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Liaisons dangereuses?

Anmerkungen zu dem von Nicholas Saul herausgegebenen Band Philosophy and German Literature, 1700-1990

  • Nicholas Saul (Hg.): Philosophy and German Literature, 1700-1990. (Cambridge Studies in German) Cambridge: Cambridge University Press 2002. 336 S. Hardback. GBP 47,50.
    ISBN: 0-521-66052-1.
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Komplexe Beziehungen:
Philosophie und deutsche Literatur im Dialog

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Es gibt Unternehmungen, welche die deutsche Germanistik scheut – und das mit guten Gründen. Eine Überblicksdarstellung des hochkomplexen Verhältnisses von Philosophie und deutschsprachiger Literatur seit der Aufklärung auf rund dreihundert Seiten zu wagen, ist sicherlich ein solches Projekt. Es noch nicht allzu lange her, daß mit gewichtigen Argumenten gegen die Gattung der Literaturgeschichtsschreibung gravierende und nicht leichtfertig zu entkräftende Einwände erhoben worden sind. Gleiches gilt für die Darstellung der Philosophie im Sinne eines »grand récit«. Neben den methodischen Vorbehalten die einzelnen Disziplinen betreffend ergeben sich auch Probleme hinsichtlich der Fragestellung, in welcher Weise sich Literatur auf Philosophie bezieht bzw. überhaupt beziehen läßt, wenn man nicht ins obsolete Paradigma neopositivistischer Einflußforschung zurückfallen will. Und ein weiterer Aspekt läßt sich nicht vernachlässigen, denn mit der Rezeption philosophischer Texte durch Autoren verhält es sich nicht anders als mit ihrer Rezeption von literarischen Texten: Nicht immer gilt ihre primäre Aufmerksamkeit den Werken ihrer Zeitgenossen und Landsleute; vielfach sind es historisch entlegenere Denker, welche formative Eindrücke hinterlassen. Um ein Beispiel zu geben: Suchte man etwa nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner bei Lessing, Goethe, den Jenaer Romantikern, Berthold Auerbach, Nietzsche und Celan (um nur einige wenige zu nennen), so wäre er wohl in ihrer aller Spinoza-Verehrung zu finden, wenngleich dessen konkrete Rezeption bei jedem der Genannten höchst individuell konturiert ist.

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Das Nichtvorhandensein einer solchen Gesamtdarstellung des Dialogs der deutschsprachigen Literatur mit der Philosophie seit dem Beginn der Aufklärung, wie dies der Herausgeber Nicholas Saul in seiner Einleitung konstatiert (S. 2), liegt also nicht zuletzt im Gegenstand selbst wie in den damit verbundenen methodischen Schwierigkeiten begründet. Zumindest die Kontur dieses Dialogs in seinen jeweiligen epochalen Erscheinungsformen in den Blick zu bekommen und nachzuzeichnen, ist das ambitionierte Anliegen dieses Bandes:

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This volume thus seeks for the first time, not merely to reflect philosophically on what literature is, and so make one more contribution to literary theory, but to reconstruct, analyse and evaluate how poets and philosophers in Germany really did interact with one another through their writings, epoch by epoch, in the modern period as a whole. (S. 2)
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Für dieses Projekt konnte der Romantik-Forscher Saul mit John A. McCarthy, John Walker, Ritchie Robertson, Russell A. Berman und Robert C. Holub international renommierte Fachkollegen aus England und den USA als Beiträger gewinnen, allesamt durch zahlreiche Publikationen für die jeweils von ihnen im Band bearbeiteten historischen Segmente ausgewiesene Experten.

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Auf der Suche nach Epochensignaturen

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Der Band teilt sich in sechs Abschnitte, wobei je ein größerer epochaler Zusammenhang in den Blick genommen wird: Aufklärung, Klassik und Romantik (1790–1830), Realismus (1830–1890), Modernismus (1890–1924), die Zeit von der Weimarer Republik bis zum Ende des Nationalsozialismus (1918–1945) und die Nachkriegszeit. Bereits diese Einteilung verweist deutlich auf die Heterogenität der Kriterien, die ihr zugrunde liegen und die in angelsächsisch-pragmatischer Manier nirgends prinzipiell reflektiert und erörtert werden, sondern sich vielmehr aus den jeweiligen Ansätzen der einzelnen Bearbeiter ergeben. Daß sich hierbei gerade hinsichtlich der Darlegung von philosophischen Werken und Ideen zwangsläufig Überschneidungen ergeben, ist evident. So kann ein Kapitel, welches sich mit dem Verhältnis von Philosophie und Literatur während der Aufklärung befaßt, ebensowenig auf eine prinzipielle Erörterung der Kantschen Philosophie verzichten wie eines zur Zeit zwischen 1790 bis 1830. Ähnliches gilt etwa auch für Schopenhauer und Nietzsche in der Zeit vor und nach 1890.

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Aufklärung, Klassik und Romantik

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Eine solche Darstellungsweise auf einigermaßen knappen Raum verlangt natürlich nach der Setzung von Dominanten. Daß diese Dominanten gerade in den ersten beiden Kapiteln besonders überzeugen, kann nicht überraschen, da vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zum Ende der Goethezeit der Dialog zwischen Philosophie und Literatur nicht nur außergewöhnlich intensiv, sondern auch wesentlich systematischer als in späteren Epochen, gedeckt durch gemeinsame Referenzhorizonte, geführt wurde. So verfolgt John A. McCarthy im Eingangskapitel »Criticism and experience: philosophy and literature in the German Enlightenment« (S. 13–56) die Formierung und das ›Bündnis‹ von Philosophie und Literatur unter der Perspektive der programmatischen Schaffung von erkenntnistheoretisch wie -praktisch fundierten Mitteln, »epistemic tools for exploring the self, the limits of knowledge, the vocation of man, the inner workings of nature, for explaining the body-mind problematic and for establishing the appropriate relationship between individual freedom and social duty« (S. 21).

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McCarthys beeindruckend kenntnisreiche und ungemein differenzierte Darstellung – neben Nicholas Sauls Kapitel zur klassisch-romantischen Periode eines der Glanzstücke des gesamten Bandes – zeichnet die Dynamik des Prozesses der Diskursformation aufklärerischer Philosophie und Literatur nach. McCarthy beginnt nach einer das Terrain vermessenden Präambel mit der Erörterung der Leibnizschen Philosophie und ihrer Popularisierung durch Wolff und endet mit einem Ausblick auf das Weiterwirken aufklärerischer Positionen beim reifen Goethe. Dabei gelingt es ihm, nicht nur den Transfer philosophischer Ideen in die sich ausbildende neue Wissenschaft der Ästhetik (etwa bei Gottsched, Bodmer und Breitinger) und in poetische Werke von Hallers Versuch Schweizerischer Gedichte bis zu den Dramen der Stürmer und Dränger minutiös nachzuweisen, sondern auch scheinbar irrationalistisch-antiaufklärerische Tendenzen auf die Dynamik des aufklärerischen Prozesses überzeugend zurückzuführen. Dies geschieht etwa am Beispiel der Grundlegung der Sturm-und-Drang-Ästhetik durch Hamann und Herder, in der McCarthy eine Radikalisierung von Positionen erkennt, die bei Leibniz, Shaftesbury, Montesquieu und Rousseau vorgeprägt sind (S. 46). Die Tendenz, Sturm und Drang nicht als antiaufklärerische Bewegung, sondern als radikalisierte Aufklärung zu betrachten, entspricht ja durchaus der neueren Forschung zu diesem Gebiet.

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Sieht McCarthy während der Aufklärung eine enge Kooperation zwischen den philosophischen und literarischen Diskursmodi, so konstatiert Nicholas Saul in dem Kapitel »The pursuit of the subject: literature as critic and perfecter of philosophy 1790–1830« (S. 57–101) für die klassisch-romantische Periode eine zunehmende Konkurrenzsituation. Ausgangspunkt hierfür ist natürlich die um 1790 einsetzende Auseinandersetzung mit und Kritik an der Philosophie Kants, die zum einen in Schillers klassizistischer Programmatik einer ethisch motivierten Ästhetik, zum anderen in Fichtes Wissenschaftslehre mit ihrer für die nachfolgende Romantikergeneration so enorm prägenden Neubestimmung des Subjektbegriffs erste Kulminationspunkte erreicht. Bedingt nicht zuletzt durch die emphatisch postulierte Autonomieästhetik und ihre Folgen für die hermeneutische Praxis sowie durch den Universalitätsanspruch der frühromantischen theoretischen und poetischen Texte, setzt sich die Literatur als Medium von Weltrepräsentation und Welterkenntnis immer stärker in Konkurrenz zur Philosophie. Nicht zu unrecht bemerkt Saul in Hegels Abwertung der romantischen Poesie gegenüber der Philosophie in dessen dialektischem Kultur- und Geschichtsentwurf gegen Ende der Periode ein vielleicht strategisch bedingtes Verkennen der Leistungen romantischer Dichtung.

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Realismus (1830–1890)

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Für die Zeit von 1830 bis 1890 ist das Verhältnis zwischen Literatur und Philosophie deutlich schwerer zu bestimmen. Der Fokus von John Walkers Darstellung der Periode liegt daher auch eher auf dem Auseinanderdriften von philosophischem Diskurs einerseits, der vor allem von den unterschiedlichen Schulen der Hegel-Nachfolge dominiert wird, und der literarischen Praxis der Wirklichkeitsdarstellung der Realisten andererseits, so daß Walker in dieser Hinsicht von »[t]wo realisms« (S. 102) spricht. Einmal mehr bemüht Walker dabei die vielbeschworene These vom »deutschen Sonderweg«. Hinzu kommt, daß eher singuläre philosophische Erscheinungen wie Schopenhauer und Feuerbach zwar wesentlich für das Schaffen einzelner Autoren – etwa Raabes und Kellers – sind, aber (noch) nicht auf eine größere Gemeinde von Schriftstellern wirken. Erst gegen Ende der Epoche mit dem aufkommenden Naturalismus läßt sich wieder ein breiter akzeptierter philosophischer Referenzrahmen konstatieren, nun vor allem geprägt durch die neuen natur- und gesellschaftswissenschaftlichen Ansätze von Darwin, Taine, Comte, Marx u.a.

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Modernismus, Weimarer Republik
bis zum Ende des Nationalsozialismus (1890–1945)

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In der Abgrenzung der beiden folgenden Beiträge von Ritchie Robertson und Russell A. Berman sowie der von ihnen jeweils gewählten Fokussierung offenbart sich – nicht nur durch die teilweise zeitliche Überlappung – die Schwierigkeit einer solchen Einteilung. Robertson behandelt die Zeit von 1890 bis 1924 (dem Erscheinungsjahr von Thomas Manns Roman Der Zauberberg) unter der kardinalen Fragestellung der modernen Ich-Problematik (S. 150–196), wobei ihm eine überzeugende Differenzierung der einzelnen Problemstränge und Ich-Konzeptionen gelingt. Überzeugend ist auch Robertsons Darstellung der hochgradig selektiven Rezeption komplexer philosophischer Konstrukte durch die Autoren, wobei Robertson zurecht die Kluft zwischen zeitgenössischer akademischer Philosophie und der literarischen Beschäftigung mit philosophischen Texten etwa Schopenhauers, Nietzsches oder Machs betont. Berman hingegen konzentriert sich in seinem Kapitel »The subjects of community: aspiration, memory, resistance 1918–1945« (S. 197–244) auf die soziologischen, politischen und ideologischen Aufladungen von Philosophie und Literatur dieser Zeit.

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Es ist jedoch evident, daß weder die modernistische Ich-Problematik, die Dekonstruktions- und Rekonstruktionstendenzen, in der deutschsprachigen Literatur nach 1924 verschwinden – einige der bedeutendsten Texte hierzu wie Musils Mann ohne Eigenschaften oder Brochs Schlafwandler-Trilogie sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschrieben –, noch beginnt die Wendung zum Gesellschaftlichen in Philosophie und Literatur mit dem Ende des Kaiserreichs. So ist es bezeichnend, daß wesentliche Bezugtexte, die Berman bespricht, wie etwa Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, deutlich vor der politischen Zäsur von 1918 liegen; gleiches gilt für die von ihm angeführten Texte der Expressionisten und teilweise auch der Dadaisten.

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Nachkriegszeit

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Die Ausführungen des in Stanford lehrenden Germanisten Robert C. Holub zur Periode nach 1945 fokussieren, wie schon die Kapitelüberschrift »Coming to terms with the past in postwar literature and philosophy« (S. 245–290) anzeigt, die Frage nach der Vergangenheitsbewältigung bzw. dem Umgang mit der hochgradig belasteten Vergangenheit, der NS-Zeit und vor allem den Verbrechen des Holocaust, im deutschen Kulturleben. Holub differenziert zunächst anhand dreier prominenter Beispiele paradigmatische Formen der Reaktion auf die Greuel der NS-Zeit: Horkheimer und Adornos Dialektik der Aufklärung, Jaspers Essay Die Schuldfrage und Heideggers Schweigen, seine Weigerung, sich mit seinen eigenen Verstrickungen während der ersten Phase des Dritten Reiches auseinanderzusetzen. Er demonstriert anhand der Debatten der achtziger und frühen neunziger Jahre, vom Historikerstreit bis zur Holocaust-Mahnmal-Diskussion, das Fortwirken dieses Komplexes bis in die Zeit nach der deutschen Einheit, wobei Holub etwa durchaus Habermas’ Vorbehalte gegen poststrukturalistische Positionen, den Verdacht, sie würden immanent antiaufklärerisch-reaktionäres Gesinnungsgut befördern, teilt. Bei der Binnengliederung seines Artikels ergeben sich nicht immer ganz glückliche Verbindungen, wie etwa die Zwischenüberschrift (S. 272) »The other Germany: the GDR and women« (eine Kategorie?) erkennen läßt. Auch ließe sich über manche Übersetzung streiten, wie z.B. die Wiedergabe des Untertitels von Peter Weiss’ Stück Die Ermittlung, »Oratorium in elf Gesängen«, als »Oratorio in eleven songs«, wo vielleicht – gerade mit Blick auf die Bedeutung Dantes für Weiss –»cantos« für Gesänge – trotz des »Oratoriums« – angemessener gewesen wäre.

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Es ist bei einem solchen Werk allzu leicht, beckmesserisch fehlende Hinweise auf Autoren und Texte zu inkriminieren, die man selbst als relevant für das Thema und seine Darlegung erachtet, denn Vollständigkeit kann es bei einer solchen Konzeption (und nicht nur hier) nicht geben; dies gilt in besonderer Weise für die jüngere und jüngste Vergangenheit, wo Materialreichtum und klärende wissenschaftliche Aufarbeitung einen ungünstigen Koeffizienten ergeben. Trotzdem ist man erstaunt, daß sich in Holubs Darstellung, die unter dem Motto »coming to terms with the past« firmiert, kein Hinweis auf denjenigen Prosaautor findet, dessen zentrales Thema der unauflösliche Konnex von Vergangenheit und Gegenwart Deutschlands gewesen ist: Uwe Johnson. Dies verwundert umso mehr, als Johnsons Hauptwerk, die Jahrestage, sich als perfektes Exempel für Holubs Argumentation einer notwendigen Persistenz des Erinnerungs-Komplexes geradezu angeboten hätte.

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Erwähnenswert wäre noch das dem Band beigefügte Register, welches neben Personen auch zahlreiche Sachbegriffe enthält und dem Benutzer somit das Auffinden von Querbezügen thematischer oder begrifflicher Art in den einzelnen Abschnitten erheblich erleichtert.

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Resümee

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Bei allen möglichen Einwänden gegenüber der Methode, der historischen Einteilungen und einzelner Momente der Darstellung etc. hat dieses Buch seine Meriten. Zunächst einmal – und hier läßt sich wohl auch die primäre Intention des Herausgebers und der Autoren unschwer vermuten – bietet der Band ausländischen Germanistikstudenten einen ersten, gut lesbaren Einstieg in die komplizierte Materie. Diese werden nicht zuletzt von der knappen Skizzierung wesentlicher, die deutsche Kulturgeschichte prägender philosophischer Theoreme und Zusammenhänge profitieren, da ein fundiertes Vorwissen im Bereich deutscher Philosophie bei diesen Rezipienten kaum vorausgesetzt werden kann. Schon dieser Vorzug sollte nicht zu gering geschätzt werden.

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Ein zweites, auch für die wissenschaftliche Diskussion relevantes Verdienst könnte sich aus der Konzeption der Darstellung ergeben: Indem die Autoren bei ihren Darstellungen – nicht zuletzt auch Sachzwängen wie etwa dem Umfang geschuldet – ganz dezidierte Schwerpunkte hinsichtlich der Leitfragen bzw. Leitkomplexe einer jeweiligen ›Epoche‹ setzen, fordern diese, ebenso wie die historischen Einteilungen selbst, natürlich zu einer kritischen Überprüfung heraus. Dies ist – gerade vor dem kulturwissenschaftlichen Horizont – allemal fruchtbarer (und hier führt sich der Rezensent mitsamt seinem Genre gewissermaßen selbst ad absurdum), als sich zu lange damit aufzuhalten, etwaige Lücken oder Fehler im Detail zu monieren.