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Ein blinder Fleck der deutschen Kulturgeschichtsschreibung

Zur neueren Metastasio-Forschung (mit einigen grundsätzlichen Überlegungen)

  • Laurenz Lütteken / Gerhard Splitt (Hg.): Metastasio im Deutschland der Aufklärung. Bericht über das Symposium Potsdam 1999. (Wolfenbüttler Studien zur Aufklärung 28) Tübingen: Max Niemeyer 2002. XI, 251 S. 10 s/w Abb. Kartoniert. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 3-484-17528-1.

Weitere in der Rezension berücksichtigte Titel

Andrea Sommer-Mathis / Elisabeth Theresia Hilscher (Hg.): Pietro Metastasio – uomo universale (1698–1782). Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 300. Geburtstag von Pietro Metastasio (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte Bd. 676). Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 2000.

Mario Valente (Hg.): Legge Poesia e Mito: Giannone Metastasio e Vico – fra »tradizione« e »trasgressione« nella Napoli degli anni venti del Settecento (atti del Convegno internazionale di studi, Palazzo Serra di Cassano, Napoli 3–5 marzo 1998). Saggio introduttivo di Giuseppe Galasso. Roma: Aracne 2001.

Elena Sala Di Felice / R.M. Caira Lumetti (Hg.): Il melodramma di Pietro Metastasio – la poesia la musica la messa in scena e I’opera italiana nel Settecento (atti del convegno internazionale di Studi, Roma, 2–5 dicembre 1998). Roma: Aracne 2001.

Francesco Paolo Russo (Hg.): Metastasio nell‘Ottocento (atti del convegno di studi, Discoteca di Stato, Roma, 21 settembre 1998). Roma: Aracne 2003.

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Im Januar 1698 wurde in Rom Antonio Domenico Bonaventura Trapassi geboren. Unter diesem Namen kennt ihn fast niemand. Als Pietro Metastasio allerdings wurde er weltberühmt, und 1998 wäre sein 300-jähriger Geburtstag zu feiern gewesen. Das taten die Italiener pünktlich mit drei Tagungen in Neapel und Rom, in deren Umkreis auch mehrere Opern und Oratorien Metastasios wieder aufgeführt wurden; die Österreicher brachten immerhin einen Sammelband mit diversen Aufsätzen heraus. In Deutschland fand am 8. und 9. Juli 1998 eine Tagung in Halle a. d. Saale statt, deren Referate im Händel-Jahrbuch 45 (1999), S. 8–219 abgedruckt wurden. Völlig unabhängig davon fand in Potsdam – allerdings mit über einem Jahr Verspätung – ein Symposium statt, dem ein knapp 250-seitiger Tagungsbericht und eine Sammlung von Aufsätzen folgte.

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Vom 3. bis 5. März 1998 tagte man in Neapel. Daraus entstand der umfangreiche Band Legge Poesia e Mito mit 18 der dort gehaltenen Vorträge. Im Zentrum der Untersuchungen stand das Neapel der 20er Jahre des 18. Jahrhunderts, in stetem Bezug auf Metastasio, der in dieser Zeit in Neapel seine literarische (und gesellschaftliche) Karriere begann. Am 21. September 1998 traf sich eine Gruppe von Wissenschaftlern in Rom zu einer Tagung, die sich mit der Metastasiorezeption ab etwa 1770 beschäftigte: Metastasio nell’Ottocento. Vom 2. bis 5. Dezember 1998 wurde wiederum in Rom getagt. Der Berichtsband trägt den Titel Il melodramma di Pietro Metastasio. In sieben Sektionen mit 36 Beiträgen wurden abgehandelt:

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1. Probleme der Poetik und Dramaturgie der Oper

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2. Strukturprobleme, behandelt überwiegend am Beispiel einzelner Stücke: der Feste teatrali aus den Jahren 1720–1722, der Forza della virtu von Dom. David im Vergleich mit dem Siface von Metastasio; des Demetrio, der Olimpiade und des Demofoonte

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3. Aspekte der Inszenierung

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4. Musik

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5. Bühnenbild und Textillustrationen

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6. Metastasio und seine Kritiker

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7. Wirkungsgeschichte

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In Österreich kam es nicht zu einer Tagung, die Akademie der Wissenschaften brachte aber im Jahr 2000 eine Sammlung von Aufsätzen heraus: Pietro Metastasio – uomo universale (1698 –1782). Hier wurde die Arbeit aus Neapel und Rom fortgesetzt und erweitert insbesondere um Untersuchungen zur Wirkungsgeschichte. Daneben treten Darstellungen der Wiener Verhältnisse im Umkreis der Metastasianischen Opernaufführungen.

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Die deutsche Metastasio-Forschung

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1999 wurde auch in Potsdam ein Symposium gefeiert, dessen Vorträge 2002 unter dem Titel Metastasio im Deutschland der Aufklärung publiziert wurden. Weist schon die etwas verspätete Terminierung der Potsdamer Tagung auf ein nach Norden schwindendes Interesse an Metastasio, so auch der handliche Umfang des Berichts. In dem von beiden Herausgebern unterzeichneten Vorwort finden diese es »erstaunlich«, daß Metastasio von Goethe in einem Brief an den Komponisten Philipp Christoph Kayser »ohne großes Zögern« als Vorbild einer ernsten deutschsprachigen Oper genannt werde. Jedoch ergebe eine »flüchtige Prüfung«, daß Metastasio »in jenen Zentren, die man gemeinhin der nord- und mitteldeutschen Aufklärung« zurechne, »überaus präsent« gewesen sei (S. VII). Dafür wird je ein Zeuge aus Göttingen, Leipzig und Hamburg angeführt, deren Urteile die Herausgeber »um so verblüffender« finden, als Metastasio oder das dramma per musica gerade in diesen Städten keine große Bedeutung gehabt habe – was sicher stimmt, die Zeugen aber auch nicht gerade repräsentativ für das »Deutschland der Aufklärung« macht. Göttingen hatte kein Opernhaus, aber immerhin ein (oder zwei) Leute, die Metastasio zitieren konnten; die Hamburger Bühne war für das Musiktheater spätestens seit den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts verloren, es gab aber noch einen Zeugen, der Oratorien von Metastasio übersetzt hat; und in Leipzig ließ man sich die Opern aus Dresden liefern – auch das keine besonders gute Ausgangslage, um den Zeugen für die Bedeutung Metastasios eine überzeugende Statur zu verleihen.

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Ob also die drei nominierten Zeugen Schiebeler, Schubeck und Reichardt wirklich als repräsentativ für die norddeutsche Aufklärung, die Aufklärung in Deutschland, oder ihre »gemeinhin« als solche gedachten Zentren gelten können, scheint mir zweifelhaft. Immerhin soll die »Präsenz Metastasios in der nord- und mitteldeutschen Aufklärung« eine »eigenartige Präsenz« gewesen sein (S. VIII), die nicht begründen könne, weshalb sich »ausgerechnet Musikwissenschaftler« um Metastasio kümmern: »denn Metastasio ist ein Dichter, ein italienischsprachiger dazu, und damit alles in allem gerade nicht disziplinär-musikologischer Forschungsgegenstand« (S. VIII). Diese Einstellung dürfte keine günstige Voraussetzung für die Arbeit mit einem Librettisten wie Metastasio bilden.

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Sodann wird festgestellt, daß die Libretti Metastasios auch kein »musikgeschichtlicher Gegenstand« seien. Auch stelle die »Italienischsprachigkeit« des habsburgischen Hofpoeten »ein besonderes Rezeptionsmoment dar, vielleicht auch eine Rezeptionsschwierigkeit« (S. IX). Schließlich wird der Leser informiert, daß die Referenten hier »Neuland« beschritten und deshalb auch nur »erste Pflöcke in ein weithin noch unbestelltes Areal« rammen könnten. Man habe sich bei der Beschäftigung mit Metastasio auf ein »Abenteuer« eingelassen (S. X). Das Vorwort vermittelt den Eindruck, als handele es sich bei Metastasio um einen im 18. Jahrhundert zwar bekannten Autor, dessen Texte auch von einigen Komponisten vertont wurden (genannt werden gerade vier, deren Teilhabe am »Deutschland der Aufklärung« zu erläutern gar nicht erst versucht wird), der aber dann irgendwie vergessen wurde und nun mit und seit dem Potsdamer Symposium innovativ entdeckt und aufmüpfig gegenüber vermeintlichen Fachbegrenzungen der Musikhistoriker wenigstens in Ansätzen frei gelegt würde.

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Das ist nicht nur in Anbetracht der in Neapel, Rom und Wien in den voluminösen Festschriften vorgelegten Forschungen einigermaßen verblüffend, sondern auch in Hinsicht der umfangreichen Arbeiten zu einzelnen Aspekten von Biographie und Werk Metastasios nicht haltbar. Die Standardwerke zur Musikgeschichte, die ich mich hier geniere, ausführlich zu zitieren (MGG in 1. und inzwischen 2. Auflage, New Grove, ebenfalls in 1. und 2. Auflage, New Grove Opera und Bassos großes italienisches Pendant sowie die von Silvio d’Amico initiierte Enciclopedia dello spectaculo), insbesondere der große Artikel von Don Neville in New Grove (2. Aufl., Bd. XVI) sowie die großartige Publikation von Claudio Sartori 1 , dann aber auch die vielen Arbeiten zur regionalen Operngeschichte, schließlich umfassende Untersuchungen zum Musiktheater insbesondere aus Amerika und nicht zuletzt die sich über mehrere Bände der Bibliographia Dramatica et Dramaticorum 2 erstreckenden Nachweise an Quellen – das alles spielt für die wenigsten Beiträge des Potsdamer Symposiums eine Rolle, wird nicht erwähnt und noch weniger in seiner ganzen Breite genutzt. Damit ist eine schöne (und ehrenhafte) Gelegenheit verpaßt, einen der bedeutendsten Dichter Deutschlands zu seinem 300-jährigen Geburtstag das verdiente Denkmal zu errichten. Wenn es denn wahr sein sollte (oder ist), daß die deutschen Musikhistoriker, Germanisten und Romanisten inzwischen nicht mehr wissen, wer Metastasio war, dann ist es vielleicht erlaubt, einiges jetzt dazu zu sagen, um die Beiträge des Potsdamer Bandes in den internationalen Kontext einzugliedern.

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Pietro Metastasio –
ein europäisches Phänomen als Problem der
deutschen Kulturgeschichtsschreibung

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Metastasio stand in einer langen Reihe von Librettisten, die seit dem 17. Jahrhundert in enger Zusammenarbeit mit den Wiener Hofkomponisten eine musikalische und theatralische Tradition etablierten, die über 150 Jahre stabiler und international bedeutender war als die der deutschsprachigen Literatur. Daß sie heute als »ausländisch« oder »fremdsprachig« qualifiziert wird und sogar für Musikwissenschaftler eine »Rezeptionsschwierigkeit« darstellt, weist auf grundsätzliche Mängel der historischen Forschung im Verlauf der Nationalisierung der deutschen Kultur während des 19. Jahrhunderts hin, die von einer entsprechenden nationalistischen Einstellung im wissenschaftlichen Lager flankiert wurde und gegenwärtig immer noch unterstützt wird. Das Italienische entwickelte sich seit dem 17. Jahrhundert zur Fachsprache der Musik (und damit auch der Oper) in der ganzen Welt, ist aber keine »Fremdsprache«. Es war eine der deutschen Nationalsprachen innerhalb des Reichs und insbesondere für die italienischen Besitzungen der Habsburger niemals eine »Fremd«-sprache.

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Bis zu seinem Tod im Jahr 1782 war Metastasio Hofpoet dreier deutscher Kaiser und schrieb insgesamt 27 Drammi per musica in tre atti, etwa 35 Azioni teatrali, 8 Oratorien und mehrere Serenate; daneben lyrische Gedichte u.a. – alles in italienischer Sprache. Wenngleich ein genauer Überblick über die Rezeption dieses für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich umfangreichen Œuvres noch nicht abgeschlossen ist, wissen wir aber mit Sicherheit, daß seine Texte in ganz Europa gespielt und gedruckt wurden, und zwar über eine Dauer von etwa anderthalb Jahrhunderten: Insgesamt dürften wir allein für das 18. Jahrhundert auf über 500 verschiedene europäische Drucke seiner Dramen kommen. Grob geschätzt haben mindestens 300 Komponisten seine Werke vertont, einige bis zu 15 seiner Drammi, so daß man auf etwa 1500 unterschiedliche Kompositionen der Operntexte Metastasios kommt – ohne Berücksichtigung der allein in Deutschland nachweisbaren mindestens 200 Übersetzungen oder Bearbeitungen für das reine Sprechtheater und die Schulbühnen, die es wohl auch für England und Frankreich gegeben haben dürfte.

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Das ist eine Rezeption, derentwegen allein Metastasio einen herausragenden Platz in der deutschen Literatur- und Kulturgeschichte, insbesondere aber auch der Musikgeschichte verdiente. Die Bedeutung Metastasios, wie sie in den Druck- und Vertonungslisten erkennbar wird, steht in krassem Gegensatz zur wissenschaftlichen Rezeption im deutschsprachigen Bereich. Es gibt bis heute nicht einmal eine in Deutschland oder Österreich veranstaltete Werkausgabe seiner Dramen.

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Metastasio ist eine in vieler Hinsicht faszinierende Person: ein Mythos seine Biographie, die immer wieder ans Wunderbare streift und den Beobachter immer wieder Gefahr laufen läßt, sie noch märchenhafter auszustaffieren, als sie wahrscheinlich schon verlaufen ist; ein Symbol deutscher Historiographie durch die Rigorosität, mit der man ihn aus der deutschen Geschichte verdrängt hat – ein europäisches Phänomen, mit dem die nationale Wissenschaft nicht fertig wird –, und auch ein Exempel für produktive Kulturpolitik und die Bedeutung von Kontinuität auf kulturellem Gebiet.

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Zur Biographie

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Geboren wurde er am 6. (oder 1.) Januar 1698 in Rom als zweiter Sohn des Felice Trapasso aus Assisi und seiner Frau Francesca, geb. Galasti, aus Bologna. Der Vater war Soldat, dann in mehreren Berufen tätig und schließlich Kaufmann. Die Familie kam aus beengten Verhältnissen nie heraus. Der Sohn Pietro zeigte schon bald literarisches Interesse und eine auffällige Fähigkeit, Verse zu machen. Er nutzte jede Gelegenheit, sich zu üben, zu improvisieren, mit und ohne Gesang. Eines Tages hörte ihn Gian Vincenzo Gravina, nahm den Jungen in seine Obhut und adoptierte ihn. Durch Gravina, vermögender Jurist und Junggeselle, erhielt Pietro eine umfassende Erziehung und Ausbildung, wurde bestärkt in seinen literarischen Interessen, trat öffentlich als Improvisator auf, veröffentlichte Gedichte, schrieb 1712 seine erste und einzige Tragödie, begann, Jurisprudenz zu studieren, und erweiterte seine literarische Bildung. Gravina gräzisierte seinen Namen und nannte den jungen Trapassi Metastasio, unter welchem Namen auch seine erste Gedichtsammlung erschien und der fortan ausschließlich auf allen seinen Publikationen in ganz Europa stehen sollte.

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1714 erhielt er die niederen Priesterweihen (Abbate), ohne die kirchliche Laufbahn aber weiter zu verfolgen. Im Januar 1718 verstarb sein Ziehvater und hinterließ ihm ein Vermögen, das ihn weitgehend unabhängig von einem Brotberuf machte. Trotzdem ging Metastasio nach Neapel und trat in eine Kanzlei ein, der gegenüber er seine literarischen Ambitionen verheimlichte, ohne sie aber zu vernachlässigen. Im Gegenteil fand er rasch Anschluß an die literarischen Zirkel und aristokratischen Gesellschaftskreise Neapels. Hilfreich waren ihm dabei seine poetischen und gesanglichen Improvisationskünste.

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1721 schrieb er ein Hochzeitsgedicht zur Vermählung von Antonio Pignatelli, Prinz von Belmont, mit Anna Pinelli di Sangro. Es kamen andere Gelegenheitsgedichte zu Festlichkeiten der Aristokratie hinzu, so auch sein erstes Drama Endymion, das der Gräfin von Althan gewidmet wurde, und GIi Orti Esperidicomponimento dramatico da cantarsi, in occasione dei felicissimo giorno natalizio dell sac. Ces. Catt. Real Maesta di Elisabetta Augusta Imperatrice regnante, per comando dell’illust. ›mo, ed Eccel’mo, Sig. D. Marc’Antonio Borghesi, Principe di Sulmone, Vice Re, &c. dei Regno Napoli. Napoli 1721.«) Hier wurden erste und später folgenreiche Kontakte mit den Habsburgern hergestellt. In Folge des Spanischen Erbfolgekrieges 1713/14 war Neapel an die Habsburgische Krone gefallen, einige Jahre später begann Metastasio auf Verlangen des Vizekönigs, Singspiele zum Geburtstag der Kaiserin Elisabeth Augusta zu schreiben und damit eine Verbindung herzustellen, die ihn knapp zehn Jahre später als Kaiserlichen Hofdichter selbst nach Wien brachte.

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Der Wiener Hof und
seine italienischen Verbindungen

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Die italienischen Verbindungen des Wiener Hofes sind nicht neu und sie führten auch nicht erst mit Metastasio zu personellen Engagements. Bereits 1669 kam Nicoló Minato (1627–1698) als Kaiserlicher Hofdichter nach Wien und schuf in den Jahrzehnten bis zu seinem Tod 1698 im Dienste Kaiser Leopold I. über 200 Operntexte, durchschnittlich fünf pro Jahr, gelegentlich aber bis zu zehn: überwiegend vertont von Antonio Draghi (1635–1700), ebenfalls Italiener, die Bühnenbilder meist von Burnacini. Schon dies ist ein gewaltiges Corpus an Dramentexten und Bühnenmusik, das Wien zu einem europäischen Kulturzentrum machte und dem gegenüber es keine auch nur annähernd vergleichbare Produktion in deutscher oder in französischer Sprache im Deutschen Reich gegeben hat. Lediglich die lateinischen Schulspiele der Jesuiten konnten daneben noch Aufmerksamkeit auf sich lenken.

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1694 wurde Donato Cupeda (1661–1704) zur Unterstützung Minatos nach Wien geholt und nach dessen Tod zu seinem Nachfolger bestellt; auch er im Dienst Kaiser Leopold I. Cupeda verdanken wir rund 30 Opern. Von 1706 bis 1718 war Silvio Stampiglia (1664–1725) in Wien als Poeta Cesarea und Historiograph tätig, jetzt im Dienste Kaiser Joseph I. und seines Nachfolgers Kaiser Karl VI. Für diesen arbeiteten auch Pietro Antonio Bernadoni (1672–1714, in Wien ab 1701), Pietro Pariati (1665–1733) und Apostolo Zeno (1668–1750). Pariati und Zeno hatten bereits in Venedig eng zusammengearbeitet. Viele ihrer Libretti auch aus Wien sind Gemeinschaftsarbeiten, die sich kaum mehr individuell zerlegen lassen. Diese ganz enge Kooperation beruhte auf einer kollektiven Produktionsweise und einer entsprechenden mentalen Einstellung künstlerischer Arbeit gegenüber, die den deutschsprachigen Autoren durchweg fremd war. Pariati arbeitete von 1714 bis 1729 in Wien, Zeno war von 1718 bis 1729 Hofdichter Kaiser Karl VI. und Kaiserlicher Historiograph. Auf seinen Wunsch hin wurde Metastasio als Nachfolger nach Wien berufen, der diesen Dienst bis an sein Lebensende 1782 wahrnahm. Neben ihm arbeitete ab 1726 Giovanni Claudio Pasquini (1695–1763) in Wien als Lehrer der Prinzessinnen Maria Theresia und Maria Anna und wurde 1733 zum Hofpoeten ernannt.

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Pietro Metastasio diente bis 1740 Kaiser Karl VI., bis 1765 Kaiser Franz I. und bis zu seinem Tod Kaiser Joseph II. Mitte der 40er Jahre wurde auf seine Empfehlung Giovanni Ambrogio Migliavaccha (1718 bis nach 1787) bei Hof angestellt, der anschließend für den Dresdner Hof arbeitete.

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Wenngleich die Stelle des Hofpoeten am Wiener Hof den Reformen Joseph II. zum Opfer fiel, endete dennoch nicht die Tradition der italienischen Librettisten in Wien. 1781 kam Lorenzo Da Ponte (1749–1838) nach Wien, besuchte sogleich Metastasio und erhielt durch Vermittlung des Komponisten Antonio Salieri (1750–1825, ab 1766 in Wien) die Stelle eines Theaterdichters am neugegründeten italienischen Theater in Wien. Für Mozart schrieb Da Ponte Le nozze de Figaro (1786), für Vicente Martin y Soler Una cosa rara (1786), für Mozart wieder den Don Giovanni (1787) und Così fan tutte (1790), für Salieri Axur, Ré d´Ormus (1788); bis 1790 in Wien über 20 italienischsprachige Stücke, die auch durchweg in Wien uraufgeführt wurden – alles Dramen, die auf den großen europäischen Bühnen jahrzehntelang gespielt wurden und teilweise noch heute ins Standardrepertoire aller Opernhäuser der ganzen Welt gehören.

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Mit Da Ponte und Salieri fand eine Tradition ihr Ende, die spätestens Mitte des 17. Jahrhunderts eingesetzt hatte und von gar nicht zu überschätzender Bedeutung für die deutsche Literatur-, Musik-, Theater- und Kulturgeschichte ist. Sie wurde – in verschiedener Weise – von Florian Gassmann, Gluck und Mozart musikalisch fortgeführt; die Librettisten jedoch fanden keine auch nur annähernd adäquaten Nachfolger. Da Ponte war wohl der letzte bedeutende Librettist in Deutschland.

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Italienische Oper und
deutsche Literaturgeschichte

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Diese italienischsprachige Tradition lieferte die längste, vitalste, stabilste und rezeptionsmächtigste kulturelle Tradition innerhalb der deutschen Literaturgeschichte der Neuzeit, und aus ihr gingen immer wieder die Werke hervor, die dieser deutschen Literatur und Kultur internationale Konturen und langfristige Einwirkungen auch auf ausländische Kulturen verschafften. Sie bildete das Rückgrat der Theater- und Musikkultur des übrigen Reichs und insbesondere auch der deutschsprachigen Dramatik.

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Die italienischsprachige Oper ist der gewaltigste Strang deutscher Literaturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, hinter dem die deutschsprachige Produktion marginal und provinziell erscheint. Es ist einer jener merkwürdigen Aspekte deutscher Geschichte, zu denen auch gehört, daß diejenige Stadt, die die längste Zeit als Hauptstadt des Deutschen Reiches fungierte, seit geraumer Zeit im Ausland liegt – und daß die wichtigsten Akten deutscher Geschichte (seit der Goldenen Bulle) ebenfalls im Ausland liegen.

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Und es gehört auch offenbar zu diesem historischen Schicksal, daß diese vermeintliche undeutsche Geschichte immer wieder verdrängt wird. Selbst aus den großen Standardwerken zur deutschen Literatur- , Kultur- und Musikgeschichte fallen die meisten nicht-deutschsprachigen Autoren Deutschlands heraus, weil fast zwanghaft immer noch und immer wieder die falsche Geschichte von Deutschland als das Land eines Volkes und einer Sprache und einer Kultur geschrieben werden muß. Unter dieser Einseitigkeit leiden alle deutschen Standardwerke seit dem 19. Jahrhundert zu den einzelnen kulturellen Sektoren unserer Geschichte bis zu den letzten Publikationen der Gegenwart – besonders krass an der Auswahl von den in die Neue Deutsche Biographie der Aufnahme gewürdigten »fremd«-sprachigen Autoren: hier fehlen alle der oben genannten italienischen Autoren; d.h. aber auch, hier wird der hundertfünfzigjährige Beitrag von sechs deutschen Königen bzw. Kaisern zur deutschen Kultur kommentarlos aus der deutschen Geschichte eliminiert.

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Was heißt »Deutschland der Aufklärung«?

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Stereotypen haben immer einen heuristischen Wert, sie leisten Abkürzungsarbeit im vorwissenschaftlichen Raum, sollten dann aber geklärt werden. Andernfalls bleiben sie vage und provozieren Probleme, statt sie zu lösen. Der Potsdamer Tagungsbericht ist betitelt Metastasio im Deutschland der Aufklärung; abgesehen von der grammatischen Mehrdeutigkeit wird weder geklärt, welches Deutschland gemeint sei, noch was für eine »Aufklärung« da als Bezugsgröße gelten soll. Die Beiträge allerdings machen deutlich, daß es nur um Norddeutschland geht, genauer: um die protestantische Annäherung an einen katholischen Dichter – ohne allerdings diese konfessionelle Problematik direkt auszuformulieren. Indirekt allerdings wird sehr nachdrücklich seligiert: Über die Premieren der Wiener Opern Metastasios wird nichts berichtet, Graz, Prag, Budapest und München oder Stuttgart werden nicht untersucht. Weil es sich um katholische Residenzen handelt? Und die deshalb nicht zum »Deutschland der Aufklärung« gehören? De facto geht es also nicht um Deutschland als das Römische Reich deutscher Nation, sondern nur um die deutschsprachige Kultur innerhalb des Römischen Reiches und innerhalb dieses kleinen Raums des weiteren nur um die protestantische Rezeption.

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Das ist eine bedauerliche Ein- und Beschränkung, denn die Ausblendung der internationalen Valenz von Metastasio droht auch den Blick auf die spezifischen Verhältnisse in den protestantischen Territorien zu trüben und einzuengen. So wird von den Herausgebern in ihrem Vorwort behauptet, die Italienischsprachigkeit der Libretti Metastasios stelle »ein besonderes Rezeptionsmoment dar« (S. IX), weil die »intellektuelle Selbstbeglaubigung« damals »vor allem auf Frankreich, zunehmend auf England, nicht aber auf Italien begründet war« (S. IX). Während dies nationale Denken für Frankreich und England sinnvoll sein dürfte, ist es für Italien und Deutschland unangemessen. Das Reich befand sich in einem desperaten Zustand, und Italien hat es damals im politischen Sinn noch nicht gegeben. Wohl aber gab es die italienische Sprache, deren sich jeder in Europa bediente, der Musik einigermaßen ernsthaft betrieb; ob zur »intellektuellen Selbstbeglaubigung« vermag ich nicht zu sagen, wohl aber zum aktiven Musizieren. Das Italienischsprechen ist nicht an die Vielzahl politischer Territorien auf der Halbinsel gebunden: In Paris arbeitete Lullius, der sich dann Lully nannte, wie ja auch Mazarin aus Italien stammte. Die italienischen Sänger, Komponisten und Musikanten waren als musikalische Elite über ganz Europa verstreut, arbeiteten In Dublin oder London so gut wie in Neapel unter habsburgischem Protektorat, in Skandinavien und in St. Petersburg oder Moskau. Neben der deutschen Linie von italienischsprachigen Librettisten und Komponisten in Wien, die ich anfangs schon skizzierte, arbeiteten in fast allen größeren und kleineren deutschen Residenzen Italiener an exponierter Stelle, so daß etwa Winckelmann in Dresden von den Jesuiten zur Konversion veranlasst werden konnte und man ihm dann die Ausreise nach Rom ermöglichte. 3

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Mediale Aspekte

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Überflüssig dürfte sein, an die Scharen von Bildhauern, Malern, Komponisten und Musikern zu erinnern, an alle Reisenden, die sich oft jahrelang in Italien aufhielten und die italienische Sprache erlernten. Der internationale Austausch gerade im musikalischen Bereich machte wegen der ständigen wechselseitigen Zusammenarbeit eine Publizistik weitgehend überflüssig. Im Vergleich mit deutschen Poeten waren Musiker ausgesprochen publikationsfaul, was allerdings nicht bedeutete, daß sie sich über grundsätzliche Probleme keine Gedanken gemacht hätten; aber der Diskurs darüber und die Verbreitung der Ergebnisse lief nicht primär im Medium der Presse, des Journals oder der theoretischen Abhandlung in Buchform, sondern entwickelte und verbreitete sich bei der gemeinsamen praktischen Arbeit im Konzert, in der Oper oder der Hofkapelle. Die reisenden Virtuosen, die ganz Europa durchwanderten, die Sänger, die von Oper zu Oper zogen, die Komponisten, die über ganz Europa verstreut in den verschiedensten Konnexionen standen und arbeiteten, kommunizierten, wenn schon schriftlich, dann brieflich miteinander, ähnlich auch das Publikum und die Träger der großen musikalischen Institutionen. Deutschsprachige Opern (aber auch Sprechbühnentexte) entstanden überwiegend als Übersetzungen und/oder Bearbeitungen italienischer Autoren. Häufig wurden die Libretti zweisprachig im Paralleldruck geliefert, immer wieder auch dreisprachig: Dann kam zum italienischen Text und zur deutschen Version noch eine französische Fassung hinzu. Berücksichtigt werden muß sodann das hohe Aufkommen an Dramen und Singspielen bei den Jesuiten und – nach deren Verbot – auch bei den Benediktinern. Im katholischen Bereich entwickelte sich die deutsche Literatur am Leitfaden der lateinischen Dramen und der italienischen Opern – in den protestantischen Territorien herrschte außerhalb einiger Residenzen eine ziemliche theatralische Leere. Von daher resultiert Gottscheds Orientierung an der französischen Klassik. An die verlorenen Traditionen der Hamburger Oper oder des protestantischen Schulspiels wollte er nicht anknüpfen, ein theatralisches Leben gab es nicht mehr, deshalb suchte er nach ausländischen Mustern. Zuerst dienten dazu für das Sprechtheater die Franzosen, dann wechselte mit Lessing das Paradigma zumindest im theoretischen Bereich, und man begann auch praktisch, einige englische Autoren zu übersetzen bzw. für die protestantische Bühne zu bearbeiten.

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Nicht nur im 18. Jahrhundert muß sorgfältig unterschieden werden zwischen den Innovationsbemühungen einiger Theoretiker und der praktischen Weiterführung alter Modelle auf der Bühne. Besonders für das 18. Jahrhundert kommt hinzu, daß man die Literatur nicht mit dem »Publikum« und noch weniger mit der Gesamtbevölkerung in eins setzen darf. Der Bürger wird, sobald er schreibt, zu einer anderen Person; und selbst bei einiger öffentlichen Resonanz kann man nicht ohne weiteres annehmen, daß damit auch eine Repräsentanz für die herrschenden Verhältnisse gewonnen worden sei. Oft ist gerade das Gegenteil der Fall. Der sog. »Sturm und Drang« kann nur eine bestimmte Phase in der Oberflächenentwicklung des Dramas im 18. Jahrhundert charakterisieren, Gedichte schrieb man weiterhin in Rokokomanier, und das eine oder andere Sturm-und-Drang-Drama behinderte eine höfische Karriere nicht zwingend: Goethe brachten sie an den Weimarer Hof, Friedrich Maximilian Klinger wurde Beamter am russischen Hof.

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Insofern ist es mißlich, wie es Albert Meier in seinem Artikel »Südliche Lektüren im Norden: Überlegungen zur Präsenz italienische Autoren im literarischen Wissen der deutschen Aufklärung« tut, nach Äußerungen im protestantischen Schrifttum über italienische Autoren zu suchen – und dabei ausgerechnet den Bereich, um den es bei der Tagung geht (also die Oper) weitgehend auszuklammern. Gerade auf der Opernbühne und im Konzertsaal lebte noch im 19. Jahrhundert die italienische Musik – und damit auch die italienische Sprache – mit unverminderter Dominanz in ganz Europa: Sie war, selbst als man das letzte eigene italienische Institut in Deutschland geschlossen hatte, die Sprache der Musik, die jeder Student der Musik erlernen mußte, gleichgültig, ob er selbst in Italien gewesen ist, oder, wie Bach, keinen Gönner mehr fand, der ihm einen Aufenthalt dort finanzierte.

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Text und Musik

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Zurück zu Metastasio. Die »Komponisten« der Texte Metastasios waren überwiegend Italiener, die an allen großen Bühnen Europas arbeiteten. Eine signifikante Ausnahme stellt Johann Adolph Hasse dar, der allerdings Jahrzehnte in Italien gearbeitet hat. Eine weitere Ausnahme bildet Thomas August Arne, der ein umfangreiches Repertoire englischsprachiger Fassungen für London vertonte, das in dieser Komplexität einmalig ist.

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Hinsichtlich der Kompositionen zeigt sich, daß zwar in vielen Städten derselbe Text bzw. ähnliche Fassungen gegeben wurden, die Inszenierungen sich aber durch die Musik generell voneinander unterschieden. So wurde etwa Metastasios Artaserse in Bologna zwischen 1730 und 1792 in sieben verschiedenen Kompositionen aufgeführt, erhielt also alle zehn Jahre neue Musik. Wenn wir dies Ergebnis für 10 verschiedene Opern Metastasios extrapolieren, ergibt sich, daß in Bologna jedes Jahr ein Libretto Metastasios neu vertont worden wäre; ob das in Bologna tatsächlich der Fall war, vermag ich noch nicht zu sagen. Für Venedig läßt sich diese Kompositionsrate tatsächlich über einen Zeitraum von mindestens 50 Jahren (1730–1780) nachweisen. Für Florenz können 10 verschiedene Vertonungen des Artaserse nachgewiesen werden, für London 11, für Venedig sogar 19. Vom Demetrio sind 8 verschiedene Kompositionen für Mailand, 12 für Venedig und 7 für Verona nachweisbar – um nur einige Zahlen und Beispiele herauszugreifen. Die Praxis, denselben Text mehrfach zu vertonen, ist für das Musiktheater weder neu noch besonders bemerkenswert, auffällig aber ist die Intensität und Dauer, mit der Metastasios Libretti immer wieder vertont wurden. Einige Komponisten haben im Lauf ihres Lebens mehr als 15 Texte des Abbate vertont (Vinci, Hasse, Jommelli, Scalabrini, Araja etc., s.u.). Auch das sind Sequenzen, die kein Librettist vorher oder später je wieder erreicht hätte.

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Bei und durch Metastasio gewinnt der Text gegenüber der Musik eine in der Operngeschichte Europas einzigartige Dominanz. Metastasio verkörperte real und historisch die Dominanz der Poesie über die Musik. Solange, und überall dort, wo die Werke Metastasios die europäischen Spielpläne dominierten, war auch die Dominanz der Dichtung über die Musik zweifelsfrei. Erst die vermeintliche »Überwindung« der Opera seria reduzierte die Vorrangstellung der Poesie, die dann auch in sprachlich-artistischer Hinsicht immer anspruchsloser wurde; und die in Folge dieser zunehmenden Inkompetenz der Librettisten den führenden Platz der Musik überlassen mußte. Die Entscheidung über die Vorrangstellung der einen oder der anderen Kunst war nie eine bloß »theoretische« Frage, sondern wurde von den realen Verhältnissen im Opernbetrieb bestimmt und der dort unübersehbar abnehmenden Leistungsfähigkeit der Librettisten.

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Die Metastasio-Rezeption im 18. Jahrhundert

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In geographischer Hinsicht läßt sich eine großflächige Distribution über ganz Europa bis nach Griechenland und Irland, von Skandinavien bis Sizilien, von Dublin bis St. Petersburg feststellen. Als Zentrum stabilisieren sich allerdings Italien, das Deutsche Reich und auch London. Bemerkenswert ist dabei, daß die Wertschätzung Metastasios in Italien durch seine Emigration nach Wien keine Einbuße erfuhr. Auffällig ist sodann, daß in Frankreich und selbst in Paris während des 18. Jahrhunderts kaum Aufführungen bzw. Vertonungen nachweisbar sind. Hier deuten sich tiefgreifende kulturhistorische Divergenzen in Europa an, die ich an dieser Stelle aber nicht weiter verfolgen kann. Angemerkt sei nur, daß für Deutschland hinsichtlich einer immer wieder beschworenen Franzosennachahmung auf der (ernsten) Opernbühne kein Indiz zu finden ist.

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Auch in konfessioneller Hinsicht gibt es für die Rezeption der Libretti Metastasios keine Hindernisse. Metastasio scheint der erste katholische Autor des 18. Jahrhunderts gewesen zu sein, der vorbehaltlos auch von Protestanten, und zwar auch im kirchlichen Rahmen des Oratoriums, rezipiert wurde und regelmäßig auch in Norddeutschland, Dänemark und England mit jeweils eigenen Vertonungen in die Kirche und auf die Bühne kam. Dabei ist für London auffällig, daß hier überwiegend englischsprachige Fassungen aufgeführt wurden. Ob das konfessionelle Gründe hat, müßte untersucht werden. Sicher spielen aber auch regionale bzw. nationale Gewohnheiten eine Rolle.

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In chronologischer Hinsicht liegt der Höhepunkt der Metastasio-Rezeption in den 1740er und 50er Jahren. Man darf wohl behaupten, daß das europäische Theater (mit Ausnahme Frankreichs) in diesen beiden Jahrzehnten von Metastasio in einer kaum mehr vorstellbaren Weise dominiert wurde; und zwar nicht nur durch die italienischen Textfassungen, sondern auch durch ihre deutschen, englischen, dänischen, osteuropäischen und spanischen Übersetzungen und Bearbeitungen. Verbindliche Zahlen lassen sich momentan noch nicht liefern, aber ungefähr wurden zwischen 1740 und 1760 jährlich mindestens 10 deutsche Fassungen publiziert. Wie viele Manuskripte von deutschsprachigen Aufführungen verloren gingen, ist kaum zu schätzen. Ab den 80er Jahren ging die Rezeption merklich zurück und konzentrierte sich auf Italien, Deutschland und England. Übersetzungen wurden seltener, und im 19. Jahrhundert wurde Metastasio fast nur noch in Italien auf die Bühne gebracht.

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Die Komponisten von Metastasios Texten

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Das ist nicht zuletzt auch ein Generationsphänomen. Ein nicht ganz vollständiger, aber doch paradigmatischer Überblick über die Komponisten, die über längere Zeit zehn und mehr Texte Metastasios vertonten, zeigt ein auffälliges Profil:

[52] 

• Pasquale Anfossi (1727–1797)

[53] 

• Johann Christian Bach (1735–1782)

[54] 

• Andrea Bernasconi (1706–1784)

[55] 

• Ferdinando Bretoni (1725–1813)

[56] 

• Giuseppe Bonno (1711–1788)

[57] 

• Antonio Caldara (1670–1736)

[58] 

• Nicola Conforto (1718–1793)

[59] 

• Egidio Romoaldo Duni (1708–1775)

[60] 

• Ignazio Fiorillo (1715 –1787)

[61] 

• Baldassare Galuppi (1706–1785)

[62] 

• Christoph Willibald Gtuck (1714–1787)

[63] 

• Pietro Allessandro Guglielmi (1728–1804)

[64] 

• Ignaz Holzbauer (1711–1804)

[65] 

• Niccola Jommelli (1714–1774)

[66] 

• Giovanni Battista Lampugnani (1708–1788)

[67] 

• Gaetano Latilla (1711–1788)

[68] 

Zum Vergleich:

[69] 

• Gian Francesco de Majo (1732–1770)

[70] 

• Carlo Monza (1735–1801)

[71] 

• Johann Adolph Hasse (1699–1783)

[72] 

• Josef Myslivecek (1737–1781)

[73] 

• Pietro Metastasio (1698–1782)

[74] 

• Giovanni Paisiello (1740–1816)

[75] 

• Antonio Gaetano Pampani (1705–1775)

[76] 

• David Perez (1711–1778)

[77] 

• Giovanni Battista Pascetti (1704–1766)

[78] 

• Niccola Piccinni (1728–1800)

[79] 

• Nicola Porpora (1686–1768)

[80] 

• Pietro Pompeo Sales (1729–1797)

[81] 

• Giuseppe Sarti (1729–1802)

[82] 

• Paolo Scalabrini (1713–1803)

[83] 

• Giuseppe Scarlatti (1718–1777)

[84] 

• Johann Gottfried Schwanenberger (1740–1804)

[85] 

• Tommaso Traetta (1727–1779)

[86] 

• Francesco Antonio Baldassare Uttini (1723–1795)

[87] 

Abgesehen von der verblüffenden Koinzidenz der Lebensdaten von Hasse und Metastasio sind alle diese Komponisten (bis auf Porpora und Caldara) z. T. beträchtlich jünger als Metastasio: die meisten 10 bis 15 Jahre. Das bedeutet: Sie alle sind in die Tradition der Opera seria hineingewachsen und haben sich dann auf Metastasio konzentriert, ohne allerdings ausschließlich dessen Libretti zu vertonen. Diese Generation starb überwiegend im Laufe der 80er Jahre – und mit ihrem Tod ging allmählich auch die Glanzzeit der Opera seria zu Ende. Im Umkreis Metastasios entwickelten sich keine Verdrängungsstrukturen, keine Dominanzen und nur selten dominierende Vertonungen, die die Rezeption eines Textes bestimmt oder gar determiniert hätten.

[88] 

Dramentheorie und Theaterpraxis

[89] 

Deshalb hing auch Metastasios Karriere nicht von einem Komponisten oder der Zusammenarbeit mit einer kleinen Gruppe von Musikern ab, sondern von breitflächigen Kontakten, die zu jener säkularen Wirkung und Bedeutung führten, die noch im 19. Jahrhundert spürbar war. An dem Gruppenmodell derjenigen Komponisten, die über einen Zeitraum von über 60 Jahren die Omnipräsenz Metastasianischer Texte organisierten, werden Umrisse einer Bewegung deutlich, für die in Deutschland bis heute wenig Interesse und noch weniger Sensibilität vorhanden ist. Fast alle diese Komponisten arbeiteten an den Höfen, die meisten an den größten Residenzen Europas; sie sind überwiegend Italiener, daneben einige Deutsche und auffälligerweise nur ein Engländer (Arne) und ein Franzose (Duni). Das weist darauf hin, daß Innovationen oder auch nur »Entwicklungen« an den großen Höfen und insbesondere im theatralischen Bereich anders funktionierten als etwa im Sprechtheater oder gar in der literarischen Theorie.

[90] 

Theorien haben es leicht, »revolutionär« zu sein. Das Theater und insbesondere das Musiktheater ist aber in Folge seiner materiellen und personellen »Masse«, seiner Kostspieligkeit und seiner Öffentlichkeit in ganz anderer Weise von politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen geprägt und abhängig als die »Buchpoesie«. Je näher die Musik, der Gesang, das Bühnenbild, das Orchester oder die Schauspieler, Sänger und Tänzer dem Zentrum der Macht kommen, desto komplexer sind die Abhängigkeiten, mit denen sie sich abzufinden haben, aber auch die Unterstützung und Wirkungsmöglichkeiten, die sie nutzen können.

[91] 

Metastasios Werk als Säkularisation und
Emanzipation der Oper

[92] 

Ob man nun Metastasio »der« Aufklärung zurechnen möchte oder nicht, und was man dann unter einer »Aufklärung« verstehen will, die durchweg an bürgerlichen Verhältnissen festgemacht wird – für die Residenzen in Rom, London, Paris, in Wien, Graz oder München, in Venedig oder Florenz, in Dublin und St. Petersburg hatten das Theater und die Oper eine durchaus andere Funktion als in den ländlichen Regionen des Reichs der Pfarrer oder die Klosterschule, im städtischen Areal der Zeitungsschreiber. Um Metastasio herum, bzw. durch Bearbeitung seiner Libretti, entwickelte sich in Europa eine Reformpartei des Adels, der sich im Laufe der Jahre auch bürgerliche Autoren und Musiker anschlossen. Metastasio bedeutete so etwas wie Veränderung, ohne je auf Revolution zu zielen. Es war eine pragmatische Arbeit, die überall in Europa geleistet wurde und wahrscheinlich viel fundamentalere Veränderungen europaweit bewirkte, als es der »Sturm und Drang« erträumte. Mit Metastasio wurde das Musiktheater erstmals europäisch, entgrenzt, selbst regionales Personal wurde über Metastasio international, im Schlepptau Metastasios wurden die Theater größer und schließlich riesig, das Bühnenpersonal verzehnfachte sich, obwohl Metastasios Dramen selbst nur ein kleines Personal hatten. Aber in ihrer Hege entwickelten sich andere Gattungen, deren Einlagen die Oper zu einer fünf- und mehrstündigen Veranstaltung werden ließen, ohne aber als »Fest« zu gelten. Über die Metastasianischen Veranstaltungen säkularisierte die Oper endgültig und emanzipierte sich auch gegenüber den jeweiligen Trägern. Wiewohl Bediensteter des Kaisers, war Metastasio erstmals in der europäischen Theatergeschichte prinzipiell für jeden Leser und jedes Theater zugänglich; eine Tendenz, die durch massenweise Übersetzungen in die verschiedenen Nationalsprachen noch gefördert wurde. Andererseits transportierte Metastasio die traditionellen Offenheiten höfischer Kulturarbeit weiter und funktionalisierte sie zu einer vielfältigen Brauchbarkeit um.

[93] 

Protestantische Mythen und
die deutsche Literaturgeschichtsschreibung

[94] 

Das im Titel des Potsdamer Bandes nominierte »Deutschland« wird nirgends geographisch oder politisch definiert, es bleibt im Vagen und ist deshalb auch nach Belieben auf Nord- und/oder Mitteldeutschland reduzierbar. Diese (scheinbare) Beliebigkeit der geographischen Festlegung ist ein generelles Übel im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb, hat aber noch eine spezielle Konnotation, auf die ich kurz hinweisen möchte:

[95] 
Vom Ende des siebzehnten bis tief in das achtzehnte Jahrhundert hinein sind die weitaus meisten Träger der deutschen Geistesgeschichte geborene Sachsen gewesen oder doch aus den sächsischen Schulen hervorgegangen. Von Leibniz, Pufendorf und Thomasius bis zu Gellert, Klopstock, Lessing. Ja fast noch weiter hinaus! Mit Goethes und Schillers Eintritt in die sächsische Kultur begann eine neue Epoche in dem Leben dieser Süddeutschen; auch lag Weimar nicht im preußischen Militär-, sondern im sächsischen Kulturkreise und Karl August war kein Hohenzoller, sondern ein Wettiner. 4
[96] 

Auf dem Hintergrund der tatsächlichen Verhältnisse im Deutschen Reich des 17. und 18. Jahrhunderts charakterisiert sich dieser Schreiber unmißverständlich als Protestant und macht kenntlich, daß er nie außerhalb dieses Bereiches gelernt und gearbeitet hat. Wenngleich es Franz Mehring nicht gelang, den »Preußen-Mythos« zu beseitigen, konnte er ihm aber immerhin einen »Sachsen-Mythos« beigesellen – und beide Mythen zusammen bestimmen bis heute den Horizont der meisten Fachgelehrten fast aller historischen Disziplinen. Fast alle größeren Darstellungen zur »deutschen« Literatur liegen auf diesem norddeutsch-nationalistisch und protestantischen Vorurteil auf.

[97] 

Begeistert führte die Musikhistorikerin Johanna Rudolph in ihrer Arbeit zur Händelrenaissance Mehrings provinziellen Aufsatz weiter: »Fügt man, beginnend mit dem Namen Schütz und gipfelnd in den Namen Bach und Händel, die schier endlose Reihe von Musikern Sachsen-Thüringens hinzu, so rundet sich für uns das Bild.« 5 Hier wird deutlich, wie geschichtsträchtig die sparsame Anschaffungspolitik protestantisch-territorialer Landes- und Staatsbibliotheken war und ist: Ihre Benutzer schreiben mit den territorial-beschränkten Materialien, die ihnen die Bildungsbehörden zukommen lassen, ahnungslos die Regionalgeschichte ihrer fürstlichen Gründer fort und erklären den ihnen überlassenen kleinterritorialen Rest mitteleuropäischer Kultur zur Quintessenz der deutschen Geschichte: »Deutsch« wird hier zum Euphemismus protestantisch-einsprachiger Territorien und deren eingeschränkter kultureller Bemühungen.

[98] 

Dabei wird deutlich, wie tief der geistige Graben zwischen den Konfessionen noch heute ist – nur daß er inzwischen so selbstverständlich geworden ist, daß kaum jemand mehr darüber redet. Faktum aber ist, daß auch heute noch in den großen Bibliotheken überwiegend protestantischer Territorien kaum Literatur katholischer Herkunft liegt. Von den rund 10.000 Dramen, die die Jesuiten im 17. und 18. Jahrhunderts im Reichsgebiet produzierten, liegen nördlich des Mains gerade 50 – nämlich in Hildesheim: weil sie dort produziert worden sind. An dramatischer Literatur der Benediktiner, Piaristen etc. liegt nördlich des Mains überhaupt kein einziger Text oder sonst irgendeine Drucksache geschweige denn ein Manuskript. Das sind Tausende von Drucken allein aus dem 18. Jahrhundert, wovon in Nord- und Mitteldeutschland jegliches Material fehlt.

[99] 

Deutlich wurde dabei auch, in welchem Maß die Literaturgeschichtsschreibung protestantisiert und wie gering die Bereitschaft ist, diese konfessionellen Beschränkungen zu überwinden, geschweige denn sie überhaupt zu erkennen und zu diskutieren. Die Folge davon ist, daß wir mit dem Projekt der Bibliographia Dramatica et Dramaticorum seit rund zehn Jahren fast ausschließlich in den süd- und osteuropäischen Gebieten arbeiten und eine Kulturproduktion aufzuarbeiten versuchen, die etwa fünfzigfach umfangreicher gewesen sein dürfte als die protestantischen Unternehmungen in Nord- und Mitteldeutschland, ohne daß in diesen Territorien die Bibliotheken oder Universitäten von den Ergebnissen irgendwie beeindruckt würden. Nach wie vor wird ungeniert von »deutscher« Kultur oder Literatur geredet und geschrieben, wo man im besten Fall von protestantischer und deutschsprachiger Literatur reden dürfte.

[100] 

Metastasio und »die« Aufklärung

[101] 

An den Anfang seiner Überlegungen zu »Metastasio und die Aufklärung«, die den Potsdamer Band eröffnen, stellt Volker Kapp die Frage, ob das Thema nicht eher »Metastasio als Gegner der Aufklärung« heißen müßte – gleich zu Beginn eine manichäische Grenzziehung zwischen gut und böse, zwischen progressiv und ... irgendetwas anderem, das aber nicht einmal als Schlagwort angedeutet wird. Was ist Metastasio, wenn Kapp ihn nicht der Aufklärung zurechnet? Er fällt ins epochale, terminologische Nichts. Was hier »Deutschland« bedeutet, wird ebenfalls nicht gesagt, als Zeugen echter Aufklärung jedenfalls werden ausschließlich Franzosen nominiert: Voltaire, Diderot, Rousseau und der in Paris arbeitende Melchior Grimm.

[102] 

So eröffnet sich ein weites Feld der Spekulation (Interpretation), das deshalb so ergiebig ist, weil der Verfasser auch nicht verrät, was er unter »Aufklärung« versteht. Wohl aber müsse überlegt werden, ob »Rokoko und Aufklärung sich wechselseitig ausschließen« (S. 2). Damit gerät Krapp in die »Problematik der Epochenbegriffe Barock, Rokoko und Aufklärung« (S. 2), die aber auch alle drei nicht definiert werden sollen, da das die zu behandelnde Fragestellung (»Metastasio und die Aufklärung«) übermäßig strapaziere! Vielleicht hätte man das Thema präziser formulieren sollen. Da nun durch Nichtbehandlung eine ganze Menge Schwierigkeiten beiseite geschoben sind, kann bereits eine halbe Seite später als Ziel der Überlegungen formuliert werden, Metastasio »in seiner Zugehörigkeit zu allen dreien [undefinierten Epochen] zu charakterisieren« (S. 3), ohne Diskussion der Inkongruenz dieser drei Termini bzw. der damit gemeinten kulturellen Tätigkeiten. Unreflektiert bleibt auch der Aspekt, daß Metastasio seine Texte für Musiker und Komponisten und Sänger schrieb: Sie werden wie theoretische Abhandlungen ausgewertet.

[103] 

Jedenfalls fühlt sich Krapp in seinem Vorgehen dadurch bestärkt, daß Metastasio von einigen Personen »keineswegs für anachronistisch eingestuft«, sondern »mit höchstem Lob bedacht« wurde, die »unbestreitbar zur Aufklärung« gehörten, wie etwa die Enzyklopädisten und Voltaire oder Rousseau (S. 3). Und die vielen Lobredner und Bewunderer Metastasios, die nicht an der Enzyklopädie arbeiteten, die Fürsten auf den Thronen oder Beamten in Wien, die Musiker: was macht deren Lob aus Metastasio? Eingeschränkt wird die Beförderung Metastasios zum »Aufklärer« durch die Betrachtung der Licenza zum Adriano in Siria, wo Kapp so tut, als sei diese eine Erfindung Metastasios. Das höfische Ritual, der repräsentative Raum der Wiener Aufführungen findet keine Berücksichtigung. Allerdings wird behauptet, daß am Wiener Hof »sachliche Offenheit stets mit bösartiger Verleumdung gleichgesetzt wurde« (S. 7). Was hat eine Oper mit »sachlicher Offenheit« zu tun? Und dann wäre für eine Behauptung mit derartigem Absolutheitsanspruch (»stets«) doch ein Belegmaterial erwünscht; etwa aus dem Briefwechsel Maria Theresias mit ihrem Arzt van Swieten? Daß Metastasio »konstant der Versuchung widerstand, sich zum Lehrmeister seines Dienstherren aufzuschwingen«, sei »durchaus mit dem Selbstverständnis bestimmter Strömungen der Aufklärung zu vereinbaren« (S. 7). Trotz der »Bestimmtheit« der Aussage, bleibt ungesagt, welche »Strömungen« (Plural) das gewesen sein könnten. Und weil Metastasio auch noch Emotionen hervorrufen wollte, sei auch das ein Hinweis »seiner Teilhabe am Gedankengut der Aufklärung« (S. 13). Die Affekte waren aber schon im 17. Jahrhundert eng mit der Dramaturgie und Komposition der Oper verbunden, ohne dadurch aufklärerisch zu werden. Auch bei Platon und Aristoteles ist davon schon die Rede.

[104] 

Aus so viel Vagheiten und Stereotypien ergibt sich ein vages Ergebnis: »Es bleibt deshalb nur die Lösung übrig, Metastasios ambivalentes Verhältnis zu den Aufklärern als eine spezifische Art der Teilhabe an der Aufklärung zu akzeptieren.« (S. 14) Für welchen etwas bedeutenderen Autoren gilt das nicht? Für die vom Verfasser herangezogenen Zeugen aus Frankreich jedenfalls sicher: Voltaire, Rousseau, Diderot und Grimm – hatten sie nicht alle ein »ambivalentes« Verhältnis zueinander? Und Friedrich II., Katharina von Russland, Karl Theodor ... oder Kant, Hume, Holbach oder Mozart, Gluck?

[105] 

Italienische Autoren »im literarischen Wissen
der Aufklärung« – eine »Baisse«?

[106] 

Albert Meiers »Überlegungen zur Präsenz italienischer Autoren im literarischen Wissen der Aufklärung« sollen das Umfeld der Metastasianischen Libretti, ihre »Italienischsprachigkeit« und mithin wohl auch die Gründe für das »Rezeptionshindernis« dieser Art von Texten klären unter dem Obertitel »Südliche Lektüre im Norden«. Der allegorische Titel weist darauf hin, daß keine begriffliche Arbeit geleistet werden soll: »Norden« meint jedenfalls nicht Dänemark, Schweden oder Norwegen, auch nicht die Niederlande oder Polen, sondern irgendein Territorium, in dem »deutsche Autoren« leben, das im zweiten von Meier herangezogenen Beleg ganz Deutschland umfaßt, und im dritten Beleg sich auf Braunschweig zentriert. Diese drei sollen belegen, wie es um die »Präsenz italienischer Werke in der literarischen Öffentlichkeit Deutschlands während des [ganzen] 18. Jahrhunderts« (S. 74) gestanden habe.

[107] 

Die deutsche Aufklärung ist also merkwürdig unbehaust, wird personalisiert und mit einem »Wissen« ausgestattet. Auf den ersten zwei Seiten wird die Gewißheit erarbeitet an einer »offensichtlichen Baisse im deutschen Interesse an italienischer Literatur« (S. 74). In der dann folgenden »Bestandsaufnahme (in Stichproben)« fehlen aber ausgerechnet die Opern, als der größte Corpus von italienischsprachiger Literatur, die im Deutschen Reich sogar massenweise gedruckt wurde. In einer Anmerkung wird der Leser über die Gründe dieses eklatanten Mangels aufgeklärt: »Der Bereich des Musik-Theaters wird in meinen Überlegungen ausgespart, weil er das Rahmen-Thema des vorliegenden Bandes bildet.« (S. 75) Wenn ich das richtig verstehe, ist damit gemeint, daß der Verfasser das ihm gestellte Thema nicht behandelt, weil es auf dem Umschlag des Bandes steht? Aber auch dann ist dieses Statement schief, denn welches »Rahmen-Thema« ist da gemeint, das ja wohl irgendwie »Die italienische Oper in Deutschland« heißen müßte – von der aber nirgends in dem Band die Rede ist. Über die Oper in Deutschland, das Theater in Deutschland, die Libretto-Produktion, ob in deutscher, italienischer oder französischer Sprache, erfährt der Leser des Bandes fast nichts. So wird der Leser von einer Auslassung auf die nächste verwiesen.

[108] 

Methodisch allerdings wird klar, wie es zu der angeblichen »Baisse« des Interesses an italienischer Literatur kommen konnte – durch Ausklammerung des oder zumindest eines der wichtigsten Segmente der italienischen Kulturproduktion: der Oper und damit auch der dazu gehörigen Zweige: der Musik, der Architektur, des Bühnenbilds und des Balletts. Ausgefallen aus der Untersuchung sind auch die Reisen der Adligen und Bürger nach Italien und deren Folgen: die Einrichtung von Kunstkabinetten nach italienischem Vorbild, das Engagement italienischer Musiker und Sänger und Komponisten für die heimische Bühne usw., der Betrieb italienischer Pressen in Dresden, Warschau, Prag und Wien, aber auch in Hamburg und Stuttgart, die keineswegs nur Operntexte rezipiert haben. Und auch die Tatsache, daß die Wiener Hofkanzlei in mindestens drei Sprachen (darunter auch das Italienische) korrespondierte, hat angeblich für das »literarische Wissen der deutschen Aufklärung« keinerlei Bedeutung.

[109] 

Die »Baisse« wird erarbeitet in »Stichproben«, die allerdings eher den Eindruck einer regen Italien-Rezeption in Deutschland statt einer »Baisse« vermitteln. Als erstes wird Zedlers Universal-Lexikon konsultiert, das »Artikel zu allen namhafteren italienischen Autoren« enthalte, die aber nur stichprobenweise aufgeführt und schon gar nicht besprochen werden. Auch wird kein Vergleich mit der Rezeption von Autoren anderer Sprachen oder Nationen angestellt, so daß über Relationen keine Aussage möglich ist. Deutlich wird aber immerhin, daß mit den im Titel des Aufsatzes angeführten »italienischen Autoren« überwiegend oder gar ausschließlich Belletristen gemeint sind. Wenngleich neben der juristischen auch die historische, kunsthistorische, architektonische und philosophische Literatur ausgeblendet wird und von der Oper nicht gesprochen werden soll, werden Goldoni und Gozzi immerhin gestreift. Die großen Nachschlagewerke zum europäischen Theater bleiben dabei jedoch ungenutzt, und Goldonis auffällige Rezeptionsbreite wird der »Baisse«-These zuliebe heruntergeschraubt: »Streng genommen handelt es sich bei Goldoni allerdings um einen Autor, dessen Werke in vieler Hinsicht gar nicht als ›italienisch‹ auffielen, weil sie z.B. englische Stoffe gestalteten und über Frankreich vermittelt wurden.« (S. 76) Mit einem derartig nationalstaatlichen Denken wird man schwerlich die Kultur des Deutschen Reichs erfassen und adäquat zu beschreiben in der Lage sein.

[110] 

Selbstverständlich wird auch die vierte Auflage von Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst aus dem Jahr 1751 bemüht. Die ebenfalls von Meier nicht systematisch erfaßten Nennungen italienischer Belletristen sind scheinbar so zahlreich, daß sie thesenkonform gemacht werden müssen: sie »dokumentieren [...] keine persönliche Sympathie Gottscheds oder genuin eigenständige Lesefrüchte des Theater-Reformers« (S. 77 f.). Es wird also die Meßlatte für Relevanz immer höher gehängt: Auseinandersetzung, egal ob in mündlicher, brieflicher oder publizistischer Form, reicht nicht aus, es muß sich um Lektüre und Sympathie handeln. Daß Gottsched Übersetzer eines italienischen Stücks war, ist dem Verfasser entgangen. 1766 publizierte Gottsched Thalestris Königin der Amazonen – aus dem vortrefflichen italienischen Singspiele Ihrer Königlichen Hoheit der unvergleichlichen Ermelinde Thalea – in ein Deutsches Trauerspiel verwandelt von Johann Christoph Gottscheden. – Zwickau: Chrn. Lebr. Stielern, 1766. »Ermelinda Thalea« ist Pseudonym der sächsischen Kurfürstin Maria Antonia, die mehrere italienische Opern schrieb. Mit Dresden hätte Warschau in den Blick genommen werden können; aber auch Polen wäre zu berücksichtigen. Über Maria Antonia wäre eine Schiene deutlich geworden, die von Dresden nach Wien geführt hätte ... Der Wege von Italien nach Deutschland waren viele im 18. Jahrhundert.

[111] 

Versäumte Alternativen

[112] 

Vielleicht wäre es sinnvoll gewesen, zuerst einmal zu fragen, wer im »Norden« überhaupt italienisch sprach und lesen konnte. Hier hätten italienische Grammatiken und Wörterbücher wichtige Indizien liefern können. Sodann hätte man ermitteln können, wo im Reich Italiener, also native speakers, lebten und arbeiteten – und ja wohl italienische Literatur lasen. Damit wäre der Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen man nach den deutsch-italienischen Konnexionen hätte suchen können. Auf diesem Weg wäre man auch nicht auf den Einfall gekommen, das italienisch-deutsche Verhältnis anhand nur von einigen Höhenkamm-Autoren abzuhandeln: Die wichtigsten Quellen dürften immer noch die Briefe sein – aber auch Illiteraten wie Winckelmann, Mengs und Angelica Kaufmann hätte man konsultieren können, die überhaupt nicht erwähnt werden, in Rom aber, wie so viele Deutsche, auch in Venedig, Mailand oder Neapel, in die italienische Oper oder Komödie gingen und italienische Dichter gelesen haben. Auch dieser unmittelbare Bereich originaler Teilnahme bleibt ausgeklammert. So werden nur Lessing, Hamann und Wieland befragt, von Lessing aber nicht einmal dessen italienische Reise erwähnt oder literarisch ausgewertet, obwohl dazu eine umfangreiche Arbeit vorliegt (s.u. Anm. 6). Inzwischen wissen wir auch, welche Bücher Lessing während dieser Reise für die Wolfenbütteler Bibliothek gekauft hat. Hier hätte der Kulturtransfer also sehr detailliert beschrieben werden können. Und zur Erinnerung: Auch die Emilia Galotti spielt in Italien ...

[113] 

Unerwähnt bleiben die Zeitschriften, die sich entweder im Titel oder in größeren Artikeln mit Italien beschäftigten, die größeren Übersetzungsreihen aus dem Italienischen, die europaweit berichteten und besprochenen Skandale des Giacomo Casanova und des Conte Cagliostro, in die aus dem »Norden« Elisa von der Recke und deren Familie (auch mit publizistischem Niederschlag) verwickelt war, und die im Falle Casanovas in Böhmen endeten.

[114] 

Durch die Meßkataloge hätte ein Überblick über die italienischsprachige Buchproduktion im Reichsgebiet gewonnen werden können; über das umfangreiche Angebot der großen Buchhändler an italienischer Literatur geben die Kataloge der großen Handlungen Auskunft; und über den Besitz an italienischer Literatur hätten die Kataloge der großen bürgerlichen Büchersammlungen und der fürstlichen Bibliotheken informiert. Sodann hätte berücksichtigt werden können, daß ein Strang der Italien-Rezeption über französische Vermittlung lief.

[115] 

Bei so vielen Einwendungen bleibt dem Rezensenten mehr als Zweifel an der Richtigkeit der Behauptung Meiers: »Im Großen und Ganzen steht der Sachverhalt außer Zweifel. Zur Zeit der Aufklärung [die aber nicht datiert wird] ist die Dichtung Italiens in Deutschland auf geringes Interesse gestoßen.« (S. 73) Stattdessen möchte ich einem differenzierteren Urteil zustimmen:

[116] 
Im allgemeinen löste [...] in den siebziger und mehr noch in den achtziger Jahren die Erkenntnis von der strukturellen Verwandtschaft und der dadurch gegebenen Vergleichbarkeit der Problemlagen in Deutschland und Italien das bisher vor allem aus konfessionellen Gründen vorwaltende Gefühl der vollkommenen Verschiedenheit beider Länder ab. Dadurch nahm das Interesse an den Vorgängen südlich der Alpen deutlich zu. Johann Friedrich Le Brets Magazin zum Gebrauch der Staaten- und Kirchengeschichte, das 1771 zu erscheinen begann, erreichte rasch den Rang einer Spezialzeitschrift, befaßten sich doch in diesem vom damals besten deutschen Italienkenner redigierten Organ nicht weniger als 70 % der Beiträge mit geistlichen und weltlichen Problemen jenes Landes, die aber zugleich auch auf zeitgenössische deutsche Probleme zielten und Lösungsvorschläge vermitteln sollten. Auch Schlözers Briefwechsel, ungleich mehr jedoch seine viel gelesenen Staatsanzeigen griffen italienische Themen auf; letztere druckten sogar 1787 eine vollständige Übersetzung des im Vorjahr in Kraft gesetzten Strafgesetzbuches der Toskana ab. Reichhaltige Berichterstattung und Wiedergabe wichtiger Dokumente findet sich ebenfalls in der seit 1784 erscheinenden, streng episkopalistischen Mainzer Monatsschrift von geistlichen Sachen, die ihr Augenmerk naturgemäß auf kirchenpolitische Vorgänge richtete; an ihnen herrschte in den 1780er Jahren wahrlich kein Mangel. Zuletzt wurden sogar regelrechte Spezialzeitschriften ins Leben gerufen – 1785 beginnend mit den Staatsanzeigen von Italien –, die bei aller Kurzlebigkeit doch das enorm gestiegene Interesse an den politischen Verhältnissen des Südens erkennen lassen.
[117] 
Dies erklärt auch die wachsende Zahl italienischer Titel in den führenden Rezensionszeitschriften – der Allgemeinen Deutschen Bibliothek und der Göttingischen Gelehrten Anzeigen (für das katholisch geprägte Süddeutschland und Österreich war die seit 1788 erscheinende Oberdeutsche Allgemeine Literaturzeitung maßgeblich) – und vor allem von Übersetzungen wichtiger, in ganz Europa diskutierter Bücher. Mailand und Neapel, die bei weitem wichtigsten Zentren der italienischen Aufklärung, kamen in Deutschland häufig zu Wort. 6
[118] 

Die übrigen Beiträge

[119] 

Glücklicherweise klammern sich die übrigen Artikel nicht an die Titelei des Potsdamer Bandes: Sie beschäftigen sich mit »Metastasio und ...« bzw. »Metastasio in ...« nicht irgendwo in »Deutschland«, sondern überwiegend in norddeutschen und protestantischen Regionen; auch kümmern sie sich nicht um eine Verbindung mit einer wie auch immer gearteten »Aufklärung«. Das schärft offenbar den Blick auf die Sache. Ganz ohne Übertreibungen geht es allerdings auch dabei nicht ab. Christoph Henzel kündigt eine Untersuchung über »Metastasio an deutschen Fürstenhöfen« an, berichtet aber nur über Dresden, Berlin und Braunschweig. Dresden wird kursorisch besprochen, ohne Erwähnung, daß die Oper ein Institut des katholischen, aber in Dresden als protestantischer Kurfürst residierenden polnischen Königs war – daher nicht nur eine starke italienische, sondern vor allem eine starke katholische Fraktion in Dresden, die enge Verbindungen zum Wiener Hof des Kaisers und nach Italien hatte; von einer derartigen Effektivität, daß man Winckelmann zur Konversion in Dresden animieren und ihm die Ausreise nach Italien ermöglichen konnte. Merkwürdigerweise bleibt auch Hasses Arbeit an und mit Metastasio-Texten unerwähnt.

[120] 

Zur Berliner Oper hat Henzel bereits eine Reihe informativer Arbeiten geliefert; hier wird deutlich, wie stark der Einfluß des Königs auf das Repertoire der Oper und die jeweiligen Bearbeitungen war. Bei der Besprechung der Oratorien Metastasios wird leider der konfessionelle Aspekt nicht tangiert. Die Ausführungen über die Braunschweiger Oper hätte der Rezensent sich ausführlicher gewünscht, insbesondere in Hinsicht auf den kommerziellen Aspekt, unter dem diese Bühne stand.

[121] 

Metastasio und das deutsche Singspiel

[122] 

Jörg Krämer untersucht »Metastasio und das deutsche Singspiel« und kann hier auf seine profunde Arbeit zum Deutschsprachigen Musiktheater im späten 18. Jahrhundert 7 zurückgreifen. Ihm gelingt auf dem Hintergrund einer umfassenden Quellenkenntnis zu zeigen, wie stark auch das kleine deutschsprachige Singspiel von dem Vorbild der Metastasianischen Opera seria geprägt wurde. Am Beispiel Daniel Schiebelers erläutert er, wie wenig die deutsche Kleinform den Librettisten und Komponisten genügte: Schon sehr früh wurde sie als Kompromiß empfunden, mit dem sich die Pragmatik der Wanderbühnen-Prinzipale durchsetzte. Auch bei August Gottlieb Meißner läßt sich die Leitfunktion Metastasios zeigen, deren Motivation bei Johann Adam Hiller deutlich wird: Das Streben des Singspiels zur größeren Form der Oper hat nicht nur theoretische, sondern auch soziale Gründe. Sie, die Oper, bedeutet höfische Patronage, künstlerische Entfaltungsmöglichkeiten, publizistische Präsenz, Steigerung des Ansehens, Internationalität usw. Das gilt auch für Johann Jacob Eschenburg, der problemlos Metastasio neben Shakespeare stellt, die beide zur Bildung und Verfeinerung des Geschmacks und der Sitten beitrügen. Das war allerdings ein anderer Shakespeare, als ihn die Sturm-und-Drang-Theorie verstand. Daß auch bei den höfischen Singspielen Wielands Metastasio stets präsent war, verwundert kaum mehr. So bleibt festzuhalten:

[123] 
Erstens: Metastasio gilt den Zeitgenossen auch in volkssprachlichem Bereich als die unbezweifelte Autorität [...]. Daß das Bürgertum im Deutschland des 18. Jahrhunderts eine eigenständige Kultur im Bereich des Musiktheaters entwickelt hätte, gehört eher zu den bürgerlichen Selbstmystifikationen des 19. und 20. Jahrhunderts. Zweitens: Die Wirkungen Metastasios im Singspiel-Bereich deuten darauf hin, daß seine Vorbildfunktion nicht nur in der Anlage von dramatischen Texten für Musik bestand, sondern v.a. in den ›Codes‹, die Metastasio für die Darstellung menschlicher Emotionalität entwickelte [...]. (S. 99)
[124] 

Damit wäre ein produktiver Ansatz gewonnen, die Rezeption Metastasios genauer und in zwei deutlich voneinander trennbaren Linien zu untersuchen – den aber die anderen Aufsätze des Potsdamer Bandes leider nicht aufnehmen.

[125] 

Die friderizianische Oper

[126] 

Michele Calella untersucht die »Ästhetik der friderizianischen Oper«: das ist ein klar definierter Zeit-Raum: nämlich die Berliner Hofoper in den Jahren zwischen 1742 und 1756. Obwohl fast alle Opern dieses Zeitraums von Graun vertont wurden, erfährt man über die Kompositionen, über die Art der Textvermittlung von Wien nach Berlin oder den Umgang Grauns mit diesen Texten nichts. Behandelt werden überwiegend poetologische Probleme der friderizianischen Oper: Ihre Vermittlung durch französische Tradition wird zwar gezeigt, aber nicht eigentlich aufgearbeitet. Friedrich II. konzipierte seine Entwürfe und Vorarbeiten in französischer Sprache und ließ sie dann ins Italienische übersetzen und vertonen. Die anderweitig nachweisbare Vielfalt französischer Übersetzungen von Metastasio-Texten ins Französische (obwohl seine Opern in Paris kaum gespielt wurden) weist darauf hin, daß die Annäherung an Metastasio über französische Texte keine individuelle Marotte des preußischen Königs war – weist aber auch darauf hin, daß die Rezeption fremdsprachiger Texte in Deutschland während des 18. Jahrhunderts nur teilweise so linear verlief, wie es in der Rezeptionsforschung oft postuliert wird.

[127] 

Die folgenden Aufsätze bleiben auf poetologisch/dramaturgischem Boden:

[128] 

Susanne Schaal-Gotthardt bespricht Anton Kleins Singspiel Günther von Schwarzburg unter der Fragestellung »Nationaloper versus dramma per musica« und verliert dabei Metastasio recht lange aus den Blick.

[129] 

Metastasio und die Opernkritik –
der überschätzte Gottsched

[130] 

Laurenz Lütteken handelt über »Metastasio im Spannungsfeld der deutschsprachigen Opernkritik des 18. Jahrhunderts«: weitgehend ein Überblick über die Opernkritik in Norddeutschland von Gottsched, Mizler, Hiller und Scheibe. Die Rede ist von Johann Christoph Gottscheds »berühmte[r] Invektive von 1728«, zitiert wird dann aber dessen Versuch einer Critischen Dichtkunst in der 4. Auflage von 1751. (Warum die Wissenschaftliche Buchgesellschaft auf den Einfall kam, die 4. Auflage nachzudrucken, ist mir rätselhaft, denn diese Auflage hat kaum mehr Wirkung gehabt. Möglicherweise spielen quantitative Aspekte eine Rolle: Die letzte Auflage der Critischen Dichtkunst ist von 613 Seiten [der 1. Auflage] auf 808 Seiten angeschwollen. Das kann nicht undiskutiert auf die Jahre 1728, 1729 oder 1730 rückprojiziert werden.)

[131] 

Sodann wird festgestellt, »Musiker [...] hatten an dieser Auseinandersetzung keinen Anteil [...]. Nur zögerlich schalteten sich auch die Komponisten in die Diskussion ein.« (S. 148) Von seiten der Musiker hatte Johann Mattheson 1744 ein für allemal mit Gottscheds pedantischen Bedenken aufgeräumt in seiner Neuesten Untersuchung der Singspiele, nebst beygefügter musikalischer Geschmacksprobe (Hamburg 1744). Insgesamt scheint mir, wird der Einfluß Gottscheds stark überschätzt; im Bereich der Oper hat er nur einigen norddeutschen Literaten ein schlechtes Gewissen gemacht. An die die Oper tragenden Schichten in den großen Residenzen ist Gottsched nie herangekommen. Der Rumor, den Gottscheds Opernkritik verursachte, resultierte aus der Ansprache an ein bürgerlich-konservatives Publikum, das sich in seinen kulturasketischen Tendenzen (d.h. auch den Sparsamkeitsappellen und unreflektierten Vorstellungen von »normalem« oder »gesundem« Verhalten) und seinen Vorbehalten gegen eine Kulturarbeit, die sie nicht zu entschlüsseln vermochte, bestärkt wähnte. An der Oper hat es keine »harte Schule der Gottsched-Kontroverse« (S. 155) gegeben. Sie entstand erst später – und wohl auch nur dort, wo man, anstatt zu singen oder zu musizieren, sich an den Schreibtisch setzte.

[132] 

Gerhard Splitt berichtet die Ergebnisse einer Untersuchung über »Metastasio in der Opernkritik Christian Gottfried Krauses« und faßt sie bereits im Titel zusammen: »Zwischen Einverständnis und Kritik«. Krause befinde sich in seiner Abhandlung von der Musikalischen Poesie (1752) zwischen »Zustimmung und kritischer Distanz [...], pointiert gesagt: zwischen der metastasianischen Dramenkonzeption einerseits und einem von der Buffa geprägten neuen Natürlichkeitsideal andererseits« (S. 165). Wer die Musikalische Poesie Krauses und die Bedeutung des metastasianischen Werks kennt, wird sich vielleicht fragen, inwieweit der norddeutsche Zwerg und der Wiener Riese kompatibel sind.

[133] 

Mit der Rolle Metastasios in einer anderen norddeutschen Publikation beschäftigt sich Hartmut Grimm (»Johann Adam Hillers Metastasio-Apologie«) und deutet ebenfalls schon im Titel an, daß es sich bei Hillers Metastasio-Publikation 8 um eine verspätete Lobeshymne »ohne jegliche Distanz« gehandelt habe, vergißt aber darauf hinzuweisen, daß es sich dabei überhaupt um die erste – und (wenn ich richtig sehe) bisher auch einzige größere deutschsprachige Arbeit über den habsburgischen Hofpoeten handelte. Und man hat den Eindruck, der Verfasser sei der Meinung, auch diese Publikation sei besser unterblieben.

[134] 

Die Frage der »Zeitgemäßheit« oder »Modernität« kann wohl nur auf dem Hintergrund der realen historischen Verhältnisse gestellt werden: Dazu müsste aber entwickelt werden, welche internationalen Alternativen zu Metastasio es in den 1780er Jahren gegeben haben soll. Etwa das nord- und mitteldeutsche Singspiel für London, Rom, Venedig, Stockholm, St. Petersburg oder Neapel, Paris, Wien oder Mailand?

[135] 

Die Fähigkeit zur Transformation und
das Problem der modernen Textausgaben

[136] 

Wir können heute zumindest in Grundzügen die Entwicklung der Texte Metastasios nachzeichnen: Danach ergibt sich eine erstaunliche Transformationsfähigkeit als einer der Gründe der langen Lebensdauer seiner Libretti. In den 1780er Jahren war die europäische Metastasio-Rezeption quantitativ ungefähr auf den Stand der dreißiger Jahre zurück gegangen, Metastasio dominierte aber immer noch die Repertoirs der großen europäischen Bühnen. Kein anderer Librettist konnte in den 80er Jahren eine auch nur annähernd vergleichbare Frequenz an Vertonungen nachweisen. Das ist der Nachteil einer modernen Metastasio-Textausgabe: Sie nagelt ganz unhistorisch einen von seiner vielfältigen und wandlungsreichen Rezeption lebenden Autor auf die Textstruktur des Erstdrucks fest. Die Texte Metastasios, wie sie in den 1770er und 80er Jahren gespielt wurden, sind bisher nur in Ausnahmefällen wieder zugänglich gemacht worden. Damit gerät die ganze Diskussion in eine Schieflage, weil mit Texten diskutiert wird, die gar nicht mehr auf der Bühne gespielt wurden. Mit den von Bruno Brunelli publizierten Metastasio-Texten 9 können die Aufführungen schon ab den 60er Jahren nicht mehr besprochen werden. Welche Wandlungen die Libretti Metastasios durchgemacht haben, hat am Fall von La clemenza di Tito Helga Lühning sehr einleuchtend und überzeugend bereits 1983 gezeigt. 10 Für andere Opern Metastasios sind inzwischen in Italien und Amerika mehrere Arbeiten erschienen, die die Ergebnisse von Helga Lühning unterstützen. Somit kann mit Sicherheit eines gesagt werden: Das statische Metastasio-Bild, mit dem fast alle Autoren des Potsdamer Tagungsbandes arbeiten, trifft die historische Wirklichkeit nicht. Zwischen 1755 und 1790 hat sich nicht nur Raniero Calsabigis Meinung geändert, sondern sehr nachdrücklich vor allem die auf den europäischen Bühnen gespielten Textfassungen.

[137] 

Metastasio und Maria Antonia Walpurgis

[138] 

Christine Fischer untersucht die anderthalbjährige Korrespondenz zwischen Metastasio und der sächsischen Kurfürstin Maria Antonia Walpurgis in den Jahren 1749/50, aus der ein »Lehrverhältnis« gemacht wird (S. 196, 197 u.ö.). Metastasio sei der Fürstin »gerade gut genug« gewesen (S. 196), und das abrupte Ende der Korrespondenz erscheine »im Nachhinein als absehbar« (S. 198). Derartige Prämissen steuern in der Regel die Untersuchung derart, daß sie außer Kontrolle gerät.

[139] 

Um das vorweggestellte Postulat als Ergebnis plausibel zu machen, werden eine Reihe persönlicher Empfindlichkeiten der Kurfürstin vermutet, weil Metastasio an ihrem Entwurf »– auf Befehl – zum ersten Mal [in ihrem Leben] Kritik« geäußert habe (S. 202). Allerdings, »was genau Metastasio an dem [ihm zugesandten] Oratorientext änderte, ist aus Sicht der heutigen Quellenlage nur ansatzweise zu rekonstruieren« (S. 203). Immerhin ließ die Fürstin dennoch den von Metastasio verbesserten Text drucken. Darauf kann sich also der zuvor angekündigte »Umschwung im Lehrverhältnis von Metastasio zu Maria Antonia« (S. 202) nicht beziehen. Als nächste Arbeit sollte Metastasio das Manuskript der Pastorale Il trionfo della fedeltá durchsehen, tat das auch, griff in den Text allerdings energisch ein – und soll damit Maria Antonia derart verärgert haben, daß sie die Korrespondenz »abrupt« abbrach. Tatsache ist jedoch auch in diesem Fall, daß die Fürstin 1754 (also noch vier Jahre später) die von Metastasio korrigierte Fassung drucken ließ, nicht ihre eigene. Trotzdem war Maria Antonia angeblich »zutiefst verletzt« durch Metastasio, war doch »kaum ein Vers [...] am nächsten geblieben« (S. 208). Wichtiger allerdings soll gewesen sein, daß Metastasio ihr die intendierte Selbstdarstellung in der Hauptrolle (als Nice) zerstört habe. »Denn sie konzipierte [...] ihre Werke für sich selbst als Hauptprotagonistin. [...] Sie plante als Didone, Lavinia, Nice und Talestri vor höfischem Publikum zu stehen und sich durch ihre damit repräsentierte künstlerische Begabung zum ›gelehrten Frauenzimmer‹ zu stilisieren [...].« (S. 209) Belege für diese Behauptungen gibt es allerdings nicht – und auch am Schluß bleibt offen, wieso dann 1754 doch die Metastasianische Fassung ihres Stückes publiziert wurde, dessen Titel die Verfasserin zu zitieren vergaß: IL TRIONFO DELLA FEDELTA. DRAMMA PASTORALE PER MUSICA DI E.T.P.A. – DRESDA. Nella Stamperia Regia per la Vedova Stössel, e Giovanni Carlo Krause. 1754 – eine Prachtausgabe mit 6 durchnummerierten doppelseitigen Kupferstichen im Text und drei weiteren Stichen im Vorspann, sowie einem gestochenen Deckblatt. Auch die Titelei des Manuskripts der Fürstin wird nicht geliefert, Gottscheds Übersetzung aus demselben Jahr und die Tatsache, daß auch die Musik dieser Oper von der Fürstin stammte und davon eine Partitur erhalten ist, wird nicht erwähnt.

[140] 

Zwei zentrale Beiträge

[141] 

Am wenigsten um Buch- bzw. Tagungstitel kümmern sich die beiden letzten hier zu besprechenden Aufsätze des Potsdamer-Bandes: Wolfgang Hirschmann untersucht Übersetzungen der Oratorien Metastasios und beginnt mit den Arbeiten eines süddeutschen Augustiners; Theodor Verweyen versucht, die Stellung Metastasios in Wien als kaiserlich königlicher Hofpoeten zu beschreiben – nach Ausweis des Vorworts und der anderen einführenden Beiträge des Bandes nicht gerade das »Deutschland der Aufklärung«. Trotzdem (oder vielleicht gerade deswegen) gewinnen diese Beiträge einen höheren Gesichtspunkt der Darstellung als die anderen Beiträge.

[142] 

Die Übersetzungsproblematik

[143] 

Hirschmann zeigt an den Übersetzungen der Metastasianischen Oratorien die »Rolle der Übersetzung bei der Aneignung und Übertragung« (S. 217) von anderssprachigen Werken – und behandelt damit ein Problem, das weit über Metastasio hinausgeht. Da die Übersetzungen, Adaptionen oder Bearbeitungen nicht-deutschsprachiger Texte für die Entwicklung der deutschsprachigen Literatur eine enorm wichtige Rolle spielten, wird Metastasio hier einmal nicht im Lichte relativ unwichtiger Sachverhalte, sondern im Zentrum der Probleme deutschsprachiger Literatur und Kultur untersucht. Übersetzung ist immer eine Art von Transformation. Bereits Herder hat auf den lateinischen Geist der deutschen Sprache hingewiesen; die Einflüsse des Italienischen sind unter diesem Fittich schwer zu differenzieren. Man wird also mit einiger Sorgfalt vorgehen müssen. Ein Überblick über die Übersetzungen der großen Opern Metastasios hätte den Rahmen des Potsdamer Symposiums wahrscheinlich gesprengt, der Rückzug auf die Oratorien macht ein hoch komplexes Thema übersichtlich.

[144] 

Oratorium und Sprechdrama

[145] 

1753 erschien in Augsburg die Geistliche Schaubühne des Ulmer Augustiners Peter Obladen, in der Metastasios Oratorien zu Sprechdramen umgestaltet wurden. Daran verdienen einige Punkte Aufmerksamkeit: Ulm wurde im 13. Jahrhundert Reichsstadt, wurde 1530 protestantisch und Mitglied des Schmalkaldischen Bundes, behielt aber trotz protestantischer Verfassung katholische Liegenschaften innerhalb der Mauern, so auch das Stift Wengen, zu dem Peter Obladen gehörte und in dem während des 18. Jahrhunderts wahrscheinlich mehr Musik gemacht und Theater gespielt wurde als im übrigen (protestantischen) Ulm. Die Schaubühne Obladens erschien aber nicht bei einem Ulmer Drucker, obwohl dort mit Wagner eine profilierte Werkstatt zur Verfügung gestanden hätte, sondern bei einem protestantischen Drucker in Augsburg. Die Verbindungen der süddeutschen Reichsstädte zum Kaiser in Wien liegen auf der Hand, die Rezeption der berühmten Werke seines Hofpoeten bedarf also keiner besonderen Erläuterung.

[146] 

Generalisierend darf vielleicht gesagt werden, daß in Süddeutschland (mit Ausnahme Nürnbergs) das kulturelle Leben der protestantischen Reichsstädte oft von der katholischen Mehrheit der Bürger oder von einliegenden katholischen Einrichtungen geprägt wurde. Diese konfessionelle Mischung bleibt auch auf die katholischen Mitbürger nicht ohne Rückwirkung, und ich habe den Eindruck, daß die katholische Partei mehr vom Protestantismus übernahm und integrierte als umgekehrt. Der private Buchbesitz und die Bestände fürstlicher Bibliotheken sprechen hier jedenfalls eine sehr eindeutige Sprache – weisen aber auch darauf hin, daß das Selbstbewußtsein katholischer, weltlicher wie kirchlicher Institutionen und Personen beträchtlich offener und stabiler als bei den protestantischen Kollegen war.

[147] 

Obladen also, Mitglied eines katholischen Chorherrenstifts, arbeitend in zwei protestantischen Reichsstädten und dort auch publizierend, adaptiert Gottscheds Schaubühne und damit auch dessen Konzept, um die Oratorien des Wiener kaiserlichen Hofpoeten auf die Bühne des Sprechtheaters zu bringen. Ob ihm das gelungen steht, kann hier unbeachtet bleiben. Die Arien wurden wie die Chöre in Prosa transformiert, die Stücke verloren damit ihre polare Struktur. Aber sie wurden zur Verbreitung jenseits der fürstlichen Kapelle oder des Hoftheaters zubereitet für Aufführungen in kleineren Orten, in kleinen Sälen – zur Aufführung dort, wo die Masse des Volks, in Süddeutschland insbesondere in den Landstädten und Dörfern hinströmte: Sie werden also »popularisiert«, wenngleich in einer ganz anderen Form, als wir heute darunter verstehen.

[148] 

Die Rezeption der Obladenschen Texte wird leider nur angedeutet, anhand einer Fassung aus dem Jahr 1779 aber immerhin charakterisiert: Für die Aufführung der Sant’Elena al Calvario im Freisinger Dom erhielt die Prosafassung wieder Arien in Versen! Unabhängig davon, daß im Dom die italienische Originalfassung gesungen wurde, erhielt die Bearbeitung ihr standesgemäßes Dekor, den Vers, zurück – und damit zugleich ihre polare Spannung zwischen Einzelsängern und Chor.

[149] 

Die auf 11 Bände angelegte, nach dem 8. Band aber eingestellte Übersetzung der Werke Metastasios durch Johann Anton Koch (Frankfurt und Leipzig 1768–1776; und: Wien 1772–1775) beruft sich wie zuvor Obladen auf französische Vorgänger: Ein Indiz mehr für die Vermittlerrolle französischer Publikationen für italienische Literatur. Kochs jahrelang in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek bemäkelte Wiener Arbeit wird von Hirschmann aber nur gestreift, um zwei separat erschienene Publikationen ausführlicher auf Äquivalenz-Probleme hin untersuchen zu können: Ein Erkannter Joseph aus Dresden 1754, und eine Heilige Helene aus Salzburg, zwischen 1754 und 1763. Bei der ersten handelt es sich um eine klassische Parallel-Übersetzung zur italienischen Fassung, die linksseitig mit abgedruckt wurde. Die Salzburger Version wurde separat gedruckt und sollte einer Neuvertonung als Grundlage dienen. Erwartungsgemäß hält sich die Dresdner Parallel-Fassung stärker an das Original, während der Separattext eine eigene Poetizität gewinnt. Beiden gemeinsam, wie für die beiden Residenzen Dresden und Salzburg kaum anders zu erwarten, ist der Erhalt der Versformationen; und auch die Rezitative werden in Verse übertragen. Wenn das heute als Steigerung der Poetizität bewertet wird, ist das sicherlich nicht falsch; im Zuge der Entwicklung der Prosa während des 18. Jahrhunderts zeigt sich aber auch, daß der Vers zum feudalen Kennzeichen wurde. Der Streit um die Komödie in Versen machte die soziale Kluft zwischen Vers und Prosa bereits in den 1740er und 50er Jahren deutlich.

[150] 

Die Vielfalt der Metastasio-Rezeption:
freimaurerische und protestantische Einflüße

[151] 

Für den Typus der »Übersetzung als inhaltliche Umprägung« dient eine Berliner Fassung von Joseph und seine Brüder aus dem Jahr 1782 als Exempel, an dem eine Untersuchung mit aufregendem Ergebnis durchgeführt wird. Denn es gelingt nicht nur zu zeigen, wie hier katholische Gedanken dem Protestantismus assimiliert wurden, sondern daß es sich darüber hinaus um einen »freimaurerisch orientierten Text« handele (S. 239) – ein Aspekt, der dringend eine verallgemeinernde Überprüfung anhand anderer Werke bzw. Bearbeitungen Metastasios fordert. Mit dem Tod Abels des Gerechten von Johann Gottlob Harrer, Nachfolger Johann Sebastian Bachs als Thomaskantor in Leipzig, kommt eine andere Variante protestantischer Aneignung zur Untersuchung: Harrer schaltete (neben anderen Eingriffen) protestantische Choräle ein und schaffte auf diese Weise die Einbettung des »gesamte[n] Oratorium[s] in die protestantische Liturgie« (S. 243).

[152] 

Die Strukturen der Rezeption Metastasios im Deutschen Reich waren vielfältig: Das angedeutet zu haben, ist Verdienst Hirschmanns. Erfreulich wäre, wenn hier weitere Untersuchungen folgten, die die sozialen und konfessionellen Aspekte noch stärker berücksichtigten, als es im Rahmen des Tagungsbandes möglich war.

[153] 

Der Hofpoet

[154] 

Die Eigentümlichkeit des Potsdamer Tagungsbandes, daß der Leser nämlich über die originalen Werke des Jubilars kaum etwas erfährt, weil überwiegend von Derivaten gehandelt wird, dieser Sachverhalt wird besonders spürbar in Theodor Verweyens Beitrag: »Metastasio in Wien: Stellung und Aufgabe eines ›kaiserlichen Hofpoeten‹«; weil hier ebenso konsequent und ausschließlich an Quellen und Originalen gearbeitet wird, wie diese in vielen der anderen Beiträge unbeachtet oder ungenutzt bleiben. Seitdem der »Schriftsteller« und der »Journalist« (und dann auch der Universitätsprofessor) die progressive Spitze literarischer Entwicklung besetzt haben, blieb für den »Hofpoeten« nicht mehr viel Interesse übrig. Mit einer ziemlich ostentativen Verachtung schoben die beamteten Historiographen und Philologen ihre Vorgänger als »Dienstleister« in die Ecke von Auftragspoeten, von denen sie vielleicht selbst gar nicht so weit entfernt waren.

[155] 

Neben kuriosen und zu Recht in Vergessenheit geratenen Hofdichtern gab es aber auch eine Reihe sehr bemerkenswerter Autoren allein am Wiener Hof, und dort meist Italiener, die keineswegs verdienen, versteckt zu werden. Hier setzt Verweyen an und fördert zunächst das für das 17. und 18. Jahrhundert omnipräsente Problem der terminologischen Vielfalt zu Tage: Bedeuten alle von ihm zusammengestellten Termini dasselbe? Oder anders: Gibt es überhaupt »den Hofpoeten« als eine Stelle bei Hof, die sich verbindlich beschreiben läßt? Oder meint derselbe Terminus bei verschiedenen Schreibern überhaupt immer dasselbe, dieselbe Aufgabe, dieselben Verbindlichkeiten? Auch wenn sich dann herausstellt, daß Metastasio eine Art »Beamter« war, dann ergibt sich aber auch, daß die »Beamten« des 18. Jahrhunderts mit denen des 20. und 21. Jahrhunderts nicht unbedingt identisch waren. Vieles regelte sich damals noch im Vollzug, seltener per Definition.

[156] 

Im ersten Durchgang ergeben die Archivalien eine »›beamten‹-ähnliche Indienstnahme Metastasios« (S. 21) durch den Wiener Hof. Metastasio durchlief dann eine Reihe von Ritualen der Einstellung und Indienstnahme, die gleichzeitig den neuen Rang, die Abhängigkeiten und Zuständigkeiten festlegten, die Besoldung regelten – und öffentlich machten. Indienstnahme war kein abstrakter Begriff oder bloß bürokratischer Vollzug, sondern umfaßte zugleich die Beziehung zum Fürsten und zu dessen Vertreter (in diesem Fall zum Obersthofmeister) und war die öffentliche Repräsentation dieser Beziehung. Der Obersthofmeister überprüfte die Qualifikation des anzustellenden Dichters in Hinsicht auf »aetas, valetudinis constitutio, qualificatio sive capacitas« (vgl. S. 23 und 41). Metastasio wurde also in ein bestehendes Verwaltungssystem eingepaßt, über das auch die Titelei seiner Werke reguliert wurde.

[157] 

Verweyen macht sehr deutlich, weshalb der Hofpoet kein »freier Dichter« war: Er wurde nicht nur regelmäßig besoldet und konnte hoffen, bis an sein Lebensende versorgt zu sein, sondern er war auch in einen Hofstaat integriert und hatte ein persönliches Treuegelöbnis gegenüber dem Herrscher abgelegt. Diese direkte und persönliche Bindung an den Herrscher ging weit über die auftragsgemäße Verfertigung bestimmter Werke zu allgemein bekannten und gefeierten Anlässen hinaus. Sie war andererseits aber schon insofern bürokratisiert, als eine Reihe von Ämtern und Zuständigkeiten mit dieser Anstellung befaßt waren, die ihre Stellungnahmen, Suppliken, Erinnerungen und Vorbehalte vorzutragen hatten, sie auch archivierten und schließlich den Willen des Fürsten vollzogen.

[158] 

Höfische Festkultur

[159] 

In einem Exkurs geht Verweyen auf einige Formulierungen von Jörg Jochen Berns zum höfischen Fest ein, die die Frage der Kollektivität bzw. Anonymität höfischer Veranstaltungen betreffen. Das scheint mir ein so wichtiger Aspekt hinsichtlich der Öffentlichkeit feudaler Repräsentation und insofern auch bürgerlicher Öffentlichkeit zu sein, dass ich dazu abschließend einige Beobachtungen mitteilen möchte.

[160] 

Grundsätzlich scheint mir an den Höfen eine größere Bereitschaft als in bürgerlichen Kreisen bestanden zu haben, sich selbst als Autor, Urheber, Veranstalter oder Mäzen zu sehen, zu nennen, und auch das künstlerische Personal der Veranstaltungen namhaft zu machen. Das gilt nicht nur für die Aktionen bei Hof, sondern auch an den Schulen. Bei den Jesuiten wie den Benediktinern wurde regelmäßig das gesamte beteiligte Personal aufgelistet, teilweise bis zu 200 Personen; und zwar auch dann, wenn sie aus anderen Orden kamen.

[161] 

Grundsätzlich wurden auch der oder die Adressaten der Veranstaltungen wie auch deren Träger bzw. Auftraggeber genannt. Dann allerdings treten Variable auf. Es kam vor, daß der Auftraggeber namentlich nicht in Erscheinung trat, um den Adressaten / Gast desto singulärer erscheinen zu lassen; das war eine Frage der Dezenz, oder war gegenüber dem Ranghöheren erforderlich. In der Regel machte die Typologie der Schreibung den jeweils in Frage kommenden Aspekt deutlich. Andererseits konnte der Auftraggeber sich sehr deutlich nennen, um sich als Gastgeber zu akzentuieren. In diesem Kontext konnte es auch geschehen, daß keiner der Künstler namentlich genannt wurde. Entweder spielten sie für den Zweck der Veranstaltung keine Rolle, oder die Veranstaltung war zu marginal, um überhaupt mit Namen beschwert zu werden – oder aber es handelte sich um Personen, die mit dem Hof bzw. dem veranstaltendem Fürsten in keiner näheren Verbindung standen und deshalb in dessen repräsentativen Raum keinen Platz beanspruchen konnten.

[162] 

Sodann muß wohl auch unterschieden werden zwischen Drucksachen, also Publikationen, die der Repräsentation und Distribution dienten, und internen oder privaten Nachrichten. Bei den Publikationen wurden besonders an den großen oder ambitionierten Höfen sehr früh die Namen und Titel der beteiligten Künstler ausgedruckt: Der Hofstaat war Teil der Repräsentation und insofern immer öffentlich. Anders sah es aus, wenn Fürsten wie Katharina II. von Rußland, Friedrich II. von Preußen, der Kaiser oder die Kurfürsten künstlerisch in Erscheinung traten. Diese hohen Ränge verzichteten in der Regel auf die Publikation ihrer Namen; nicht weil sie sich ihrer Produkte schämten, sondern weil diese Form der öffentlichen Zurschaustellung als unangemessen und insofern auch als unanständig empfunden wurde (Prostitution). Namen waren noch nicht auf ihre Funktion als bloße Identifikationsinstrumente reduziert, sondern enthielten soziale, moralische und auch religiöse, stets jedenfalls ständische Implikationen. Der Verzicht auf eine namentliche Nennung bedeutete aber nicht unbedingt den Wunsch nach Anonymität, man trat eher inkognito auf. Wo der Fürst oder/und Herr inkognito erschien, signalisierte er den Verzicht auf bestimmte Formen des Zeremoniells von seiten der Begegnenden, aber nicht auf seinen Status als Herr. Je nach dem Selbstverständnis des fürstlichen/adligen Autors konnten sogar verschlüsselte Hinweise auf den Autor geliefert werden: Anagramme, Akademie-Namen oder Pseudonyme. Denn, wie gesagt, es ging nicht darum, die Verantwortlichkeit zu verheimlichen oder sich unliebsamen Folgen zu entziehen, sondern darum, die offizielle Nominierung auf/bei Aktionen geringerer sozialer Relevanz, oder überall dort, wo der Verdacht von Dienstleistung aufkommen könnte, zu vermeiden.

[163] 

Hier treten u.U. später gravierende Probleme auf, wenn es darum geht, die Verschlüsselungen aufzulösen oder gänzlich ungenannte Teilnehmer zu ermitteln. Wenn wir heute daran scheitern, bedeutet das nicht zwingend, daß auch die Zeitgenossen keine Ahnung hatten, ob die Musik, der Tanz, das Gedicht, das Lied, die Szene, das Oratorium oder das Feuerwerk von ihrem Fürsten oder von einem Dorfbewohner stammten. In der Regel waren die Anstrengungen der Vorbereitung und Durchführung größerer Feste so umfangreich, daß die Beteiligten kaum anonym bleiben konnten. Ob sie dann bei den publizierten Festbeschreibungen, den Periochen oder Szenarien und Textbüchern genannt wurden, hing von strategischen Erwägungen des jeweiligen Hofes ab. Denn diese Publikationen dienten ja nicht nur einer abstrakten Textvermittlung, sondern standen unter repräsentativ-politischen und dynastischen Zwecksetzungen. Innerhalb relativ geschlossener sozialer Kreise muß sich weder der Träger oder Veranstalter einer Festivität nennen, weil ihn die Adressaten, an die Programme, Noten oder Bildmaterial versandt wurden, kannten; noch mußten die innerhalb der Hofkreise bekannten Künstler, Organisatoren oder sonstigen Teilnehmer namentlich aufgeführt werden. Die Ortung der Veranstaltung implizierte in der Regel die Publizität sowohl des Veranstalters wie der Ausführenden.

[164] 

Der Vergleich zwischen bürgerlicher und höfischer Kultur zeigt das im ersten Moment erstaunliche Ergebnis einer beträchtlich größeren Publizität des feudalen Raums; und wo diese Publizität versagt – sei es, weil Bibliotheksbestände verloren gegangen sind, oder weil wirklich nichts publiziert wurde – dann helfen die Archive oftmals weiter, weil spätestens in den Hofakten, den Besoldungslisten, den Abrechnungen von Handwerkern oder den Gesuchen der Kapellmeister einzelner Musiker oder Sänger etc. zu erfahren ist, wer wann woran beteiligt war.

[165] 

Fazit: Wo steht die
deutsche Metastasio-Forschung?

[166] 

Der Potsdamer Tagungsband erschien als letzter von sechs in Europa veranstalteten Publikationen zum 300-jährigen Geburtstag Metastasios, aber weder Herausgeber noch Beiträger rekurrieren auf die Publikationen aus Vorträgen aus Italien oder die Festschrift aus Österreich – nicht einmal die Hallenser Publikation wird wahrgenommen. Durchweg bleiben auch die internationalen Standardwerke, selbst wenn sie in deutscher Sprache erschienen sind, unberücksichtigt (wenngleich sie gelegentlich ausgeschrieben wurden); das dort seit Jahrzehnten gesammelte Wissen bleibt ungenutzt. Der Jubilar selbst wird nur in einem Aufsatz ins Zentrum der Untersuchung gerückt, alle anderen Beiträge kümmern sich um Derivat-Probleme. Die Fokussierung des Interesses auf norddeutsche dramaturgische Aspekte ist nicht unbedingt der probateste Weg, die Bedeutung Metastasios zu zeigen.

[167] 

Vor allem fehlt der musikhistorische Aspekt: Keiner der großen Komponisten metastasianischer Opern oder Feste wird thematisiert. Selbst Hasse, der als Dresdner Kapellmeister auch in der engsten Fassung des Rahmenthemas eine ausführliche Untersuchung hätte beanspruchen können, wird zwar einige Male als Komponist erwähnt, aber nie eingehender untersucht. Auch darin zeigt sich noch einmal der grundsätzliche Mangel des Potsdamer Bandes. Ich hatte bereits auf die Übereinstimmung der Lebensdaten von Hasse und Metastasio hingewiesen (s.o.). So verwundert es nicht, daß auch zu Hasses Geburtstag 1999 Tagungen stattfanden, deren Beiträge ebenfalls publiziert wurden – ohne daß man in Potsdam davon Notiz genommen hätte. 11



Anmerkungen

Claudio Sartori: I Libretti italiani a stampa dalle origini al 1800. Catalogo analitico con 16 indici. Cuneo 1990–1994.   zurück
Reinhart Meyer (Hg.): Bibliographia Dramatica et Dramaticorum. Kommentierte Bibliographie der im ehemaligen deutschen Reichsgebiet gedruckten und gespielten Dramen des 18. Jahrhunderts nebst deren Bearbeitungen und Übersetzungen und ihrer Rezeption bis in die Gegenwart. 1. Abteilung Tübingen 1986. 2. Abteilung Tübingen 1993 ff.   zurück
Gerald Heres: Winckelmann in Sachsen. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte Dresdens und zur Biographie Winckelmanns. Berlin / Leipzig 1991, S. 79 ff.   zurück
Franz Mehring: Die Lessing-Legende. Mit einer Einleitung von Rainer Gruenter. Frankfurt/M. / Berlin / Wien 1972, S. 221; vgl. auch F. M.: Gesammelte Schriften. Bd. 9. Berlin 1963, S. 207.   zurück
Johanna Rudolph: Händelrenaissance. 2 Bde. Berlin 1960 und 1969; hier Bd. 1, S. 44.   zurück
Christoph Dipper: Italien und die italienische Aufklärung zur Zeit Lessings. In: Lea Ritter Santini (Hg.): Eine Reise der Aufklärung. Lessing in Italien 1775. [...] Bd. I, S. 61–73, das Zitat S. 63; dann auch von demselben: Aufklärung und Revolution in Italien. In: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983) S. 377–438. Sodann: K. Heitmann / T. Scamardi (Hg.): Italienisches Deutschlandbild und deutsches Italienbild im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993.   zurück
Jörg Krämer: Deutschsprachiges Musiktheater im späten 18. Jahrhundert . Typologie, Dramaturgie und Anthropologie einer populären Gattung. 2 Bde. Tübingen 1998.   zurück
Johann Adam Hiller: Ueber Metastasio und seine Werke. Leipzig 1786.   zurück
Bruno Brunelli (Hg.): Tutte le opere di Pietro Metastasio. 5 Bde. [Mailand] 1947–1954.   zurück
10 
Helga Lühning: Titus-Vertonungen im 18. Jahrhundert. Untersuchungen zur Tradition der Opera seria von Hasse bis Mozart (Analecta Musicologica Bd. 20). Laaber 1983.   zurück
11 
Gisela Jaacks (Hg.): Zeremoniell und Freiheit. Europa im 18. Jahrhundert: Die Welt des Johann Adolf Hasse. Hamburg 1999; Szymon Paczkowski (Hg.): Johann Adolf Hasse in seiner Epoche und in der Gegenwart. Studien zur Stil- und Quellenproblematik. Warschau 2002; Bert Siegmund (Hg.): Intermezzi per musica. Johann Adolf Hasse zum 300. Geburtstag. XXVII. Internationale Wissenschaftliche Arbeitstagung Michaelstein, 30. April bis 2. Mai 1999 (Michaelsteiner Konferenzberichte Bd. 61). Michaelstein / Dößl 2004.   zurück