wie Nahe gleichermaßen unterliegt, so geht es Földenyi um die eingeschränkte Perspektive des Schlüssellochs, die nichtöffentliche, erotische Situationen festzuhalten versucht. Hier – vor dem Schlüsselloch in den Kleistschen Texten – verweise der Autor auf den Erzähler, der Erzähler auf die Figur, die Figur auf den fiktiven Leser und der fiktive Leser auf den wirklichen (vgl. S. 155). Der Erzähler, so resümiert Földenyi, ist genauso ratlos wie seine Figuren. Die vermeintliche Objektivität des Sehens und die scheinbare Faktizität des Gesehenen gehen unter in einer Polyphonie der Stimmen und Figuren. Nicht nur was man sieht, auch wie man sieht, wird zum entscheidenden Kriterium. Entsprechend manifestiert sich die Unzuverlässigkeit der fiktiven Welt in der »Gebrechlichkeit der Darstellungs- und Sichtweise selbst« (S. 163).

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»Lesen, wenn es einer Logik der Unterscheidbarkeit folgt, hat allemal teil an einer Tradition, die den Blick privilegiert« (S. 117). Um Lesen, genauer um »Kleists Paradoxien des Lesens« geht es in Bianca Theisens Beitrag (1996), der vor allem durch die genaue und sensible Lektüre von Kleists Bildbeschreibung von Caspar David Friedrichs Seelandschaft Der Mönch am Meerüberzeugt. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist der paradoxale Gehalt Kleistscher Bilder als Kompositionsprinzip aller seiner Texte. Jede Zuschreibung resp. Festschreibung von Sinn ist für sie trügerisch, denn bei Kleist gehe es darum, »daß der Leser – oder vielmehr das Lesen – seinerseits als Textstrategie vom Text schon mitentworfen wird« (S. 112). Deswegen »bieten Kleists Texte ihren Lesern Leerstellen an, die nicht als vorstrukturierte implizite Leseanweisung zu verstehen sind, sondern die Leser auf ihre eigenen blinden Flecke, auf ihren eigenen Umgang mit unterscheidungsgeleitetem Beobachten hinweisen« (S. 113).

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Hermeneutische Sinnkonstruktionen, »Re-Semantisierungen« (S. 118) sind bei Kleist nicht mehr möglich. Vielmehr ist für Theisen das Kleistsche Spiel mit Unterscheidungsparadoxien der eigentliche Grund für die extrem differenten Interpretationen, die ihn wahlweise als preußischen Junker, Rebell, Aufklärer, Romantiker und Modernen vereinnahmen (vgl. S. 118). Die grundlegende These der Autorin von der Unendlichkeit des Textes treibt den Leser in Suchbewegungen, die ihr Ziel allerdings nicht mehr innerhalb des Werkes selbst finden.

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Auch Bernhard Greiners Studie »Mediale Wende des Schönen – ›freies Spiel‹ der Sprache und ›unaussprechlicher Mensch‹. Über die Allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden. Brief eines Dichters an einen anderen« (2000) vermisst akribisch genau Kleists Vielschichtigkeit, indem er dessen Auffassung einer pragmatischen und semantischen Ebene von Sprache untersucht. Ein Paradigma gelingenden Sprechens stellt für Greiner Kleists Aufsatz Über die Allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden dar. Zuhörer und Gegenstand der Rede sowie die Selbsterfahrung des Redenden in einer egalitären Gesprächssituation beflügeln das ›produktive‹, am Modell des Genies orientierte Sprechen. Damit etabliere Kleist letztlich Kants Entwurf des Schönen (vgl. S. 167). Auf semantischer Ebene jedoch führt der Versuch einer Überwindung der Opposition von Geist und Buchstabe zum »Paradigma mißlingenden Sprechens bzw. der Unaussprechlichkeit« (S. 173).

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Um intersubjektive und um historische Wahrnehmung dagegen geht es Gerhard Neumann in seiner Studie »Anekdote und Novelle: Zum Problem literarischer Mimesis im Werk Heinrich von Kleists« (2000) am Beispiel der Novelle Die Verlobung in St. Domingo. Wahrnehmungsaugenblicke, Erkennungsmuster, Erkundungen und Blickwechsel versuchen sowohl die Zeit der Französischen Revolution wie das geliebte Gegenüber zu lesen. Beides vergebens, wie Neumann resümiert und auf den Erzählakt selbst ausweitet, denn weder kann die Geschichte des Subjekts noch die historische Zeit erzählt werden: » Namensdiffusion, als das Brechen des Namens-Signifikanten, der Einheit verspricht, und Erzähldiffusion, als die Zersetzung des sinnstiftenden Erzählaktes, erscheinen dabei streng und poetologisch konsequent aufeinander bezogen« (S. 197).

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Wie ein Fremdkörper nimmt sich in der Gesamtheit der Beiträge Günter Blambergers motivgeschichtlich motivierte Untersuchung »Agonalität und Theatralität. Kleists Gedankenfigur des Duells im Kontext der europäischen Moralistik« (1999) aus, denn im Unterschied zu den anderen Interpreten hält er die Rätselhaftigkeit des Kleistschen Werkes für durchaus auflösbar. Blamberger stellt Kleist in die Nachfolge von Machiavelli, Gracián, Castiglione, Montaigne und La Rochfoucault. Wie diese bevorzuge Kleist mit Essay, Anekdote, Fallbeschreibung, Aphorismus, Paradoxe und brieflicher Konfession offene Formen; wie diese sei er eher Verhaltensforscher als Philosoph; wie bei diesen schließlich herrsche auch bei ihm das Gesetz der Variation, denn kein menschlicher Fall gleiche dem anderen (vgl. S. 143).

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Am Beispiel verschiedener Essays, der Penthesilea und des Findlings weist Blamberger nach, dass Kleists Figuren über die bürgerliche Idee einer Herzenssprache und – in Notsituationen – über aristokratische Verhaltenslehren der Kälte verfügen, deren kontrolliertes Taktieren, das bewusste Spiel mit Sein und Schein, überhaupt erst eigene Autonomie ermöglicht. Kleists konservative Sehnsucht nach vormodernen Einheitserfahrungen ist für Blamberger Effekt der Konfrontation mit der Moderne und ihrem inhärenten Mangel. Solche Ungleichzeitigkeiten feudaler und moderner Zeichenordnungen konstatierend, kommt er zu dem Schluss: »So modern, wie ihn manche Interpreten immer wieder machen wollen, denkt er im Grunde gar nicht« (S. 144), daher könnten Textchiffrierungen durchaus lesbar gemacht werden.

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Nur anzumerken bleibt, dass der Beitrag von Roland Reuß »Die Verlobung in St. Domingo – eine Einführung in Kleists Erzählen« (1988) letztlich eine dezidierte Erläuterung und Legitimierung der Richtlinien der Brandenburger Kleistausgabe darstellt, deren verdienstvoller Mitherausgeber er ist. Ebenso zu vermerken bleibt der grundsätzliche Gewinn durch die aktuellen Forschungsberichte von Justus Fetscher, Birgit Hansen und Bernd Hamacher. Sowohl Edition wie bibliographische Aufarbeitung sind unabdingbare Grundlagen der Forschung, eine conditio sine qua non, was in heutigen Zeiten zunehmend knapper Forschungsmittel nicht genügend betont werden kann.

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Fazit

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Eine Sinnaussage mit eindeutig ethisch-moralischem Gehalt, das zeigt die hier versammelte Forschungsliteratur der letzten 20 Jahre, ist den Texten Kleists nicht zu entnehmen. Statt dessen erfährt sein genuin poetisches Sprechen erhöhte Aufmerksamkeit. Alle Einzelbeiträge haben das Ziel, die paradoxale Struktur der Texte nachzuzeichnen und die damit verbundenen Irritationen zu klären. Trotz des theoriegesättigten Zugangs werden noch die abstraktesten Figuren aus der immanenten Poetik des Textes entwickelt, so dass die meisten Beiträge eine stupende Textnähe auszeichnet. Die Interpretationen zu den einzelnen Werken können als Differenzierungsmodule gelesen werden, die sich wechselweise ergänzen, mitunter auch im Ergebnis widersprechen, je nach dem Fokus ihres Frageinteresses – da unterscheidet sich eben dekonstruktivistische von semiotischer Lektüre.

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Eine Einschränkung scheint dennoch angebracht: Aufgrund der anfangs bemängelten Sortierung der Einzelbeiträge, der nicht geleisteten Exponierung von leitenden Fragestellungen und der fehlenden Begründungen der Beitragswahl bleiben viele Fragen offen. Darf der Leser die poststrukturalistische Herangehensweise der vorliegenden Beiträge als generelle oder zumindest überwiegende Tendenz der Forschung verstehen? Warum gibt es keine gendertheoretisch argumentierenden Beiträge, die die historischen Geschlechterparadigmen vermessen? Wo bleibt die Zeitgenossenschaft Kleists etwa zu einem Goethe, Schiller, Kant? Wo die Aufklärungskritik, das Wörtlichnehmen der zeitgenössischen Postulate zum Zwecke ihrer Destruktion? Dies zu klären wäre eine wichtige Aufgabe der Herausgeber gewesen.


Dr. Elke-Maria Clauss
Carl von Ossietzky Universität
Fakultät III Sprach und Kulturwissenschaften, Institut für Germanistik
Ammerländer Heerstr. 114-118
DE - 26111 Oldenburg

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Ins Netz gestellt am 25.04.2004

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. phil. habil. Johannes Endres. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Natalia Igl.

Empfohlene Zitierweise:

Elke-Maria Clauss: Textspuren. (Rezension über: Inka Kording / Anton Philipp Knittel (Hg.): Heinrich von Kleist. Neue Wege der Forschung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003.)
In: IASLonline [25.04.2004]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=615>
Datum des Zugriffs:

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Anmerkungen

Rudolf Loch: Kleist. Eine Biographie. Göttingen: Wallstein Verlag 2003. – Henning Boetius: Tod am Wannsee. Gifkendorf: Merlin-Verlag 2002.    zurück
Walter Müller-Seidel (Hrsg.): Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1967. – Ders. (Hrsg.): Kleists Aktualität. Neue Aufsätze und Essays 1966–1978. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1981.   zurück
Walter Müller-Seidel: Einleitung S. VII. In: Ders. (Hrsg.), Heinrich von Kleist. Aufsätze und Essays. (Anm. 2)   zurück
Einen Einblick in die Vielfalt der Kleist-Rezeption bietet der Katalog der neuen Dauerausstellung des Frankfurter Kleist-Museums. Vgl. Wolfgang Barthel und Hans-Jochen Marquardt (Hrsg.): Heinrich von Kleist. 1777–1811. Leben, Werk, Wirkung, Blickpunkte. Frankfurt/Oder 2000.   zurück
Vgl. dazu die neue Publikation von Annett Lütteken: Heinrich von Kleist – eine Dichterrenaissance. Tübingen 2003.   zurück